gespräch

Gibt es die “German Angst” auch in den USA?

Ein Gespräch über Michael Moores „Bowling for Columbine” zwischen W. Müller, Carlisle und R. Stollmann, Bremen (31. Januar 03)

Stollmann
„Bowling for Columbine“- hat dieser Film in Amerika Aufmerksamkeit erregt?

Müller
Ziemlich große! Er hat Preise gewonnen, er ist stark gelobt worden in Zeitungen, auch im Internet. Er steht ziemlich gut da.

St.
Was haben denn die Kommentare hervorgehoben?

M.
Vor allem, daß da jemand ein bedrückendes Problem dieses Landes behandelt, diese Verrücktheit nach Waffen. Dann natürlich auch die Art seiner Interviews, die Methoden des Films. Die meisten Kommentatoren haben gesagt, ein wirklicher guter Dokumentarfilm, ein Film, der sich mit Problemen beschäftigt, die dieses Land nun mal hat.

St.
Ist es denn ein Dokumentarfilm?

M.
Ja, insofern dort Interviews zu sehen sind, die dokumentarisch sind. Aber Dokumentarfilm nicht in dem Sinne, daß jemand „objektiv“, leidenschaftslos eine Kamera auf etwas hält. Da ist schon jemand mit einer genauen Perspektive hinter der Kamera, der sich das, was er da ins Bild bringt, genau aussucht, insofern ist es auch ein Pamphlet, nicht nur ein Dokumentarfilm.

St.
Ja, es ist ein sehr parteilicher Film von jemand, der aufgeschreckt ist durch diese Massaker in den amerikanischen high schools.

M.
Er hängt sich aber auch so ein bißchen an die Sensation dran, das muß man schon sagen.

St.
Du meinst an die Sensationsöffentlichkeit, die nach diesem Massaker entstanden ist?

M.
Genau

St.
Die hat er teilweise mit in dem Film verarbeitet. Er hat ja diese Reporter abgefilmt, die da stehen und an sich schon einen grotesken Eindruck machen - 20 Reporter nebeneinander mit fast identischen Kommentaren, jeweils vor ihrer eigenen Kamera.

M.
Vollkommen richtig. Andererseits steht seine Kamera auch daneben, er hat sich die Bänder besorgt vom lokalen Sheriff, die Notrufe, die eingegangen sind. Moore ist einerseits kritisch, andererseits schwimmt er ein wenig auf dieser Welle.

St.
Er würde sonst weniger Aufmerksamkeit erregen, wenn das nicht der Fall wäre, wenn er wartete, bis die Welle vorbei wäre, also den Film in drei Jahren machte. Aktualität schafft Aufmerksamkeit.

M.
Ganz sicher, wobei die nationale Aufregung über diese Anschläge in den Schulen etwas abgeebbt und überlagert wurden von anderen Themen, z.B. Irak, so daß der Film sozusagen am Ende dieser Welle auftaucht.

St.
Nun hat der Film aber nicht dieselben Methoden wie die TV-Sender, sondern er berichtet Tatsachen, die ich noch nie gehört habe. Höchst erstaunlich ist doch die These, daß die Gewalt an amerikanischen Schulen oder in der amerikanischen Gesellschaft nicht einfach ein Ergebnis der Quantität der Waffen ist, die im Umlauf sind, sondern der Qualität der Angst, die Amerika beherrscht. Denn in Canada sind offenbar genauso viel Waffen in privaten Händen, aber es herrscht nicht im entferntesten so viel Gewalt auf den Straßen und in den Häusern.

M.
Das hat er deutlich heraus gearbeitet. Nun bin ich Waffengegner, ich würde gerne alle diese Waffen verbieten, außer vielleicht Jagdwaffen. Und diese amerikanische „Angst“, die der Film als Ursache für die Gewalt anbietet, scheint mir schwer greifbar. Obwohl ich ja täglich selbst sehen kann, dass dieses Land, angefangen bei Schülerlotsen bis zum Alkoholverbot für Menschen unter 21 Jahren, ein ungeheures Sicherheitsbedürfnis hat. Die Deutung, die der Film zusätzlich in dieses Motiv trägt, dass es nämlich die Angst zwischen den Weißen und den Schwarzen sei, scheint mir nicht richtig zu sein. Das größte Gewaltpotential ist zwischen den Schwarzen selbst am Werke.

St.
Nun gibt es diese dokumentarische Geschichte eines kleinen schwarzen Jungen, der eine schwarze Mitschülerin mit einer bei seinem Großvater herumliegenden Pistole erschossen hat. Moore schildert ausführlich den Lebenslauf der Mutter. Sie nimmt an einem Sozialprogramm teil, das sie zwingt, mehrere Stunden am Tag im Bus unterwegs zu sein und mehrere Jobs anzunehmen, weil der Lohn sehr niedrig ist. Der Zuschauer bekommt einen plastischen Eindruck, wie ein Kind ohne Schuld der Mutter, oder bei sehr geringer Schuld, in die Verwahrlosung driftet. Dann kommt ein Zufall hinzu, und das Unglück nimmt seinen Lauf. Diese Geschichte hat mich sehr berührt.

M.
Für mich wird der Film dort schwach, wo er verschiedenen soziale Probleme miteinander vermischt und nicht klar wird, was das noch miteinander zu tun hat. Die Gewalt unter armen Schwarzen ist etwas anderes als die Massaker in Schulen, die in der Haupttendenz von Jugendlichen der weißen Mittelklasse ausgeht. Kann man alle diese unterschiedlichen Gewaltprobleme zusammenfassen und in die Schublade einer vermeintlichen „amerikanischen Angst“ packen?

St.
Moore hat diese Angst schon unterschieden, als Sozialangst, als Angst, die aus der Rolle Amerikas in der Weltpolitik zurückschlägt und als Fremdheit zwischen Rassen.

M.
Nun spielt Amerika eine Rolle in der Weltpolitik eigentlich erst im und nach dem 2. Weltkrieg. Ich weiß nicht, ob das Land vor 1945 gewaltfreier war.

St.
Man müßte die Gewaltraten daraufhin untersuchen.

M.
Ja. Und zwischen Kanada und USA ist natürlich ein großer Unterschied, daß die Bevölkerungsdichte in den Vereinigten Staaten sehr viel höher ist.

St.
Aber in den großen Städten ist es sehr ähnlich.

M.
Möglicherweise, es gibt aber eben eine Reihe offene Fragen, die naheliegen und die der Film nicht untersucht. Michael Moore ist zweifellos ein bewundernswerter Mann, aber jemand, der aus dem Bauch heraus redet.

St.
Aber, obwohl er aussieht wie eine Couch potato, bleibt er ja nicht auf der Couch sitzen und redet von dort aus dem Bauch, sondern macht sich auf, teilweise zu Schwerstarbeiten, wenn man an seinen früheren Film „Roger and Me“ denkt, die Mühen, die es ihn kostete, den Chef von Ford in Detroit zu interviewen, der die Stadt in den Ruin trieb. Das ist harter investigativer Journalismus oder Feldforschung von Anthropologen, das macht eine Menge Mühe.

M.
Es gibt da diese interessante Geschichte mit K-Mart. K-Mart hat die Munition an die Attentäter von Columbine verkauft. Moore nimmt nun zwei der Opfer, die von dem Attentat körperlich schwer gezeichnet sind, geht mit ihnen zu K-Mart und sagt: Hört mal zu, eure Munition hat hier die Kinder in Columbine umgebracht, ich möchte darum bitten, daß diese Munition nicht mehr verkauft wird.“ Und was macht K-Mart? Sie sagen (nach einigem Zögern) ja, wir verkaufen sie nicht mehr.

St.
Das ist doch ein voller Erfolg.

M.
Das ist ein voller Erfolg, aber so ist das Problem nicht zu lösen.

St.
Das kann ein Film auch nicht. Aber diese direkte, amerikanische Art hat doch Aufforderungscharakter, ist beispielgebend. Gerade das hat mir gefallen. Öffentliche Diskussionen nach solchen Gewalttaten – in Deutschland gab es ja etwas Ähnliches kurze Zeit später in Erfurt - laufen völlig schematisch und klischeehaft ab. Meistens geht es damit los, daß die Medien schuld seien, dann geht es eine Woche lang über Gewaltspiele, danach kommen ein paar Experten, die finden heraus, daß das gar nicht so ist und bis dahin hat sich die Aufregung wieder gelegt und man wendet sich anderen Themen zu. Eine ernsthafte Diskussion findet höchstens unter Ausschluß der Öffentlichkeit bei Wissenschaftlern oder bei den Beteiligten statt, aber nicht mehr in der Öffentlichkeit. Es wird nicht wirklich eine Öffentlichkeit über so schreckliche Dinge, die doch die meisten Menschen interessieren, hergestellt. Dagegen ist doch Film von Michel Moore ein sehr ernsthafter Versuch eines einzelnen, wie immer mit Fehlern behaftet, eine wirkliche Öffentlichkeit herzustellen.

M.
Das stimmt, das ist die Haupttendenz des Films. Aber wenn Moore Charles Heston aufsucht, den Repräsentanten der NRA, ein berühmter Filmschauspieler, dann trifft das einerseits ins Schwarze. Aber leider hat der Mann auch Alzheimer, und diese letzte Szene wirkte auf einen Teil der Zuschauer, als ob einem Kranken noch ein Dolch in den Rücken gestoßen wird. Das ist etwas zu amateurhaft für meinen Geschmack; er bedient sich hier einer Emotionsästhetik, die nicht überzeugt. Er müßte seine Ideen genauer prüfen. In Michigan z.B., das er kennt, woher er kommt und wo er mit den Freizeitkriegern von der „militia“ gesprochen hat, ist er sehr überzeugend. Wenn er in Columbine etwas aufhellt - die beiden Schüler sind vorher noch bowling gegangen, bevor sie anfingen zu morden -, wenn er sozusagen in das Leben der Leute hineingeht, die er versteht, wenn er zu K-Mart geht, in dem früheren Film zu Ford, ist er überzeugend. In dem Augenblick, wo er diesen Bereich verläßt, wenn er zum Beispiel in den Bereich Außenpolitik kommt, kann er sich nicht mehr auf seinen Bauch verlassen.


St.
Eine andere Sache, die mich beeindruckt hat, ist die Art und Weise, wie er seine Arbeit macht. Das scheint mir auch amerikanisch zu sein. Denn im Grunde ist es ja ein Unterhaltungsfilm, frech, oft komisch, grotesk. Ein Deutscher würde einen Film über ein solches Thema kaum so anlegen, weil dafür wenig Verständnis in der Öffentlichkeit vorhanden wäre. Schlingensief ist eine Ausnahme. Da dies nun ein amerikanischer Film ist und man so tun kann, als ob es bloß um amerikanische Verhältnisse ginge, funktioniert diese Komik auch hier in Deutschland.

M.
Immerhin gibt es die deutsche Tradition des Schelmenromans, den „Simplizissimus“, der ganz naiv an Sachen heran geht, sich die Augen reibt und so tut, als ob er die Welt noch nie gensehen hätte.

St.
Das stimmt, aber das ist lange her. Besonders komisch, aber vielleicht gar nicht inszeniert, war das Interview mit dem PR-Mann der Waffenfabrik, der da so ganz teilnahmsvoll und seriös zum Thema Massaker daherredet, und hinter ihm steht eine Riesenrakete. Inhalt und Ort der Szene stehn in beißendem Widerspruch. Ich könnte mir aber vorstellen, dass diese Rakete als Reklame wirklich in der Eingangshalle des Konzerns steht, und dass es üblich ist, dort die PR-Arbeit zu machen.

M.
Das ist einfach der Stolz auf das Produkt. Trotzdem wirkt es deshalb grotesk, weil die Vernichtungskraft dieser Sprengköpfe die von Maschinenpistolen, die in Columbine benutzt worden sind, bei weitem übertrifft. Aber solche Bilder kann man in Deutschland sicher auch machen.

St.
Gewiss. Da kommen Besuchergruppen und freuen sich über die blühende Industrie des Landes. Wenn man das dann mit anderen Dingen in Verbindung bringt, wie dem Massaker im Ort, dann entsteht die Groteske von selber. Dieser Widerspruch ist nicht inszeniert, sondern vorhanden, sobald man ein bißchen Realität in die PR-Welt bringt. In dieser Mischung zwischen Dokumentation, politischem Pamphlet und Kunstfilm bringt ein einsamer Öffentlichkeitsarbeiter Dinge zum Vorschein, die alle anderen in ihrer Einschaltquotenhysterie gar nicht interessieren.

M.
Nun ist Michel Moore nicht so ganz allein. Es gibt Zeitschriften, Veröffentlichungen von allen möglichen Seiten des politischen Spektrums, auch was Dokumentarfilme betrifft, ist er nicht allein. Er hat lediglich am meisten Publizität erreicht, aber ein Rufer in der Wüste ist er nicht.

St.
Könnte man deine Kritik so zusammenfassen: Michel Moore bedient auf etwas simplifizierte Weise eine Öffentlichkeit, die schon vorhanden ist?

M.
Absolut. Sein erster Film „Roger und Me“ hatte viel Erfolg. Und nun ist das, was er dort angewendet hat, an Interviewtechnik z.B., ein bißchen zur Masche geworden, einfach weil er damit Erfolg gehabt hat. Nun hat jeder, der es mit solchen Themen schafft, soviel Öffentlichkeit zu erreichen, recht, aber ich stehe ihm auch nicht unkritisch gegenüber.

St.
Das ist ein interessanter Punkt, den man hier in Europa nicht wahrnehmen kann. Hier ist amerikanische Gegenöffentlichkeit nicht bekannt, allenfalls in Ausnahmefällen.

M.
Ist der Film in Europa ein Erfolg?

St.
Er ist ein erfolgreicher Außenseiterfilm, eher durch Mund-zu-Mund-Reklame dazu geworden. Und in Amerika?

M.
Hollywood steht ja ständig unter dem Feuer des Weißen Hauses, wenn die Konservativen gewinnen wollen, schimpfen sie auf Hollywood. Insofern käme ich auf den Gedanken, Hollywood könnte zurückschlagen und Moore einen Oscar verleihen.

St.
Warum ist das Verhältnis zwischen Hollywood und den Konservativen gestört, aus moralischen Gründen?

M.
Das auch, und weil die meisten Filmregisseure und Schauspieler ständig Geld sammeln für die Demokraten.