rezension


Gregor Hens. Himmelssturz. München: btb, 2002. 220 Seiten.

Eine neuer Roman ist in Deutschland erschienen, der von vielen sofort als Buch des Jahres und als eines der besten Bücher des Jahres 2002 bezeichnet wurde, als “grandioses Debüt" (Volker Weidermann in der FAZ). Das Buch wurde von Gregor Hens verfasst, Professor für deutsche Literatur an der Ohio State University, und enthält sehr persönliche Bekenntnisse zum Leben eines Deutschen in Amerika. Mit diesem Thema steht Hens zwar in einer Reihe mit anderen Autoren, die über Deutsche in Amerika geschrieben haben, Peter Handke (Der kurze Brief zum langen Abschied), Oskar Maria Graf (Die Flucht ins Mittelmäßige), oder Martin Walser (Brandung), doch Hens' Roman geht durch seine poetische Sprache über diese Vorbilder hinaus. Hens hat über Bernhard promoviert, und so liegt es nahe, dass er bei Bernhard Anleihen gemacht hat. Nicht nur Bernhards Stil, auch seine Gedankenwelt erscheint bei Hens, besonders Bernhards Faszination mit dem Raum als Ordnungsstifter, der das Bewusstsein des Menschen bestimmt. Bei Bernhard wird der Mensch von der Natur und Architektur beeinflusst, in der Erzählung “Ja", in Korrektur, in Auslöschung, und so ist auch Hens' Buch ein Architekturroman geworden, ein Roman über ein Ehepaar, Ferry, der Deutsche, der eigentlich Farald heißt, und die Amerikanerin Skye, die sich ihr Traumhaus von dem befreundeten Architekten Antonin entwerfen lassen, Eisen und Himmel versuchen symbolisch zusammenzukommen. Unmöglich sei das, meint der Architekt, weil ihre Lebensentwürfe sich nicht vereinbaren ließen.

Der Roman wagt viel, denn er versucht eine Geschichte in Symbolen zu erzählen, Ferrys Ehe mit seiner perfekt gestylten amerikanischen Superfrau, einer emanzipierten Dame aus einer amerikanischen Upperclass Familie mit exquisitem Kunstgeschmack, mit deren Ansprüchen er schon bald Schwierigkeiten bekommen soll. Und so legt er sich eine Freundin als Gesprächspartnerin zu, Helene, eine Deutsche, die jetzt in den USA studiert. Den deutsch-amerikanischen Kulturkonflikt darzustellen ist Hens' Absicht, mit den geschäftssüchtigen und oberflächlichen Amerikanern auf der einen Seite, voll zynischer Anspielungen auf “Ruhestandsresidenzen mit treppenfreiem Haus am achtzehnten Loch" im Wohlstand der Clinton-Ära, und der poetischen Helene mit ihrer festen sanften Stimme auf der anderen Seite, deren erzählte Bilder er immer “an sich vorüberziehen" lassen möchte.

Doch was zunächst wie eine abgeklapperte Dreiecksgeschichte aussieht ist plötzlich nicht mehr vorhersehbar, denn Ferry ist bald nur noch an Helenes Geschichten interessiert. So wie Ferry geschichtensüchtig ist, ist Helene erzählsüchtig - eine Verbeugung vor der Macht der Literatur, der beide frönen. In einem Aufsatz aus dem Jahre 2000 zu Bernhards Erzählung "Ja" mit dem Titel “Poetologie einer Dreiecksbeziehung" (in der Germanistenzeitschrift Colloquia Germanica) hat Hens die Welt seines Romans bereits vorweggenommen. Bernhards Erzählung verarbeitet seine Beziehung zu Ingeborg Bachmann, die von Hens als von zwei Männern umworben beschrieben wird, dem philosophisch-literarischen Bernhard und dem sinnlich-erotischen Architekten Max Frisch. Diese Beziehung verwandelt sich bei Hens in eine traumhaft verschobene neue Konstellation - wo bei Bernhard zwei Männer um eine Frau werben, beschreibt Hens zwei um einen Mann konkurrierende Frauen. Auch die Trennung in zwei Kulturkreise ist bei Bernhard schon vorgegeben, dem Amerika verfallenen Frisch aus der Erzählung “Montauk" und dem esoterisch abgehobenen Bernhard, der sich für die südeuropäische Leichtigkeit des Lebens begeistert.

Wie Bernhards "Ja" ist Himmelssturz ein Architekturbuch. So wie Skye und Ferry sich vergeblich bemühen, ihre Ehe durch den Hausbau zu retten, so konzentriert sich der Campus von Ferrys Kauffmann University auf eine preisgekrönte Bibliothek über einem Wasserfall, “ein Gebäude wie ein UFO", das einen Einstieg gelassen hatte “für die Menschenkinder", als gäbe es auch für die Universität nur noch einen Fluchtversuch in die Utopie der Architektur. Vor dieser futuristischen Bibliothek findet die entscheidende Bewegung zwischen Ferry und Helene statt. Hier vor diesem an Frank Lloyd Wrights Falling Water erinnernden Gebäude öffnet sich Helene und berichtet Ferry ihre faszinierendste Geschichte, der Operation zur Korrektur ihrer verkrümmten Wirbelsäule mit einer implantierten Eisenstange, an der sie fast gestorben wäre. Doch trotz ihrer phantastischen Erlebnisse kann auch sie keinen Ausweg aus Ferrys Misere zeigen. So bleibt die Wahlverwandtschaft letztlich unbefriedigend - Ferry gibt zu, dass er, der es gewohnt war, den Plan eines auszulegenden Textes “mit einer Sicherheit und Überzeugung zu präsentieren, als wäre es mein eigener, als hätte ich alle möglichen Sinnbezüge selbst erfunden", am Entschlüsseln seines eigenen Lebens scheitern muss. In Bernhard Aufsatz hatte Hens noch geschrieben, dass "Ja" einen geordneten Text angeboten hatte, “ein künstlerisches Universum, in dem die Unordnung der Welt in die Ordnung des Diskurses überführt ist." Doch Himmelssturz kann keine Bedeutung mehr geben, die sich aufspüren ließe.

In einem verkehrten “Deus ex Machina" Schluss kommt Skye bei einem Flugzeugabsturz ums Leben - sie fällt buchstäblich vom Himmel in einem “Himmelssturz". Ferrys Trauer und Unbegreiflichkeit über seine fehlgeschlagene Beziehung wird im Schlussbild des Romans noch einmal deutlich, als er einen letzten Blick auf das vollendete doch nie bezogene Haus wirft: “Dort unten haben wir gestanden, dachte ich, und haben hinaufgeschaut, außer Atem, beinahe schien es, als könnte man dort am Waldrand noch die Umrisse erkennen von zwei Menschen. Es hatte uns eine Zeit lang etwas verbunden, dachte ich, aneinander gelehnt hatten wir hinaufgeschaut, den Hügel hinab, auf dem die Baufahrzeuge standen." Doch die Umrisse existieren nur noch in seiner Vorstellung und werden vergehen. Ferry gibt das Experiment Amerika auf und übersiedelt nach Portugal, einem Land mit einer alten europäischen Kultur, von der auch Bernhard schon fasziniert war. Das Haus jedoch wird als Sitz des Collegepräsidenten in die expandierende Campuslandschaft integriert.

Reinhard Zachau
University of the South