rezensionen


Judith Hermann, Nichts als Gespenster (Frankfurt/M.: Fischer Verlag, 2003)

In den neunziger Jahren sprach man in der Presse von einer Aufbruchsstimmung bei deutschen Schriftstellern und ihren Verlegern, einer neuen Generation von Autoren. Junge Schriftsteller wie u.a Ingo Schulze, Karen Duwe, Elke Naters, Thomas Lehr oder Judith Hermann erschienen auf der literarischen Bildfläche und erzählten mit neuem Ton. So beeindruckend waren diese neuen Sprechlagen, daß einigen von ihnen, Ingo Schulze und Judith Hermann, der Sprung auf die Bestsellerlisten gelang.

Der Autorin Judith Hermann, die 1998 mit einer Anthologie von Erzählungen, Sommerhaus, später, debütierte, attestierte man sogar auf Anhieb einen neuen Sound, den "Hermann Sound", den "Sound einer neuen Generation". Gemeint war damit die distanziert nüchtern-melancholische Sprache, die Handlungsarmut, der scheinbar enge Blick, der Zufall, die detaillierte Wahrnehmung, der Bedeutungsreichtum im Ungesagten. Das erinnert - ob von der Autorin bestätigt oder nicht - an die Tradition der amerikanischen short story, ein Stilmuster, dessen Kriterien Judith Hermann durchaus gerecht wird. Das erinnert aber auch eine berühmte deutsche Kollegin aus DDR-Zeiten, die Dichterin Sarah Kirsch, deren scheinbar nüchtern-distanzierte, von einer Vielfalt von Bedeutungsschwingungen durchdrungene Tonlagen von Peter Hacks in den siebziger Jahren als "Sarah-Sound" charakterisiert wurden.

Im Jahre 2003, also fünf Jahre nach Erscheinen ihres spektakulären Erstlings, wartet Hermann nun mit einer zweiten Sammlung von Kurzgeschichten, betitelt Nichts als Gespenster, auf, die von der Kritik sehr unterschiedlich besprochen wurde. Was die Tonlage anbetrifft, so unterscheidet sich das neue Werk wenig von Hermanns Erstling. Man glaubt, die Charaktere bereits zu kennen, aber sie befinden sich an anderen Orten und in neuen Situationen. Der Handlungsraum ist allerdings geographisch breiter geworden. In sieben Erzählungen begeben sich die literarischen Figuren in einer Art Suche auf Reisen, die ungeklärte Partnerbeziehungen in den Blickpunkt rücken: nach Prag, Venedig, Karlsbad, Tromsö, Island oder in die Wüste Nevadas in den USA. Es ist aber kein Reisen mit einem Ziel bzw. einer Lösung, eher ein Aufbruch, mit der jeweiligen Geschichte als Locus einer Zwischenstation. Judith Hermann selbst spricht in einer der Erzählungen von einer "Zwischenwelt" (Seite 193) und Nebel, "und wenn der Nebel sich lichtet, dann wird da etwas anderes sein, etwas Fremdes und Neues". Was genau das ist, ob es überhaupt dazu kommt, bleibt zu bestimmen dem Leser überlassen. Nur einmal kommt es zu einer unerwarteten, klar formulierten Antwort. In der Titelgeschichte "Nichts als Gespenster", die nach Nevada führt, begegnet ein Paar, das sich in einer Beziehungskrise befindet, beim nächtlichen Zechen dem trinkfesten Amerikaner Buddy, der vom Glück des Turnschuhkaufens für sein Kind spricht. Die beiden Deutschen, deren Beziehung der Leser bereits auf Abschied und Trennung festgelegt hat, haben am Ende der Erzählung ein Kind miteinander. Hermann analysiert nicht, sie beschreibt ganz sachlich, cool, spröde. Zumeist präsentiert sie in ihren Beziehungsporträts ganz simple Alltagssituationen. Antworten liegen zumeist im Ungesagten.

Die Helden und Heldinnen wirken zumeist verloren und isoliert, voll innerer Leere, die sie irgendwie füllen wollen oder vielleicht auch nicht. Sie sind jung, jedoch müde und orientierungslos, wirken melancholisch, manchmal forciert melancholisch, fast blasiert oder exzentrisch. Man spricht sehr wenig oder aneinander vorbei. Wichtiger ist die Geste: das Schweigen, Starren, Rauchen, Trinken. Hermann präsentiert Beziehungen in ihrer Beziehungslosigkeit und Fremdheit. Alle Figuren befinden sich in einer Art Schwebezustand, der zumeist fortdauert.

Warum kann ein Buch, in dem so wenig geschieht, dermaßen faszinieren? Der Leser - gehört er zu den wohlmeinenden - gerät in eine Art Sog, fühlt sich angezogen von der präzisen Unklarheit des Gesagten oder Ungesagten, einem Stil, den auch Ingo Schulze pflegt und meistert. Das ist es wohl, und das macht die neue Anthologie zum Lesegenuß. Das Buch sei empfohlen.

Christine Cosentino
Rutgers University