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Hans Joachim Schädlich

Dankrede anläßlich der Entgegennahme des Lessing-Preises des Freistaates Sachsen
am 18. Januar 2003

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident!
Sehr geehrter Herr Minister!
Sehr geehrter Herr Bürgermeister!
Sehr geehrte Damen und Herren!

Bessere Lessing-Kenner und eine reiche Lessing-Literatur vor Augen, muß es mir gewagt vorkommen, über Lessing zu reden. Lessing und die Gegenwart? Ich will von Lessing reden! Gerade dadurch rede ich auch von Gegenwart.

1757 waren Äsopische Fabeln mit moralischen Lehren und Betrachtungen aus dem Englischen übertragen von Gotthold Ephraim Lessing nach der Ausgabe von Samuel Richardson erschienen. In der Lessingschen Übersetzung der Fabelbearbeitungen von Richardson findet sich die Fabel „Der Fuchs und der Brombeerstrauch“: „Ein Fuchs ward hart verfolgt und wollte sich über einen Zaun retten. Um nun keinen allzugefährlichen Sprung wagen zu dürfen, hielte er sich an einem Brombeerstrauche fest, dessen Dörner ihm häufig in den Füßen steckenblieben. Als er herab war, fing er seine Pfoten, unter gewaltigen Verwünschungen des Brombeerstrauchs, an zu lecken. Nicht so böse, Reinecke, sagte der Strauch; man hätte denken sollen, du, dessen Herz voll Bosheit ist, müßtest besser Bescheid wissen, als daß du dich an jemand anhieltest, der selbst auf nichts als Unheil bedacht ist.“ [1]

Lessing hat im Zweiten Buch seiner eigenen Fabeln, 1759, eine andere Version geliefert: „Ein verfolgter Fuchs rettete sich auf eine Mauer. Um auf der anderen Seite gut herabzukommen, ergriff er einen nahen Dornenstrauch. Er ließ sich auch glücklich daran hernieder, nur daß ihn die Dornen schmerzlich verwundeten. Elende Helfer, rief der Fuchs, die nicht helfen können, ohne zugleich zu schaden!“ [2] „Pragmatische Kürze“ und „epigrammatische Präzision“ [3] gehören bei Lessings eigenen Fabeln zum poetischen Prinzip.

Noch etwas anderes ist für dieses poetische Prinzip bedeutsam. In einer anonymen Lebensgeschichte des Äsop begegnet uns Äsop auf der Insel Samos. Kroisos, der König der Lyder, hat Samos mit Krieg gedroht, falls Samos nicht bereit wäre, Tribut an Kroisos zu zahlen. Äsop, von den Bürgern Samos’ gedrängt, zu sagen, was er über die Sache denke, antwortete: „Ich kann euch nicht sagen, was ich denke. Aber ich erzähle euch eine Geschichte. Prometheus erklärte den Menschen zwei Wege: den Weg in die Freiheit und den Weg in die Sklaverei. Der Weg in die Freiheit ist anfangs steil, beschwerlich und gefährlich. Bald aber führt er in eine weite Landschaft, die reich an Früchten ist... Der Weg in die Sklaverei... ist zu Beginn eine flache bunte Ebene. Bald jedoch wird er steil, dürr und ausweglos.“ Die Leute verstanden Äsop und riefen dem Abgesandten des Königs Kroisos zu, sie bevorzugten den steilen, beschwerlichen und gefährlichen Weg. [4]

„Ich kann euch nicht sagen, was ich denke. Aber ich erzähle euch eine Geschichte.“

Samuel Richardson, dessen Äsopische Fabeln Lessing getreu ins Deutsche übersetzt hat, gibt den Fabeln je eine „Lehre“ und eine „Betrachtung“ bei. Lessing verzichtet in fast allen seinen Fabeln auf die Formulierung einer moralischen Lehre. Warum? „...weil die moralische Lehre in die Handlung weder versteckt noch verkleidet, sondern durch sie [die Handlung] der anschauenden Erkenntnis fähig gemacht werde.“ So sagt Lessing es in seiner ersten Abhandlung über die Fabel. [5]

„Die anschauende Erkenntnis ist für sich selbst klar“, heißt es bei Lessing. Anders gesagt: „Bei der anschauenden Erkenntnis versteht der Leser unmittelbar..., auf einen Blick und ohne Umweg über Reflexionen.“ [6] Der Leser soll „die Moral von der Geschicht’“ selbst finden, er soll Gebrauch machen von seinem Verstand.

Zur Vergnügung Ihres Verstandes noch eine Lessingsche Fabel nach dem Vorbild Äsops. Titel: „Der Dornstrauch“: „Aber sage mir doch, fragte die Weide den Dornstrauch, warum du nach den Kleidern des vorbeigehenden Menschen so begierig bist? Was willst du damit? Was können sie dir helfen? – Nichts! sagte der Dornstrauch. Ich will sie ihm auch nicht nehmen; ich will sie ihm nur zerreißen.“ [7]

„Nathan der Weise“, Dritter Aufzug, Fünfter Auftritt. Saladin und Nathan. Saladin fragt Nathan: „Was für ein Glaube, was für ein Gesetz Hat dir am meisten eingeleuchtet?“ Nathan antwortet: „Ich bin ein Jud.“ Darauf Saladin: „Und ich ein Muselmann. Der Christ ist zwischen uns.- Von diesen drei Religionen kann doch eine nur Die wahre sein.-„ Nathan im Siebenten Auftritt: „Doch Sultan, eh ich mich dir ganz vertraue, Erlaubst du wohl, dir ein Geschichtchen zu Erzählen?“

Hier ist es wieder, das äsopische „Ich kann euch nicht sagen, was ich denke. Aber ich erzähle euch eine Geschichte.“ Und Nathan erzählt die Geschichte des Mannes, „der einen Ring von unschätzbarem Wert... besaß.“ Nathan zu Saladin: „Kann ich von dir verlangen, daß du deine Vorfahren Lügen strafst, um meinen nicht Zu widersprechen? Oder umgekehrt. Das nämliche gilt von den Christen. Nicht?-„ Darauf Saladin zu sich selbst: „Bei dem Lebendigen. Der Mann hat recht. Ich muß verstummen.“

Wie gern haben Generationen von unschuldigen Schülern und hilflosen Erwachsenen Nathans Worte zitiert: „Es eifre jeder seiner unbestochnen Von Vorurteilen freien Liebe nach! Es strebe von euch jeder um die Wette, Die Kraft des Steins in seinem Ring an Tag Zu legen!“

Saladin, der schon den Tempelherrn begnadigt hat, möchte Nathans Freund sein. – Ein schönes aufklärerisches Märchen von der Gleichheit und Gleichwertigkeit der Religionen, woraus das Gebot der Toleranz folge, und am Ende der utopische Traum einer von Vorurteilen freien Gesellschaft. Es bleibt noch der Patriarch von Jerusalem, der dogmatische Fanatiker, den seine absolute Glaubensgewißheit nichts anderes sagen läßt als: „Tut nichts! Der Jude wird verbrannt.“

Am Beginn des 21. Jahrhunderts ist es unmöglich, sich hoffnungsvoll dem Märchentraum der Ringparabel hinzugeben. Die Ermordung der europäischen Juden durch den Nationalsozialismus, die massenhafte Vernichtung sogenannter politischer Feinde durch den Kommunismus, einschließlich des stalinistischen Genozids an den sowjetischen Juden [8], und die Terrorakte des islamischen Fundamentalismus lassen Lessings friedliche Utopie geradezu als anachronistisch erscheinen.

Kommunismus und Faschismus, der Nationalsozialismus als dessen extremste Form, besaßen selbst den Charakter „politischer Religionen“; es gab „...< reine Lehren >, < heilige Bücher >, Ketzer und Ketzergerichte..., Häresie und Inquisition... – dazu ein quasi-liturgisches Feier-Ritual..“ [9]

Die Nationalsozialisten – erinnern wir uns? – hielten sich zudem die „Deutschen Christen“ unter deren Oberhaupt Ludwig Müller. Dieser Müller, Antisemit, Hitlers Vertrauensmann und Bevollmächtigter für die Fragen der evangelischen Kirche, durfte sich Reichsbischof nennen und trachtete danach, eine einheitliche „Deutsche Evangelische Kirche“ zu schaffen, in der christliche Glaubensinhalte und Nazi-Ideologie verschmelzen, Führerprinzip und Arierparagraph gelten sollten. Der „Reichsbischof“ warb unter den Protestanten für Hitler und bekämpfte Martin Niemöllers „Bekennende Kirche“, in der Christentum und Nationalsozialismus für unvereinbar galten.

Kommunismus und Faschismus, die Ausprägungen des Totalitarismus im 20. Jahrhundert, weisen in ihrem Kampf gegen die Demokratie spezifische Gemeinsamkeiten auf, die unter dem Diktum der „politischen Korrektheit“ tunlichst geleugnet werden. Man könnte meinen, Lessings Werk „Die Erziehung des Menschengeschlechts“ von 1780, das in seinem Kern die Freiheit des vernünftigen Denkens fordert, sei nie geschrieben worden. Aber die „politische Korrektheit“ ist auch ein ideologisches Mittel der Zensur und Selbstzensur. Dabei wird mit Vorliebe das Spiel der Vertauschung von „gleichsetzen“ und „vergleichen“ gespielt. Es wird zum Beispiel behauptet, man dürfe Kommunismus und Faschismus nicht „vergleichen“. Nun, daß man sie nicht gleichsetzen kann, liegt auf der Hand. Der Vergleich aber fördert neben den Unterschieden auch unliebsame Gleichheiten zutage: „...die absolute Entgrenzung der Gewalt und ihre ebenso absolute Rechtfertigung; die Existenz < politischer Feinde >, die ohne Schuld, einzig aufgrund ihrer Rassen- oder Klassenzugehörigkeit, wie Schädlinge vernichtet werden dürfen; die Bereitschaft vieler Menschen, alles, und sei es das Entsetzlichste, im Dienst der < neuen Zeit > zu tun; die Ablösung des Rechtsbewußtseins durch die Initiation in die Zwecke der Geschichte – und in alldem der unbeirrbare Glaube an die revolutionäre Notwendigkeit, welche der entfesselten Gewalt ihr erschreckend gutes Gewissen gibt.“ [10]

Der Totalitarismus im 20. Jahrhundert wurde wesentlich durch den Kommunismus unter dem Zeichen des Roten Sterns und durch den Nationalsozialismus unter dem Zeichen des Hakenkreuzes verkörpert.

Die Terroranschläge auf das World Trade Center und auf das Pentagon am 11. September 2001 waren genau wie die Anschläge auf die Synagoge von Djerba am 11. April 2002 und auf die beiden Diskotheken in Kuta auf Bali am 12. Oktober 2002 die Taten islamischer Fundamentalisten. Zu all diesen Terrorakten hat sich die Organisation „Al-Qaida“ des Osama bin Laden bekannt. Es heißt, der islamische Fundamentalismus habe den traditionellen Islam politisiert und zu einer Kampfideologie erhoben, die man Islamismus nennt. Allerdings, gegen den „Vereinfachungsdrang der westlichen Toleranzdoktrin“ [11] sei es gesagt: Der Djihad fordert nach koranischer Vorschrift von Anfang an die Ausdehnung der islamischen Herrschaft durch den Kampf gegen den „Unglauben“, sei es mit Gewalt – durch Mord und Zerstörung –, sei es mit dem Wort. [12] Das Ziel des islamischen Fundamentalismus beschreibt ein „Handbuch des Terrorismus“ der Organisation „Al-Qaida“: „Umsturz der gottlosen Regierungen des Westens und ihre Ersetzung durch islamische Regierungen.“ Wie der Kommunismus und der Faschismus hat auch der islamische Fundamentalismus die Demokratie zum Feind erklärt.
Schon 1937 verbündete sich der religiöse und politische Führer der Araber in Palästina, der Großmufti von Jerusalem, Haj Mohammed Amin al-Husseini (1893 – 1974) mit Nazideutschland gegen Juden und Briten. Al-Husseini traf im September 1937 in Jerusalem mit Adolf Eichmann zusammen, zu dem er später freundschaftliche Beziehungen unterhielt, als er, von 1941 bis 1945, Hitlers Gast in Berlin war. Im November 1941 empfing der deutsche Außenminister, Joachim von Ribbentrop, al-Husseini in Berlin. Noch im selben Monat wurde al-Husseini von Adolf Hitler empfangen. Manchem wird das Foto von der Begegnung al-Husseinis mit Hitler in Erinnerung geblieben sein. Al-Husseinis Motto lautete: „Tötet die Juden, wo ihr sie trefft – dies gefällt Gott, der Geschichte und der Religion.“ Er erstrebte den Heiligen Krieg des Islam im Bündnis mit Deutschland gegen die europäischen Juden, und er ermunterte Hitler, die sogenannte Endlösung für die Juden des Nahen Ostens und Nordafrikas vorzusehen. Al-Husseini agierte in Berlin als Berater von Eichmann und Himmler; er besuchte verschiedene Vernichtungslager, darunter Auschwitz. Den Heiligen Krieg gegen die Juden propagierte er über das deutsche Radio für Nahost. Mit Hitlers Erlaubnis rekrutierte al-Husseini Anfang 1943 in Bosnien Tausende bosnischer Muslime für die Waffen-SS. Bis Mitte April 1943 meldeten sich über 20 000 muslimische Freiwillige zum Dienst auf deutscher Seite. Der Verband erhielt den Namen „13. Waffengebirgsdivision der SS Hanjar“ („Schwert“). Die Angehörigen der SS-Division „Hanjar“ ermordeten den größten Teil der bosnischen Juden, verfolgten und ermordeten Sinti und Roma und kämpften gegen die Partisanenarmee Titos. [13]

Der verzweifelt-bittere Schluß von George Taboris Stück „Nathans Tod“ aus dem Jahre 1991 wirkt angesichts des 20. Jahrhunderts einfach wahr: Nathan findet in der Folge eines Pogroms den Tod. Der Sultan Saladin und der Patriarch von Jerusalem feiern mit Mönchen und Mamelucken ihren Sieg. Der Patriarch hebt sein Glas und sagt: „Endlich verklingt Sein lächerliches Lied Das törichte Märchen Über irgendwelchen Ring. Wir werden es nie wieder hören.“ [14]

Ein Verwandter des Großmuftis al-Husseini begreift sich als dessen politischer Nachfahre. Er heißt Rahman Abdul Raouf al-Qudra al-Husseini, besser bekannt unter dem Namen Jasser Arafat. Arafats Karriere wurde von dem Hitler-Protegé al-Husseini maßgeblich gefördert, al-Husseini war Arafats Mentor. Erst kürzlich hat Arafat in einem Interview bekannt, er habe 1948 zu den Truppen al-Husseinis gehört, die gegen den neugegründeten Staat Israel kämpften; der Großmufti sei der Held der Palästinenser. [15]

Das beherrschende Kampfmittel der islamischen Fundamentalisten ist der Terror. Der islamische Fundamentalismus verkörpert den Totalitarismus im 21. Jahrhundert. Der Kampf zwischen Demokratie und Totalitarismus, der das 20. Jahrhundert bestimmt hat, ist nicht zu Ende. Er setzt sich im 21. Jahrhundert als Kampf zwischen Demokratie und islamischem Fundamentalismus fort.

Soll man sich Lessings utopischem Ideal anvertrauen, das er in seiner Schrift „Die Erziehung des Menschengeschlechts“ (Paragraph 85) beschwört? „...sie wird kommen, sie wird gewiß kommen, die Zeit der Vollendung, da der Mensch ... das Gute thun wird, weil es das Gute ist...“

Oder soll man sich dem Siebenten Höllengeist in Lessings „Faust“-Fragment ergeben, der den Schnelligkeits-Wettbewerb der Höllengeister gewinnt, weil er so schnell ist wie der Übergang vom Guten zum Bösen?
Nicht naiver Glaube an das Gute und nicht fatalistische Ergebung können die Demokratie vor den totalitären Höllengeistern schützen.

Ich danke dem Freistaat Sachsen und dem Lessing-Kuratorium für den Preis, ich danke dem Laudator Prof. Heinz Ludwig Arnold, und ich danke der Stadt Kamenz für die Gastfreundschaft.

Nachweise

[1] Äsopische Fabeln mit moralischen Lehren und Betrachtungen. Aus dem Englischen übertragen und mit einer Vorrede von Gotthold Ephraim Lessing nach der Ausgabe von Samuel Richardson. Mit 40 Kupfertafeln der Erstausgabe von 1757. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Walter Pape. Zürich (Diogenes Verlag) 1994.

[2] Gotthold Ephraim Lessing, Fabeln. Abhandlungen über die Fabel. Herausgegeben von Heinz Rölleke. Stuttgart (Philipp Reclam jun.) 1992.

[3] Heinz Rölleke, in: [2], S. 158 und 159.

[4] Hans Joachim Schädlich, Gib ihm Sprache. Leben und Tod des Dichters Äsop. Reinbek (Rowohlt) 1999.

[5] [2], S. 86.

[6] Walter Pape, in: [1], S. 389.

[7] [2], S. 41.

[8] Wassili Grossmann/Ilja Ehrenburg/Arno Lustiger (Hrsg.), Das Schwarzbuch. Der Genozid an den sowjetischen Juden. Reinbek (Rowohlt) 1995.

[9] Hans Maier, Politische Religionen. Die totalitären Regime und das Christentum. Freiburg/Basel/Wien (Herder) 1995, S. 7.

[10] Hans Maier, Konzepte des Diktaturvergleichs: „Totalitarismus“ und „politische Religionen“. In: Totalitarismus und Politische Religionen. Konzepte des Diktaturvergleichs. Paderborn/München/Wien/Zürich (Ferdinand Schöningh) 1996, S. 250.

[11] Hans-Peter Raddatz, Von Allah zum Terror? Der Djihad und die Deformation des Westens. München (Herbig) 2002, S. 52.

[12] [11], S. 167 und 228.

[13] Gerhard Höpp, Mufti-Papiere. Briefe, Memoranden, Reden und Aufrufe Amin al-Husainis aus dem Exil, 1940 – 1945. Berlin (Klaus Schwarz Verlag) 2002.

[14] George Tabori, Nathans Tod nach Lessing. Berlin (Gustav Kiepenheuer Bühnenvertrieb) 1991.

[15] Joseph Farah, "Arafat, the Nazi". In: The Israel Report, August 14, 2002.