literarische texte

Ingo Schulze
Mr. Neitherkorn und das Schicksal

„Ich wollte mir die Haare schneiden lassen“, begann ich. „Aber entweder war die Friseuse bei der Maniküre oder sie hatten keine freien Termine oder ich geriet in einen Damensalon.“ Mr. Neitherkorn blickte von seiner Tasse auf, als wollte er etwas sagen, klaubte aber nur ein Stück Zucker aus der Dose, das er erst in den Kaffee tunkte, dann in den Mund steckte und zu lutschen anfing. „Plötzlich“, erzählte ich weiter, „wimmelte es hinter einer Ladenscheibe nur so von Friseuren. Auf pompösen, abgewetzten Frisierstühlen saßen ausschließlich Farbige. Die Weißen um sie herum wirkten unglücklich. Außerdem paßten ihnen die weißen Kittel nicht. Sie fuhren mit Rasierapparaten über die schwarzen und hellbraunen Schädel und massierten im Anschluß die Glatzen mit Parfüm. Als ein Stuhl für mich frei wurde, zeigte ich einem kleinen grazilen Mann Anfang Vierzig, wieviel er kürzen solle. Er nickte, spritzte mir aus einem Zerstäuber Wasser aufs Haar und griff zum Kamm. Es war für uns beide nicht sehr angenehm. Ich klagte nicht. Nach einer Weile fragte mein Friseur seinen Nachbarn etwas auf russisch. Der aber war so damit beschäftigt, eine hauchdünne Bartlinie wie einen Helmriemen um das Kinn eines Kahlköpfigen zu führen, daß er nicht antwortete, auch nicht auf die zweite Frage. Da sagte ich etwas. Der Friseur sah in mein Spiegelbild, als wollte er beobachten, wie sich mein Gesicht verzerrte. Woher ich denn kommen würde? Und er? Aus Buchara. Ich sagte, daß ich mal in Buchara gewesen sei und mir die Stadt gefallen hätte und auch die Wüste. Sein Kamm hielt inne und wir lächelten uns via Spiegel an. Er beschrieb mir genau die Lage seiner Wohnung - gegenüber dem Denkmal eines Volkshelden, ob ich mich nicht daran erinnerte? Vergeblich versuchte er mir mit Details auf die Sprünge zu helfen, und pumpte dabei Wolke auf Wolke aus dem Zerstäuber. Er selbst war Bauingenieur, nun aber schon seit einem Jahr hier, mit der ganzen Familie. 'Lieber Friseur in New York als Bauingenieur in Buchara?' fragte ich - ich meinte das nicht rhetorisch. Und da antwortete er: 'Nu, tschto delatch? Eto sudba.'“

„Und was heißt das?“ fragte Mr. Neitherkorn und wischte sich mit der Fingerkuppe über die Lippe.

„'Nun, was soll man da machen, das ist Schicksal', würde ich übersetzen oder 'Nichts zu machen, das ist das Schicksal'. 'Fate', 'fatum' sowas in der Art. Als ich nach einer halben Stunde den Laden verließ - einschließlich Rasur sechs Dollar - verabschiedeten mich drei Friseure per Handschlag und ein Vierter, der draußen eine Zigarette rauchte, sagte: 'Tschastliwui', also soviel wie: 'Machs gut'.“

„Und deshalb wollen Sie darüber schreiben?“ Mr. Neitherkorn stützte seine Stirn in beide Handflächen.

„Ein Zufall“, antwortete ich. „Ich hätte genauso gut ein anderes Wort nehmen können. Aber wenn es mir schon einer auf den Kopf zusagt, und auch noch auf russisch? Warum soll ich mir dann was ausdenken?“

„Aber wenn Sie nun behaupten, daß es gar kein Schicksal gibt?“ Er blickte auf, so daß ich das rot-weiß seiner unteren Augenränder sehen konnte.

„Ich meinte, daß ich selbst dieses Wort nicht verwende. Und außerdem“, fügte ich hinzu und war froh, endlich den Satz anzubringen, „Außerdem ist doch nur wichtig, warum wir glauben, daß es ein Schicksal gibt oder eben nicht gibt.“

Mr. Neitherkorn zerbiß den Rest Zucker in seinem Mund und trank einen Schluck, ohne seine Ellbogen auf dem Tisch zu bewegen.

„Wichtig ist also nur“, sagte ich, von der Wirkung auf Mr. Neitherkorn enttäuscht, „warum wir diesen Begriff verwenden.“

„Wenn Sie das so sehen“, sagte er. Seine Zunge spielte schon wieder mit dem Gebiß.

Jeden Tag mittags halb zwei betrat Mr. Neitherkorn die Wohnung, auch am Wochenende. Ich hörte nur seine Schlüssel in der Tür, später die beiden Schlösser zum Zimmer nebenan. Dann blieb es ruhig, bis gegen vier, bis er in die Küche ging und Kaffee machte und wartete, daß ich kam. Meist hatte er noch die Wattepfropfen in den Ohren, ohne die er nicht auf die Straße ging. Den Kaffee bezahlte er. Die Milch kaufte ich. War ich bis fünf nicht erschienen, klopfte es. Für den Fall, daß ich nachmittags wegginge, erbat sich Mr. Neitherkorn eine Mitteilung - er wolle nur wissen, ob ich wohlauf sei.

Ich hatte mich anfangs darauf eingelassen. Dann war es eine Gewohnheit geworden und dann eine Anstrengung oder einfach ein Mangel der Wohnung, der den Mietpreis rechtfertigte: 289 Dollar für fünfundzwanzig Quadratmeter im 17. Stock an der Upper Westside - es gab nichts Billigeres, nirgendwo in Manhattan. Dazu noch Bad und Küche und Korridor. Und um sechs ging er ja wieder.

Ich war durch eine Reihe ungewöhnlicher Zufälle an Mr. Neitherkorn geraten, dessen Frau, auch eine Deutsche, zu Beginn des Jahres verstorben war. Nun wohnte er in einem Altersheim an der West End Avenue und kam nur, um „letzte Dinge“ zu ordnen - so sagte es mir ein Bekannter, der es von Mr. Neitherkorn wußte, zu dem er mich gebracht hatte.

In der Bibliothek des Goethehauses las ich im Brockhaus nach unter „Schicksal“: „Bezeichnung für die Erfahrung, daß vieles, was dem Menschen widerfährt oder was in Welt und Geschichte sich ereignet, nicht Resultat menschlichen Wollens und Handelns, sondern ihm 'von außen' auferlegt ist. S. kann dabei als Verfügung seitens numinoser Kräfte, als 'Gesetz', als Willen Gottes oder in säkularer Form als Bestimmtheit des Menschen durch seine biolog., gesellschaft. oder psych. Bedingungen erscheinen.“ Da stand alles, was man wissen mußte.

Das Grimmsche Wörterbuch bringt viele Beispiele für die Verwendung des Wortes, zum Beispiel bei Goethe: ‰Das Schicksal, für dessen Weisheit ich alle Ehrfurcht trage mag an dem Zufall, durch den es wirkt, ein sehr ungelenkes Organ haben.“ Dieser Satz beantwortet alle Fragen, selbst solche, die mich in der Schulzeit bedrängten: Warum ist die historische Mission der Arbeiterklasse gesetzmäßig und warum muß die Arbeiterklasse von einer Partei neuen Typs geführt werden? Weil das Schicksal im Zufall ein ungelenkes Organ hat.

Im philosophischen Wörterbuch von Hoffmeister gibt es zwei Seiten zum Schicksal. Eine Seite lang beruft er sich auf einen gewissen Gehl, der 1939 ein Buch mit dem Titel: „Der germanische Schicksalsglaube“ veröffentlich hat. Darin wird erklärt, warum das Schicksal bei den Germanen mit Notwendigkeit heroischen Charakter trägt und geschlußfolgert: „Was sich dahinter verbirgt, ist nichts anderes als der stolze Glaube an die schlechthinnige Freiheit des Menschen gegenüber jeder Art von Zwang, ein Glaube, der dem Germanen jedenfalls aus tiefstem Herzen kam und in dem lachenden Gang in den Tod eine unermüdlich bewunderte Krönung empfing.“

Über das Einmünden des persönlichen Schicksalsglauben in den überpersönlichen, die Mystik einer „Schicksalsgemeinschaft alles Lebendigen“, soll man auch bei Gehl nachlesen. Es folgen noch ein paar Literaturangaben und als nächstes Stichwort: schizoid.

„Sind Sie fündig geworden?“ fragte Mr. Neitherkorn. „Haben Sie das Schicksal entdeckt?“ Er kramte in seiner Einkaufstüte.

„Im Abendland interpretiert man 'Schicksal' entweder passiv oder aktiv“, versuchte ich zusammenzufassen. „Passiv meint, es gibt einen Ursprung, und danach spulen sich die Ereignisse mehr oder minder planmäßig ab. Sieht man es mehr aktiv, ist es eine Genese. Man schlägt sich durchs Leben und hofft, daß man nicht krank wird. Wenn über das eigene Leben mehr verfügt wird als daß man selbst entscheiden kann, macht man sich daraus eben das Schicksal. Schicksal ist eine säkularisierte Variante von Gott. Man will ihn nicht mehr, fühlt sich aber allein überfordert. Selbst wenn ich eine Dissertation über den richtigen Gebrauch des Wortes Schicksal in der deutschen Sprache gefunden hätte, wem sollte ich damit durch die offene Tür ins Haus fallen?“

„So eine Schrift gibt es bestimmt“, sagte Mr. Neitherkorn und setzte sich.

„Sicher“, sagte ich. „Aber wenn ich überhaupt etwas schreiben kann, dann bestenfalls Geschichten.“
„Sie sind wohl kein sehr philosophischer Geist?“ fragte er und zerschnitt den Carrot Cake mitsamt der Verpackung.

„Ich kann mit Philosophie nichts anfangen“, antwortete ich. „Auf dieser Ebene der Abstraktion läßt sich auch immer das Gegenteil behaupten. Ich könnte es mir einfach machen: das Böse - das sind die Abstrakta, das Schicksal - das sind die Anderen.“

Mr. Neitherkorn blickte auf. „Ist das von Ihnen?“ Dann biß er in eine Hälfte des Carrot Cake.

„Es ist einfach Unsinn“, sagte ich. „Das Schicksal - das ist Ödipus, das Schicksal - das ist meine Sprache, das Schicksal - das sind meine Genossen oder meine Gene. Das Schicksal des Menschen ist der Mensch. Ich bin das Schicksal. Das Schicksal - das ist der Wodka oder die Zitronenlimonade oder unser Carrot Cake. Es klappt immer, wenn man sich nicht ganz blöd anstellt, oder gerade dann. Man soll einfach sagen, das und das ist passiert. Warum soll das 'Schicksal' sein?“

„Man gebraucht es doch“, sagte Mr. Neitherkorn, „wenn man es gerade nicht weiß.“ Er schob mir die andere Hälfte des Carrot Cake zu und räusperte sich. „Wissen Sie, was ich nicht verstehe? Warum Sie hier sind?“ Er wischte wieder mit den Fingerspitzen über die Lippen und blickte in seine Tasse. Diese Frage von seinem Vermieter zu hören ist eigenartig.

„Ich habe ein Stipendium,“ sagte ich.

„Das weiß ich“, sagte er. „Aber warum haben Sie sich darum beworben? Warum schreiben Sie ihre Geschichten hier, und nicht in Deutschland, wenn sie doch von Deutschland handeln. Warum lassen Sie Ihre Frau für ein halbes Jahr allein, bezahlen monatlich 900 Dollar für Fax und Telefon, verbringen den Sommer vor der Klimaanlage und in einer Stadt, in der man nicht mal richtig schlafen kann. Ich verstehe Sie nicht.“

„Sind Sie nicht gerne hier?“ fragte ich.

„Nein“, sagte er und drückte seinen Rücken gegen die Lehne. „Wie kommen Sie darauf?“

Sonntag. Ich habe ein Fax bekommen.

„Wenn Schriftsteller über Schicksal meditieren, müßte jemand im Hintergrund leise 'Hiob' lesen, den 'Roman eines einfachen Mannes'. Ich war heute früh auf einen Satz für Dich gestoßen und hatte gerade überlegt, ob ich aufstehen sollte, mich dann aber doch für einen Zettel im Buch entschieden, als es klingelte, gegen acht. Vor der Tür stand Hiob, Dein Zigeuner. Frau und Kind lägen in Rumänien im Krankenhaus, er brauche Geld. Er hatte schon gehört, daß Du nicht da bist, ja, in Amerika. Ich hatte 180 Mäuse, habe ihm Waschzeug in die Hand gedrückt, Frühstück gemacht, dann sind wir zur Bank gefahren. 400 habe ich abgehoben. Warum nicht mehr? Er hat den flehenden Bettlerblick gelernt, küßt die Hand, dankt Gott. Wofür? 50 extra für Kindermitbringsel. Und für den Vater? Ich hatte noch 30 und habe sie behalten. Dazwischen dachte ich, daß es kein Wunder ist, wenn die Fahrräder verschwinden, und daß es nicht nur wider die Konvention, sondern auch wider die Natur ist, allein zu sein. Und das alte Häuschen erschien mir riesig und luxuriös. Ich war schweigsam und unfreundlich, den 'Hiob' im Kopf. Mit der ganz einfachen Wirklichkeit konnte ich nicht umgehen.

Schicksal ist schlicht das Leben, das man ändern müßte. Aber das kommt nur selten vor. Bei Roth steht - es geht darum, wie Mendel Singers Sohn Schemerjah sich durch Flucht vorm Militär rettet, die Stelle, kurz bevor er über die Grenze geführt wird: 'Schemerjah trank einen Schnaps, er wurde heiß aber ruhig. Sicherheit fühlte er wie noch nie; er wußte, daß er eine der seltenen Stunden erlebte, in denen der Mensch an seinem Schicksal nicht weniger zu formen hat als die große Gewalt, die es ihm beschert.'“

Ich habe versucht, die Telefonrechnung zu bezahlen. Für Fragen haben sie eine Nummer angegeben. Darunter steht: We're here to help you 24 hours a day, 7 days a week. Ich habe keinen Menschen erreicht, ich meine, kein menschliches Wesen. Nach der ersten Ansage drückt man eine Taste, nach der zweiten eine Taste und so weiter, von Ansage zu Ansage, immer eine andere Ansage. Nachdem ich mich fünf Tastenwahlgänge vorgearbeitet hatte, sprang es wieder an den Anfang zurück. Ich begann von vorn, geriet durch das Labyrinth schließlich auch an eine Ansage, die mir jetzt einen 'assistent' in Aussicht stellte. 'We are sorry', hieß es dann - alle Leitungen besetzt. Ich sollte es später wieder versuchen, wußte aber nicht mehr, wie ich es geschafft hatte, überhaupt so weit vorzudringen.

Am Mittwoch fuhr ich mit C. an den Strand von Fire Island. Wir machten in Brooklyn Halt, um den Wagen seiner Frau aus der Werkstatt abzuholen. C. kurvte durch die Straßen des chassidischen Crown Heights, bis wir an die Grenze zu den Puertoricanern kamen. Dort kostet die Reparatur nur 500 Dollar, in Manhattan wären es 1500 gewesen sagte C. und lachte ausgiebig.

Ich starrte auf die Männer mit Hut, Schläfenlocken, schwarzer Brille und Kaftan. Sie sind nicht schneller oder flinker als andere, aber in dieser Montur erscheinen sie so. Oder es ist der Gegensatz zu den Schwarzen, die neben der Garage an der Hauswand lehnten. Oder weil man denkt, daß sich nur alte Leute so kleiden. Aber hinter der Brille, unter der Hutkrempe, zwischen den Locken schauen oft Kindergesichter hervor. Es muß zehn verschiedene chassidische Gruppierungen hier geben. Bei den meisten werden die Mädchen verheiratet, bevor sie achtzehn geworden sind. Den Bräutigam haben sie vorher nicht oder nur mal kurz gesehen. Nach der Heirat müssen sich viele das Haar schneiden, um für andere Männer unattraktiv zu sein. Bei den Lubawitschern gab es den Oberrabbiner Menachem Mendel Schneerson, den viele für den Messias hielten, das heißt halten. Jetzt, da er tot ist, sagen sie, daß sie seiner einfach noch nicht würdig waren.

„Wenn man glaubt, dann glaubt man eben“, rief C., „da kannst du nichts machen“, und er lachte, als hätte er abermals 1000 Dollar gespart.

Er erzählte von seiner Großmutter, die in den Zwanzigern die Grand Dame von Elberfeld gewesen sei. Vor 1933 hat sie Hitler 2 Millionen Mark überwiesen. Sie dachte, daß der mit Juden nicht die deutschen Juden meint, sondern die anderen, die in Galizien. „Sie hat lange gebraucht, um diesen Glauben zu verlieren.“ Wieder lachte er.

„Würde man den Holocaust als Schicksal auffassen“, sagte C. noch, „bedeutete das auch Wiederholbarkeit und keine Fragen nach den Tätern. Es macht doch einen Unterschied, ob ich sage: 'das Schicksal der Juden' oder: 'was Deutsche mit Juden gemacht haben', you know?“

T. rief an. Sie fahren mit einem „außen Schrott“-Auto, aber 1-A Motor gen Westen. Gleich hinter New York, wie sie sich ausdrückte, bekamen sie Ärger. T. dachte, sie fotografiere eine Schauspielertruppe. Es waren aber Mennoniten. „Die fahren nicht Auto“, sagte sie, „haben keinen Kühlschrank, kein elektrisches Licht, keinen Fernseher, keine künstlichen Düngemittel, kein Telefon. Und weißt du, was das Verrückteste ist? Sie haben recht, rein praktisch gesehen.“

„In der 'Newsweek' stand letzte Woche“, sagte ich, „daß statistisch gesehen Gottesdienstbesucher deutlich weniger Herzkrankheiten haben als andere.“

„Na siehst du“, sagte sie, „noch ein Wunder.“

Am Ausgang der subway erhielt ich heute einen Zettel - keine Religion, keine Werbung, wie der Mann stolz verkündete. Stattdessen: „9 Wege um den Seelenfrieden (peace of mind) zu erreichen“. Unter Punkt eins heißt es: Eine Mißgunst zu pflegen (nursing a grudge) drückt das eigene Glücksniveau im Durchschnitt um 50 Prozent. Es folgen weniger konkrete Hinweise: Man soll mit dem Leben kooperieren, sich selbst nicht bedauern aber auch nicht zu viel von sich erwarten usw. Punkt sieben fordert zur Aktivierung der old-fashioned virtues auf: Liebe, Ehre, Sparsamkeit, Kirchenbesuch. Es gipfelt in Punkt neun: „Finde etwas, das größer ist als Du selbst, an das Du glauben kannst.“ Als Beleg dafür wird angeführt, daß selbstbezogene, materialistische Menschen im Durchschnitt weniger glücklich sind als jene, die sich religiös und altruistisch verhalten. Diese erreichten in einer Untersuchung der Duke-University „top hapiness rates“.

Am Tag nach der NASA-Pressekonferenz, auf der verkündet worden war, man habe im Marsgestein Rückstände organischen Lebens nachweisen können, fragte mich der Japaner an der Sushi-Theke etwas. Ich verstand es in seiner Aussprache nicht und er schrieb mir etwas auf die Serviette. Ob ich an Gott glaube. „Nein“, sagte ich, „ich glaube nicht an Gott“. Er fragte einen Schwarzen, der auf sein Paket zum Mitnehmen wartete. Natürlich glaube er an Gott, sagte er. „Wer hat uns geschaffen wenn nicht der Lord?“ Er beachtete mich nicht, war aber über den Japaner erbost, weil der nicht an Gott glaubte. Der Sushimeister fragte mich erneut etwas, was ich nicht verstand. Und wieder schrieb er es auf die Serviette: „U.F.O.“ Daran glaube er. Und ich? Ich schüttelte wieder den Kopf. Woran ich denn glaube, wollte er wissen. Ich hatte gerade den Mund voll und deshalb Zeit, um zu überlegen. „Ich glaube“, sagte ich, „daß der Fisch hier wirklich frisch und gut ist“. Da hat er mich angestrahlt.

Mit der Rechnung erhielt ich einen Cake, in dem ein Zettel eingebacken war. „Besser als ein Bündel guter Ideen ist oft etwas Geduld.“ Ich stand im Fahrstuhl und überlegte, was das für mich bedeuten könnte, denn langsam wurde die Zeit knapp. Wie immer sah ich auf die runden Felder, wo die Etagennummern aufleuchten. Auf die 12 folgt die 14. Es gibt keine 13. Etage auf der Anzeige. Ein Tribut der Erbauer an das Schicksal, um es versöhnlich zu stimmen.

„Ich verstehe ja“, sagte ich zu Mr. Neitherkorn, dem ich von meinem mittäglichen Gespräch erzählt hatte, „daß es gut tut, wenn man seine eigene Verantwortung abgeben kann. Aber ist es nicht auch eine Frage der Würde, wenn man sich keine Trostpflaster aufschwatzen läßt?“

„Trost?“ fragte er, „wofür?“

„Daß halt alles sehr zufällig ist, unsere ganze Existenz.“

„Finden Sie das?“ fragte er.

„Ja“, sagte ich. „Was denn sonst?“

Heute vormittag rief eine Frau an. Sie sprach deutsch, nannte ihren Namen und fragte, wielange ich denn das Zimmer gemietet hätte. „Bis einschließlich Dezember“, antwortete ich. Dann könne sie im neuen Jahr bei Mr. Neitherkorn einziehen? Das müsse sie mit ihm klären, sagte ich und bezweifelte, ob er dann noch über die Wohnung verfügte. „Er ordnet nur noch ein paar Sachen.“

„Das macht er schon seit zehn Jahren“, rief sie und lachte.

„Wie?“, fragte ich, „Nicht erst, seit seine Frau gestorben ist?“

„Ach! Sie ist schon über 50 Jahre tot. Wenn sie überhaupt verheiratet waren... Sollte er Sie um ihre Adresse bitten, dann geben Sie die ihm ruhig. Er kommt ja doch nicht.“

„Wohin?“

„Ach, nur Gerede. Immer wenn es ihm zu kalt oder zu warm ist, zu laut oder zu dreckig, dann sagt er, daß er nach Deutschland geht. Ich ruf später nochmal an“, sagte sie. „Tschüß denn!“

Als ich aus dem Fahrstuhl stieg, traf ich auf Mr. Neitherkorn. Er war heute früher als sonst. „Wohin gehen Sie denn schon wieder?“

„Zum Friseur“, rief ich laut, weil ihm noch die Watte in den Ohren steckte. „Ich werde ihm das Schicksal ausreden.“ Mr. Neitherkorn brummte irgendetwas, senkte den Blick, ich trat zur Seite und dann schlossen sich die Türen zwischen uns.

Bereits von außen sah ich, daß ich keinen der Friseure kannte. Warum ich trotzdem hineinging, weiß ich nicht mehr. Diesmal wartete ich in einem Sessel. Ein Schwarzer im Anzug kam nach mir, grüßte, schwang seine Sporttasche vor einem freien Sessel auf die grüne Spiegelkonsole und begann Kämme, Scheren und verschiedene Flacons auszupacken. Dann streifte er sich einen weißen Kittel über, bekam vom Chef einen Kunden zugeteilt und begann zu rasieren. Schwarzer Haarfilz fiel zu Boden und ich dachte, daß mir das auch Spaß machen könnte. Mich sollte ein Weißer mit Bürstenschnitt schneiden. Der fand aber keinen geeigneten Kamm. Der Chef leitete mich weiter an eine Inderin. Die legte gleich los. Eine Japanerin kam und packte ihre Tasche vor dem Spiegel rechts von uns aus. Ihr Kunde, dessen Rastalocken wie eine Garbe auf der Schädeldecke zusammengebunden waren, wollte auf Ohrhöhe geschoren werden. Ich selbst genoß das Krabbeln im Nacken, das Behandelt-Werden, senkte den Kopf, drehte ihn nach rechts, nach links - und sah den Bauingenieur aus Buchara eintreten. Hilflos bewegte ich die Hände und gab wohl irgend einen Laut von mir. Die Inderin sagte: „sorry“ und drückte ihren Daumen gegen meine Schläfe. Er stellte sich hinter uns und führte einen Trick vor, bei dem er sich eine Zigarette aus der Hand schlug und sie mit den Lippen auffing. Der Chef begrüßte ihn, beide tuschelten mit der Inderin, die den Knoten meines Lätzchens löste und ihren Platz räumte.

Bevor ich aufstehen konnte, band er mir einen anderen Umhang um und verkündete, daß er mich jetzt frisieren werde, kostenlos, wie er sofort hinzufügte. Ich sagte, daß man mir leider Gottes gerade die Haare geschnitten hätte und wandte den Kopf hin und her. Gern würde ich mich aber mit ihm unterhalten. Nur noch ein bißchen, beschwichtigte er mich, ist doch kostenlos, und begann an meinen Haaren zu ziehen. Dabei sah er wieder so ernst und traurig aus, wie beim letzten Mal. Vorsichtig stellte ich meine erste Frage. Warum er denn weg sei aus Buchara? Er winkte nur ab. „Das war kein Leben mehr“, sagte er. Was er sich denn von Amerika versprochen hätte? „Amerika“, rief er. Auf alles, was ich sagte, gab er eine kurze Antwort. Schließlich fragte ich, warum er denn von „sudba“ gesprochen habe. „sudba?“ Er blickte in mein Spiegelbild. Viel zu lange hätten sie gewartet. Wenn er bedenke, wie weit sie jetzt schon sein könnten. Aber nächste Woche eröffne seine Frau einen Frisiersalon in Brigthon Beach, und er hätte eine Stelle als Maurer gefunden und werde ihnen beweisen, was er könne. Viel wichtiger aber sei, daß seine Tochter Aussichten auf ein Stipendium hätte, und wenn das gelänge - er klapperte mit der Schere in der Luft und zwinkerte mir zu.

„Das läuft ja ausgezeichnet“, sagte ich. „Natürlich läuft es gut“, erwiderte er und machte einen mächtigen Schnitt. „Wenn wir nicht so lange gewartet hätten!“

Dann schwiegen wir. Er schnitt und schnitt, und ich überlegte, was ich nun schreiben sollte.

„Oooh!“ rief Mr. Neitherkorn, als ich die Küche betrat. „Sind wilde Tiere über sie hergefallen?“

„Sie haben mich zweimal geschnitten“, antwortete ich und zog an meinen Haaren.

„Was sagen Sie?“

„Wie soll ich das erklären“, sagte ich. „Keinesfalls war es Schicksal, wenn Sie das wissen wollen.“

„Hören Sie endlich auf“, rief er. „Haben Sie keine Augen im Kopf? Haben Sie immer noch nicht genug?“

Ich setzte mich auf meinen Platz. Er stellte eine Tasse Kaffee vor mich hin, kramte in der Tüte und holte den Carrot Cake hervor. Er zerschnitt ihn noch in der Folie, legte eine Hälfte vor meine Tasse, stand noch einmal auf, ging zu dem grünen Einkaufsbeutel, nahm die Milchtüte heraus und öffnete sie.

„Danke“, sagte ich. Wir tranken Kaffee und aßen Carrott Cake. Ich hatte Angst, in mein Zimmer zu gehen und mich vor den Computer setzen zu müssen. „Ich habe keine Ahnung, was ich schreiben soll“, sagte ich nach einer Weile.

„Machen Sie sich keine Gedanken“, sagte er. Seine Zunge spielte wieder mit dem oberen Gebiß. „Ich erzähle Ihnen morgen eine Geschichte. Die können Sie dann noch ein bißchen ausschmücken.“

„Was?“ fragte ich.

„Was“, sagte er ohne aufzuschauen. „Von einem der auszog - und so weiter."

„Sie wollen Schicksal spielen?“ fragte ich.

„Oh, nein!“ rief Mr. Neitherkorn, hob die Arme, die Handflächen zum Himmel gewandt und verharrte so einen Augenblick. „Ich bin nur Friseur“, sagte er dann und ließ die Hände wieder sinken. „Aber da hört man eine Menge ...“


Mit freundlicher Genehmigung des Autors aus: Ingo Schulze, Mr. Neitherkorn und das Schicksal.
Erzählung, Edition Mariannenpresse (2002).