rezensionen


Andreas Münzner, Die Höhe der Alpen. Roman. Reinbek (Rowohlt) 2002. 232 S.


Andreas Münzner, Jahrgang 1967, erzählt in seinem Romandebüt vom Aufwachsen eines Jungen in einem kleinen Ort in der Schweiz. Wir erfahren aus seiner Perspektive von Eltern und dem jüngeren Bruder. Fast übergenau schildert der Junge die Requisiten seiner Umgebung. Da gibt es die „Eigentumswohnungssiedlung“ und in dem Elternhaus das „Wohnesszimmer“, den hellen, empfindlichen Spannteppich und all die Einrichtungsgegenstände, die bereits einen kleinen Defekt haben und gerade deshalb gepflegt werden müssen. Es geht um Tagträume, erste Begegnungen mit Mädchen und Positionierungsversuche in der Welt der erwachsenen Männer.

Wie bei einem Puzzle setzt sich aus Episoden das Familienbild zusammen. Der Vater stammt aus Deutschland. Er arbeitet als Angestellter für eine amerikanische Firma. Mit seiner Frau und den Kindern verbrachte er einige Zeit in den USA. Übrig davon ist zunächst das Fitneßideal, eine Sportlichkeit, die sich vom Vater auf den Sohn überträgt und mit der sich im Verlauf der Erzählung immer mehr der Eindruck von puritanischer Askese verbindet. Englisch abgefaßte Zettelanweisungen der Eltern bei ihrer Abwesenheit werden zu Indizien auf Zweisprachigkeit, 'offene Türen' als Attribute amerikanischer Firmenkultur sind Bestandteil des Familienlebens.

Die Mutter ist wie ihre beiden Söhne von kleiner Statur, sie bleibt im Hintergrund des Geschehens. Das clownische Verhalten des jüngeren Bruders relativiert und kontrastiert die Sicht des Älteren. Doch ganz klar ist, daß der Vater die Maßstäbe setzt, an denen sich die Familie, besonders aber der ältere Sohn orientiert. Ein sprechendes Beispiel dafür ist der merkwürdige Vergleich, den der Junge anstellt, als er, um die Familienhierarchie zu beschreiben, die üblichen Begrüßung für den Vater mit dem Unterwerfungsritual innerhalb eines Wolfsrudels vergleicht: „In unseren Breiten bietet sich das Küsschengeben an. Das Jungtier muss sich strecken und so die Vorderseite bis zur Gurgel öffnen.“ Ordnung und die einer inneren Logik folgenden Regeln halten alles zusammen, dabei übersteigert die Phantasie des fabulierenden Jungen die Darstellung des Alltäglichen ins Groteske. In diesen Szenen wird das Eigene der Darstellung greifbar. Träumereien und das Abschweifen vom Bericht des Geschehens in Phantasiewelten vermitteln dicht zwischen innerer und äußerer Wahrnehmung. Skrupel, Spinnereien, Aufbegehren und Witz des Jungen sind ebenso real wie die Organisation der Familie. Illustriert wird dieses Zusammenspiel durch eine der eindrücklichsten Szenen des Buches, die überaus peinliche Untersuchung, wer für die Urinspritzer auf dem Toilettenrand verantwortlich ist, samt der anschließenden Bestrafung des vermeintlichen Übeltäters.

Trotzdem, die Welt des Romans ist nicht unglücklich. Aber sie ist pedantisch reglementiert, was auch der Dialog unterstreicht, in dem der Vater seine Söhne fragt, wie hoch in den Bergen ihr Ferienort liegt. Weil sie es nicht wissen, doziert er über die Höhe der Alpen. Ein trotziger Wunsch äußert sich in der Reaktion seiner Söhne „Oder vielleicht kommen ja auch die richtigen Alpen mal ein bisschen herunter, die nehmen es bestimmt nicht so genau.“ Die Erwachsenenwelt mit ihren Erziehungsvorstellungen bricht sich an der Regelinterpretation des Heranwachsenden. Normen bekommen ihre Begründung angedichtet: „Wir legen immer die Hände offen auf den Tisch. Beide Hände. [...] die Hände gehören ja auch auf den Tisch, denn früher dachte man sonst, da wolle ihn jemand umstoßen, oder sonst etwas Unheimliches.“ Auch sprachliche Merkmale trennen die Sphären. Die schweizerischen Ausdrücke der Jungen klingen, wenn der Vater sie benutzt, „komisch“. Wenn Vater und Söhne miteinander scherzen, entwickelt sich der Spaß dadurch, daß sie amerikanisch sprechen. Diese zahlreichen, in kurze, vordergründig deskriptive Sätze eingestreuten Details bedingen den ironischen, zum Teil sarkastischen Effekt des Textes.

Zu einer unvermittelten Verschiebung der zeitlichen und inhaltlichen Erzählstruktur führt der Bericht vom Ferienbesuch bei den Großeltern in Deutschland. Die Großeltern, aus der DDR in den Westen gekommen, trauern der Heimat 'im Osten' nach. Man überißt sich mit Kuchen in einer mit Nippes überladenen Mietswohnung während ein Disput über Nazideutschland die Stimmung verdirbt. „Das kann man doch jetzt überall nachlesen, was der Hitler verbrochen hat, sagt mein Vater [...]. Die Großmutti sagt mehrmals das Wörtchen gewiss [...]. Dann höre ich immer wieder Vollbeschäftigung, Vollbeschäftigung.“ Eingestreute Kommentare – „Erst viel später erfahre ich ...“ – schaffen hier die Erzählperspektive des Erwachsenen. Geschieht das aus Mitleid mit der Figur des Vaters (nach dem Schema: sein Wesen ist auf seine Herkunft zurückzuführen) oder wird nun doch die grundsätzliche Milieustudie das Thema des Romans? Das Motiv für den Wechsel bleibt, zum Guten für das Buch, schwebend. Andreas Münzner ist ein mit Souveränität und kritischer Beobachtungsgabe für das Alltägliche erzählter Roman gelungen. Alles führt zu einem erträglich guten, ein wenig absurd normalen Ende. Das Leben geht weiter, der Junge fängt an zu wachsen.

Claudia Biester
München