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"Wer bin ich?" - Notizen zum dichterischen Selbstverständnis im jüngsten Schaffen Volker Brauns
Christine Cosentino

Das selbstquälerische "Wer bin ich?" - ob als direkte Selbstbefragung oder im Mund seiner poetischen Figuren - taucht in Variationen häufig in den Werken des Dichters Volker Braun auf. Man hörte diesen Satz zu DDR-Zeiten, als die Illusionen schwanden, dann geradezu verzweifelt und bitter im frisch vereinigten Deutschland und nachdrücklich-bohrend wieder in der letzten Zeit im Umfeld des neuen Jahrhunderts. Das Jahr 2000 ist in der Tat im privat-öffentlichen Wirkungsbereich des Dichters von erheblichem Interesse, denn Volker Braun erhielt den Büchner-Preis. Diese Auszeichnung verpflichtet, denn sie fordert, will man es genau nehmen, Belege für Arbeit an Themen, die der revolutionäre Aktivist Büchner im 19. Jahrhundert vorgab. Man kann es genau nehmen, denn wie kaum ein anderer Dichterkollege konnte Braun beweisen, daß die revolutionären Texte Büchners auch in auswegslosester Zeit unentbehrlich für sein eigenes Schreiben und Wirken sind und waren.

Die Selbstortung des Dichters nach Zusammenbruch der DDR und des kommunistischen Lagers glich einem Selbstentwurf des Scheiterns, der in typischer Braunscher Manier allerdings durchaus ins dialektische Gegenteil gewendet werden konnte. Der Dichter hatte - was auch dem ihm gewogensten Leser nicht immer verständlich war - den Kommunismus ungemein ernst genommen und litt am Verkrusten und Verkargen des humanistisch geglaubten Plans innerhalb der realsozialistischen Parteibürokratie. In der DDR war er, so resümiert Manfred Jäger, "der Pessimist unter den Optimisten, der Unermüdliche unter den Skeptikern, der ewig Zweifelnde."1 Entsprechend klangen dann auch seine Tonlagen, denen man Begeisterung, aber auch Unmut entnehmen konnte. Im Geschichtsverlauf der DDR gestaltete sich das dichterische Selbstverständnis eines im kollektiven Wir verankerten Ich als immer schwieriger. Noch ungebrochene Hoffnung zeigt sich in der plakativen Kraftrhetorik der frühen Gründerzeit, etwa im Gedicht "Jazz" (1965): "bewegliche Einheit -/ Jeder spielt sein Bestes aus zum gemeinsamen Thema./Das ist die Musik der Zukunft: jeder ist ein Schöpfer!/ Du hast das Recht, du zu sein, und ich bin ich ..."2 In diesem als verpersönlichte Öffentlichkeit empfundenen Prozeßhaften sah sich Braun, so äußerte er sich in einem "Interview" (1972) mit Silvia Schlenstedt, als "öffentliche Figur", "Marktschreier", "Kommentator" oder "Referent".3 Mit deutlich heruntergeschraubter Lautstärke ließ sich seine Vermittlerstimme in der reflektiven Traktatlyrik der siebziger Jahre hören, die bereits von Verwirrung und starken Irritationen gezeichnet ist: "Das kann nicht alles sein .../ Was können wir weiter tun?/ Was erwarte ich noch von mir?"4 Die geschmeidige Dialektik von Individual- und Gesellschaftsverfassung mündete dann in den achtziger Jahren in sperrig-spröde Materialtexte und immer wieder neue Selbstbefragungen: "Aber Marx wußte was er sagte, was weiß ich?/ ... / Die große/ Gewißheit der Klassiker und die langen/ Gesichter der Nachwelt. Wohin soll ich denken?"5 Restloyalitäten der DDR gegenüber kündigte der Dichter jedoch nicht auf. Nach wie vor blieb das Gedicht für Braun "operativ" in der realsozialistischen Pyramide, ein "Prozeß, der nach vorn offen ist: und auch offen als Auslug und Schießscharte (meine Kursivierung)."6 Diese frühen Formulierungen aus dem Jahre 1966 über "Sehen" und "Kämpfen" sind wegweisend. Es überrascht nicht, daß Braun im Versuch, die utopische Formel in der DDR wieder neu zu beleben, in den achtziger Jahren rote Wahlverwandtschaften zu dem "Seher"- Dichter Arthur Rimbaud entdeckte, dessen ästhetische Ideen er in dem Essay "Rimbaud. Ein Psalm der Aktualität" (1984) für marxistische Zwecke radikalisierte und aktivierte. Bis zum heutigen Tag geistern die Ideen Rimbauds in Form von Versatzstücken durch Brauns Lyrik, kreisen um die Frage "Wer bin ich?".

Die Lebensläufe des Marxisten Braun und des Vorläufers des französischen Symbolismus Rimbaud könnten auf oberflächlichem Blick nicht polarisierter sein, und doch läßt sich bei beiden eine Grundhaltung der Unruhe ablesen: vom hartnäckigen Suchen über provokatives Sprengen zum visionären Sehen. Braun zieht und zog auf dem Hintergrund der Biographie dieses französischen enfant terrible Bilanzen über das eigene Dichtersein. Ganze drei Jahre, vom 17. bis 19. Lebensjahr, dichtete der 1854 geborene Rimbaud und schuf unter Drogeneinfluß eine neue, alle Traditionen sprengende metapherngetragene Gegensprache. Einen Moment lang glaubte er die Formel für ein menschenwürdiges Leben in der Pariser Kommune gefunden zu haben. In Briefen an seinen Lehrer Izambard und seinen Freund Demeny entwickelte er sein poetisches Programm, das ihn selbst "durch Entgrenzung aller Sinne"7 zum Seher des Unsichtbaren macht, der im Unbekannten ankommt. Indem er "das Ungewöhnliche zum Gewöhnlichen macht, wird er ein multiplicateur de progres. Die Dichtung wird die Tat nicht mehr rhythmisieren, besingen, sie wird ihr vorauseilen."8 Mit "sehenden" Metaphern entwarf Rimbaud in seinen Gedichten und in seinen zwei größeren Werken, den "Erleuchtungen" ("Illuminations") und "Eine Zeit in der Hölle" ("Une saison en enfer") "erleuchtende" utopische Visionen. Braun "sah" darin Ansätze engagiert-operativer Dichtung, die gesellschaftliche Veränderungen anstrebt. Als Rimbaud jedoch sah, daß Drogen und hoffnungsloses Träumen, ja Halluzinationen die Zündkraft seiner Poesie waren, gab er sie auf, drehte Europa den Rücken und arbeitete im innersten Afrika für Exportfirmen, eine Kolonialarmee, wurde Waffenhändler, vielleicht sogar Sklavenhändler. Ist "[n]ach dem Massaker der Illusionen"9 nach 1989 Brauns fortdauernde Auseinandersetzung mit Rimbaud ein Akt hartnäckiger Selbstermunterung bzw. Herausforderung?

Brauns nach 1989 veröffentlichte Texte waren zunächst verbitterte Eingeständnisse intellektueller Verfehlungen, Ausbrüche von Ressentiments und trotziger Sperrigkeit den neuen gesellschaftlichen Verhältnissen gegenüber. Wohl kaum ein anderer Autor aus der ehemaligen DDR - seien es Heiner Müller, Christoph Hein, Christa Wolf oder Helga Königsdorf - hat die aus der Auflösung des Staates entstehenden Verwundungen und Irritationen so intensiv und schonungslos dargestellt wie Braun. Der Gedichtband Tumulus aus dem Jahre 1999 summiert sehr widersprüchliche Selbsteinschätzungen des lyrischen Sprechers, in denen sich ein Gefühl von Ortlosigkeit, Stolz, aber auch ein Wahrnehmen kapitalistischer Vorzüge bricht: "Ein Verrückter/ Aus der Vorzeit, die die Hoffnung kannte" (T 14), ein "Gast", entlassen aus dem "Zimmer der Utopien ... in den Unsinn" (T 20), ein "Nomade im 4-Sterne-Hotel .../ Der Wegwerfmensch" (T 24), ein "treuer Verräter" (T 22). Bei aller Selbstanklage wurde jedoch in den folgenden zehn Jahren im vereinigten Deutschland deutlich, daß der Dichter, während ringsum die ideologische Welt zu Bruch ging, eigensinnig auf die Kontinuität seines Dichtens pochte. Auf den Tonlagen von Zweifel, Selbstbelächelung und eigensinnigem Beharren schien er die fundamentale Richtigkeit des sozialistischen Weges und den operativen Gestus des Gedichtes nicht in Frage stellen zu wollen, wohl wissend, daß seine "Ansichten aus einem rostigen Zeitalter WAS TUN"10 anachronistisch und unverständlich wirken mußten. Letztere Formulierung entstand im Nachhinein des Terrorismusanschlags in den USA am 11. September 2001 und findet sich in dem Gedicht "Shakespeare-Shuttle". Jedoch bereits im Jahre 1990 hatte Braun sich in dem im Neuen Deutschland veröffentlichten Gedicht "Das Eigentum"11 an den nicht realisierten sozialistischen Verheißungen wundgerieben, die nun aufgehoben schienen in einem Idiom, das niemand mehr verstand: "Und unverständlich wird mein ganzer Text." Bei allem dialektischen "einerseits" und "andererseits" ließen dann die Gedichte des Bandes Tumulus von 1990 - "Totenlieder eines 'ortlosen' Dichters"12 - erkennen, daß im poetischen Selbstverständnis Brauns Nichthandeln und Ruhe dem Tod gleichgesetzt sind. In dem Prosatext "Die Bucht der Hingeschiedenen" zählt sich der lyrische Sprecher, dessen Verbrechen es war, eine hinweggeschwemmte Welt verändern zu wollen, ausdrücklich zu "den Verlorenen, nicht Entmutigten" (T 30). Der Utopist im Wettlauf mit dem illusionslosen Skeptiker, getrennt und unvereinbar!

Braun formuliert diesen Gedanken in dem Gedicht "6.5.1996" im Porträt seiner sterbenden Mutter, die einen Moment im Krankenhaus den Mut verlor, aufhörte zu handeln/kämpfen, mit Medikamenten ruhiggestellt wurde und starb. In einer Mischung von Selbstbespöttelung und Ernst verbindet der Sohn die eigene dichterische Identitätsprüfung mit dem Tod der Mutter: "künstlich ernährt / Von meinem Zeitalter." Er fragt sich: "Wann wird der Dichter/ Geboren?" und zieht die Bilanz: "NACH JAHREN DER NIEDERLAGE/ UND GROSSEM UNGLÜCK WENN DIE KNECHTE AUFATMEN/ UND DIE BILDER ERWACHEN VOR DEM UNGEHEUREN/ ANBLICK." (T 27)

Dieses mit aktivistischem Gestus vorgetragene Idiom wirkt weltfremd. Braun weiß es, kontert aber lakonisch: "Statische Künstler/ Sie halten sich unter jeder Regierung" (T 25). Den eigenen Dauerstatus kämpferischer Ortlosigkeit und Illusionslosigkeit erwähnt er nur nebenbei: "Warum soll ich Mode werden/ In der Wegwerfgesellschaft. (T 41)

Der Band Tumulus enthält mit dem Gedicht "Das Magma in der Brust des Tuareg" (T 24) auch wieder eine explizite Rückbeziehung auf Rimbaud. Letzterer hatte - folgt man der Interpretation Brauns - das Schreiben aufgegeben, als die gesellschaftlichen Prämissen zusammenbrachen. Braun erkennt sich ebenfalls als Teil eines geschichtlichen Abbruchs. Läßt das nun - wie die Rimbaud-Folie suggeriert - einen "Identitätstausch" erwarten?:

Mit dem deutschen Paß am Agadir Aerport
In der Wintersonne: ein Identitätstausch
Sklaven belauern mich, und Diebe
Streichen um meinen Fuß, wer bin ich
Ein Nomade im 4-Sterne-Hotel, Zimmer mit Meerblick
Ich kann mir die Jahreszeit aussuchen
FREIZEIT EINE EPIDEMIE noch in der Montur
Des Touristen ein Arbeitsloser lungernd
In den last-minute-Ländern LEBENSLÄNGLICH
Der Wegwerfmensch, nur COCA COLA braucht mich
Die Teetrinker Marrakeschs sind noch zu bekehren
Zu den globalen Göttern, und ich
Nicht mehr getrieben, den Ort zu finden und die Formel
Zugehörig allen unnützen Völkern.
( meine Unterstreichungen, T 24)

Und doch weiterschreibend, trotz allem, sollte man folgern, das Gedicht fortsetzend. Auch in dem erst kürzlich in der FAZ erschienenen Text "Shakespeare-Shuttle" ( 3.11. 2001), der einen Flug über den Atlantik zum poetischen Ausgangspunkt hat, geht es u.a. um eine Auseinandersetzung mit Rimbaud, denn gestaltet wird eine

Reise ohne Bestimmung Bateau ivre von seinen Treidlern verlassen
Die Metapher säuft Leben DIE LYRIK SPÜLICHT
Rimbaud ein abgedankter König
NOW MARK ME HOW I WILL UNDO MYSELF
Mein Herr es reicht, lesen Sie jetzt Ihre Verbrechen vor
Ich seh sie in den Augen Salz, aber euch Verräter
Seh ich auch Selber ich ein Verräter
Der seine Handschrift hinwirft unlesbar
MYLORD DISPATCH READ O'ER THESE ARTICLES
.

Mit zweideutigen Bildern schreibt Braun in vertrackter luzid-einleuchtender oder/aber erleuchtender Dialektik noch immer, "sieht" um das Jahr 2000 ein morsches gesellschaftliches Abbruchgelände und stellt es dar. Er hinterfragt mit sezierend-sehender Metapher den Zustand unserer Welt, an dessen Unabänderlichkeit er sich keineswegs gewöhnen mag. "Die Metapher säuft Leben DIE LYRIK SPÜLICHT", heißt es doppelsinnig. Im geschichtlichen Schmutz und in den Abwässern des ausgehenden Jahrhunderts noch das Licht der Hoffnung zu finden: darin könnten mögliche Ansatzpunkte für die Kämpfe des nächsten Jahrhunderts im Denken Volker Brauns sein.13

Geschichtlichen Schmutz und Abwässer in der globalen Welt präsentiert Braun auf der Folie der gesellschaftlichen Identitätsbefragung im Jahre 2000, als er den Büchner-Preis erhielt. Er veröffentlichte ein schmales Prosabändchen mit dem vielsagenden Titel Das Wirklichgewollte14, in dem er das "Wer bin ich?" leicht gewandelt und in narrativ gebrochener Figurenperspektive fast leitmotivartig neustellt: "Was wollen sie/ Sie?" oder "Was willst du? Was will er?" Der Band versammelt drei sehr kurze Erzählungen mit ebenfalls beredten Titeln, ein nochmals wiederholtes "Das Wirklichgewollte", dann "So stehn die Dinge" und "Was kommt?" Die Schauplätze sind die Toskana, Sibirien und Rio de Janeiro mit einem Blick auf das komfortable Leben Gutsituierter, das mit dem Armutsmilieu räuberischer und mörderischer Asozialer kollidiert. Diese Ärmsten der Armen - in der Kritik als "die neuen Weltbürger"15 oder der "fremde neue Mensch ... unzivilisiert auftretende junge Bestien"16 bezeichnet - geistern durch Brauns drei Prosaminiaturen als "Ganoven", "Banditen", "Ungeheuer", kurz: "die Antipoden aus dem Schrankenlosen" (W 27). Das "Wirklichgewollte" manifestiert sich für den gesellschaftlich engagierten Dichter Braun als globale Frage, die im Angesicht des neuen gewalttätigen, auf das blanke Überleben orientierten "Unmenschen" mit keiner Ideologie mehr beantwortet werden kann. Die Geschichten brechen abrupt ab; in den "gleichsam ins Leere starrenden Geschichtenenden"17 zeigt sich die für Braun typische Faszination mit den "offenen Enden der Geschichte", die nach wie vor Hauptthema seines Schaffens ist.

Die Frage "Wer bin ich?" bzw. "Was willst du?" stellt der desillusionierte, "wohl letzte literarische Utopist"18 in einem sich wiederholenden Dialog zwischen ehemals ideologiegläubigen, sich unnütz fühlenden linken Intellektuellen und den jungen mörderischen Asozialen, deren Tun vom Gesetz der Not diktiert ist. "Was willst du?" ist eine von beiden Seiten geäußerte Frage des Unverständnisses in chaotischen Zeiten, die Aufforderung und Ablehnung, Angst und Erwartung, Verständnislosigkeit und Hoffnungen bündelt. Das Denken der drei Hauptfiguren der jeweiligen Erzählungen - der Herren Giorgio Badini, Sachar Baschkin und Borges, deren Namen alle mit dem Buchstaben "B" beginnen - kreist um einen entwerteten Themenkomplex politischen Engagements, den Baschkin in einer Konfrontation mit seinem obdachlosen Neffen (vielleicht auch in einer Art Selbstgespräch) folgendermaßen thematisiert: "Sachar Dmitritsch - was willst du. ... Etwas Sinnvolles tun ... wir lebten für was ... Idiot," (W 37-38) schallt es ihm entgegen. Der Zusammenstoß der alten Genossen mit den jungen kriminellen Gewaltmenschen, deren Namensähnlichkeit (Gjergj, Sergej, Jorge) auf gewisse Affinitäten zu den Ausgemusterten, Überflüssigen verweist, beläßt ein Klären der Fronten abrupt in einer Schwebe von "Wirklichgewolltem" und "Nichtgewolltem", deutet auf emotionales, an die linke Vergangenheit erinnerndes Potential und soziale Konflikte, die den Aktivisten Braun faszinieren.

Worum geht es in den drei knappen Erzählungen? Chaos tritt ein, als sich der pensionierte italienische Professor Badini, der sich dem Studium der Revolutionen gewidmet hatte, plötzlich zwei jungen albanischen Flüchtlingen gegenüber sieht, deren Motiv der Hunger ist. Die vitale Kraft und kriminelle Energie der Jungen ruft Abscheu in dem Alten hervor, aber auch "rohe Freude" (W 16), Gier nach Leben und Erleben, unterdrückte Alterssinnlichkeit. Am Schluß der Geschichte sehen Badini und Frau den jungen Verbrechern in typisch Braunscher Brechung "mit Erleichterung und ... Entsetzen" (W 24) entgegen. Ganz ähnlich sieht sich, weit weg von der Toskana, im entfernten Sibirien der abgemusterte, jetzt ideologie- und nutzlose Ingenieur Baschkin einem jungen Rowdy, seinem arbeits- und obdachlosen Neffen Sergej ausgeliefert. Er hebt in einer Art Gerichtsszene die Waffe, aber es bleibt offen, was er tun wird. Und ebenfalls in diesem Sinne nimmt der immer noch vitale und wohlhabende Architekt Borges aus der Stadt Rio den bettelnden Straßenjungen Jorge zu sich ins Haus, den er in einer Art Politunterricht mit "roher Freude" (W 54) von der Idee zu überzeugen versucht, daß im revolutionären Kontext aktives Stehlen letztlich besser als passives Betteln sei. "Seltsam ermutigt zugleich todmatt" (W 55) sieht er am Schluß der Erzählung, wie der junge Verbrecher, der sich davongemacht hat, nachts mit Kumpanen in seine Wohnung eindringt. Die politische, aber auch existentielle Gretchenfrage "Was will er/ was willst du?" stößt auf beiderseitiges Unverständnis. "Ganoven, Genossen" (W 55), sinniert Borges. Der Ganove hat in der Tat den Genossen ersetzt. Die drei Geschichten offenbaren deutlich ein Gemisch von Entsetzen und wachsamer Sensibilität der desillusionierten alten Genossen dem neuen kriminellen Element gegenüber, ein unentwirrbares Knäuel widerstreitender Sehnsüchte und gelebter Enttäuschungen, nicht zuletzt Reminiszenzen an einst liebgewonnene, verworfene, aber immer noch erinnerte Momente revolutionären Potentials:

Und die Sache, wie sie steht, aus bloßer Not, ohne Losungen
zu lügen, elementar, zum Aufruhr ruft ... und was sich sicher
wähnt, hat den Keim der Auflösung in sich, die Empörung. Eine rohe
Freue durchfuhr ihn.
(W 54)

Die Identitätsfrage "Wer bin ich?" oder "Was willst du?" führt in einen Bereich von Ratlosigkeit und völliger Offenheit. Und doch möchte man einem Kritiker zustimmen, der folgendes Fazit zieht: "Es ist nicht aller Utopien Abend. Sie am Leben zu halten, ist Aufgabe des Lesers."19 "Das Eigentliche" und das "Wirklichgewollte" - folgt man den Fallstudien der drei Prosatexte - sind das Nichtgewollte. Braun beläßt es bei luziden Beschreibungen und Befunden, die gegen die Verhältnisse angehen und auf den Grund der Dinge gehen. Die Frage nach der dichterischen Identität "Wer bin ich?" schöpft nach wie vor aus dem Kämpferischen, rührt an und auf. Hartnäckig sucht der Realist Braun in der Hoffnungslosigkeit nach dem dialektischen Dennoch. Im essayistischen Gewand faßte es Braun in seiner Rede zur Verleihung des Georg Büchner-Preises 2000 in einer Form, die sich auf der Charakterfolie seiner drei Protagonisten wie eine Selbsteinschätzung liest:

Was ist das lähmende Bewußtsein, daß alles ins Nichts läuft, gegen
die Kraft der Sinne, die Lust, das Entsetzen ... Ich wuchs in Trümmern
auf, und unter Brüdern, ich trank die Milch einer Witwe. Ich schmeckte Gerechtigkeit, ich atmete Despotie. Mein Widerstand wohnt im Gewebe,
mein Gram, mein Verlangen. Es ist bei mir weit hinein böse.
20

Seine Protagonisten sind zwar aus der Bahn geworfen oder, wie eine für Braun typische "sehende Metapher" offenbart: "sind auf der Strecke" (W 38) geblieben. Aber - so wendet der Kritiker Reinhard Baumgart das zweideutige Bild dialektisch - "Sie sind eben auch auf der Strecke, immer noch."21


Endnoten

1 Manfred Jäger, "Vollendung im Fragment: Volker Braun," Sinn und Form 49.4 (1997): 608.
2 Volker Braun, "Jazz," Provokation für mich (Halle (Saale): Mitteldeutscher Verlag, 1965) 18.
3 Braun, "Interview," Braun: Es genügt nicht die einfache Wahrheit. Notate (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1976) 120-121.
4 Braun, "Allgemeine Erwartung," Gegen die symmetrische Welt (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1974) 55-56.
5 Braun, "Rechtfertigung des Philosophen," Training des aufrechten Gangs (Halle-Leipzig: Mitteldeutscher Verlag, 1981) 36.
6 Braun, "Eine große Zeit für Kunst?" Es genügt nicht die einfache Wahrheit. Notate, 22
7 Braun, "Rimbaud. Ein Psalm der Aktualität," Sinn und Form 37.5 (1985): 984.
8 Braun, "Rimbaud. Ein Psalm der Aktualität," 985.
9 Braun, "Nach dem Massaker der Illusionen," Tumulus (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1999) 28. Zitate aus diesem Gedichtband sind im Text der Arbeit mit der Sigle T und Seitenzahlen angegeben.
10 Braun, "Shakespeare-Shuttle," FAZ 3. November 2001.
11 Braun, "Das Eigentum," Neues Deutschland 4./5. August 1990.
12 Siehe dazu: Christine Cosentino, "Volker Brauns Gedichtband 'Tumulus': utopische Totenlieder eines 'ortlosen' Dichters," Neophilologus 85. 3 (2001): 429-443.
13 . Kai Köhler, "Die Kämpfe einer neuen Epoche. Volker Braun skizziert die globalisierte Welt," Literaturkritk.de (Universität Marburg), Dezember 2000.
14 Braun, Das Wirklichgewollte (Frankfurt/M: Suhrkamp, 2000). Zitate aus diesem Band mit der Sigle "W" im Text enthalten.
15 Uwe Pralle, "Unscharf melancholisch: Volker Brauns Erzählungen 'Das Wirklichgewollte' und eine Art Generationskonflikt," Frankfurter Rundschau 18. Oktober 2000.
16 Agnes Hüfner, "Was kommt? Drei Texte von Volker Braun: 'Das Wirklichgewollte'," Süddeutsche Zeitung 30. September/ I. Oktober 2000.
17 Reinhard Baumgard, "Auf der Strecke. Volker Braun in der globalisierten Welt," Die Zeit 26. Oktober 2000.
18 Lothar Schröder, "Ein letzter Utopist," Rheinische Post 1. April 2000.
19 Sebastian Kiefer, "Volker Braun: Das Wirklichgewollte," Deutsche Bücher 31. 1 ((2001): 49.
20 Braun, "Die Verhältnisse zerbrechen. Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises 2000," Braun Die Verhältnisse zerbrechen (Frankfurt/M.: Sonderdruck edition Suhrkamp, 2000) 25.
21 Reinhard Baumgart, "Auf der Stecke ..."