interview

"Ich habe mich immer zunächst dafür interessiert, eine gute Story zu finden..." Sophie Boyer und Cheryl Dueck im Gespräch mit Frank Beyer (11. November 2002)

Frank Beyer (geb. 1932), einer der bedeutendsten Regisseure der ehemaligen DDR, hat im Laufe seiner Karriere über dreißig Filme gedreht – die Hälfte davon bei der DEFA. Unter seinen bekanntesten Titeln sind Fünf Patronenhülsen (1959), Spur der Steine (1966), Jakob der Lügner (1974) und Nikolaikirche (1995) zu nennen. Beyers Filmographie zeigt eine eindeutige Vorliebe für konfliktreiche Geschichten aus der Gegenwart bzw. der jüngsten Vergangenheit, die immer im Spannungsfeld zwischen Widerstand und Anpassung stehen und die nicht selten in einem humorvollen Ton – auch in tragischen Situationen – geschildert werden.

Im Herbst 2002 unternahm Frank Beyer eine nordamerikanische Tournee, auf der er in zwei Monaten dreißig Institutionen in fünfundzwanzig verschiedenen Städten besuchte. Seine Tour brachte ihn u.a. von Kalifornien nach der Ostküste Neuenglands und von Denver nach Toronto. Auf dem Weg von Ontario nach Maine, wenige Tage vor seiner Rückkehr nach Berlin, machte er einen dreitägigen Halt an der Bishop's University in Lennoxville, in der kanadischen Provinz Quebec, wo er einem begeisterten Publikum von Studenten, Professoren und Interessenten aus der Umgebung über seine Karriere, sein Leben und seine Filme erzählte. An einem windigen Novembermorgen führten wir ein längeres Gespräch zu dritt.

Unser Dank gilt zuallererst Herrn Beyer für seine Großzügigkeit und schließlich den beiden Organisatoren seiner Tournee, Dr. Armin Wishard vom Colorado College und Hiltrud Schulz von der DEFA Film Library in Amherst, Massachusetts.


SB: Herr Beyer, Sie sind jetzt seit ungefähr zwei Monaten auf Tournee in Nordamerika. Sie haben in mehreren Städten – Los Angeles, Colorado Springs, New York, Toronto – und vor einem unterschiedlichen Publikum Ihre Filme vorgeführt und auch Gespräche mit Professoren, Studenten, Filmkritikern geführt. Wie ist bis jetzt die Rezeption gewesen?

FB: Die Reaktion auf die Filme ist bisher sehr gut gewesen. Nun muß man das nicht verwechseln, wir haben ja keinen großen Verleih hier und diese Veranstaltungen waren auch nicht auf ein Massenpublikum ausgerichtet. An den Colleges und an den Universitäten, an denen ich war, ist es meist ein etwas kleinerer Kreis von Studenten, die sich für diese Filme interessieren. Meist waren an den Colleges auch Abendveranstaltungen damit verbunden, mit denen Dozenten und Studenten versuchen, auch das örtliche kulturelle Leben mitzubestimmen und zu beeinflussen, und da hatten wir dann auch größere Veranstaltungen, wo nicht nur zwanzig oder dreißig Studenten dabei waren, sondern eben auch ein Kinosaal gut gefüllt war. Die Filme, die ich gezeigt habe, das sind vor allem Jakob der Lügner (1974), Spur der Steine (1966), Nikolaikirche (1995), Karbid und Sauerampfer (1963) und Nackt unter Wölfen (1963), also eine Mischung aus älteren und jüngeren Filmen. Von der Thematik her sind dies sehr unterschiedliche Filme, Filme, die sich mit Problemen der Gegenwart beschäftigen und dann auch Filme, die versuchen, wie man so schön sagt, die Vergangenheit aufzuarbeiten.

SB: Gab es Ihrerseits Überraschungen, Reaktionen, die Sie nicht erwartet haben?

FB: Ja, es hat schon ungewöhnliche Reaktionen und auch Fragen gegeben. Ich will nur zwei nennen. Erstens wurde ich gefragt, ob der Film Jakob der Lügner, der ja 1944 in einem Ghetto in Polen spielt, nicht in Wirklichkeit ein Film über die DDR ist. Der Film spielt in einem Ort, der von einer Mauer umgeben ist. Die Bewohner dürfen den Ort nicht verlassen. Es gibt kaum Informationen bzw. keine korrekten Informationen über die Außenwelt. Wenn man sich anstrengt, kann man den Film natürlich als Allegorie verstehen, aber tatsächlich haben wir den Film nicht gemacht, um ein Abbild der DDR zu liefern. Wenn er denn über die eigentliche Geschichte hinaus auch Assoziationen hervorruft, demzufolge das Thema größer ist als der Anlaß und die konkrete Geschichte, so ist dagegen nichts einzuwenden, aber diese Art von Interpretation schien mir doch etwas weit hergeholt zu sein.

Zweitens gab es Kritik eines ehemaligen polnischen Auschwitz-Häftlings, der die Rettung des jüdischen Kindes durch die politischen Häftlinge in Nackt unter Wölfen in Frage stellte. Gab es denn tatsächlich in Buchenwald solche Art von Rettungsaktionen? Er bezweifelte überhaupt, ob es diese Art von Widerstand gegeben hat. Nun ist Buchenwald tatsächlich eine Ausnahme gewesen, es ist nicht zu vergleichen mit Auschwitz. Das waren die beiden ungewöhnlichen Dinge, die besprochen wurden.

SB: Es gab also eine gewisse Neigung, die Filme politisch zu interpretieren. Sehen Sie in diesen Beispielen eine „germanistikgeprägte“ Überinterpretation?

FB: Ich habe überhaupt nichts dagegen, wenn ein Film weitergehende Assoziationen beim Publikum hervorruft und der Film in dieser Beziehung anregend wirkt. Wenn daraus kritische Fragestellungen kommen, habe ich nichts einzuwenden.

SB: Es hat Sie als ehemaliger DDR-Bürger also nicht gestört, daß Jakob der Lügner als Allegorie für die DDR interpretiert wurde?

FB: Wir waren uns natürlich bewußt, Jurek Becker und ich, als wir den Film konzipiert haben, daß wir einen Film machen, den man so interpretieren könnte. Und wir haben alles getan, um diesen vordergründigen Aspekt nicht hervorzuheben. Ich hätte ja zum Beispiel dauernd die Ghettomauer im Bilde zeigen können. Aber das wäre gegen meine innere Überzeugung gegangen und hätte auch nur die Zensur auf den Plan gerufen. Die gab es ja in der DDR und sie hätte sogar die berechtigte Frage gestellt, was wollt ihr denn erzählen, wollt ihr eine Geschichte aus diesem Ghetto erzählen oder wollt ihr eine Geschichte über die DDR erzählen?

SB: Können Sie ein bißchen über die unterschiedlichen Reaktionen des Publikums auf Ihre Filme in der DDR erzählen, vor dem Fall der Mauer und danach? Das ist ein weites Feld, aber …

FB: Das ist deshalb ein weites Feld, weil das DDR-Publikum während der Zeit der DDR stärker interessiert war an Filmen und an Literatur als das Publikum heute im vereinigten Deutschland. Das hängt wiederum mit der Zensur zusammen und der Tatsache, daß Presse-, Rundfunk- und Fernsehberichterstattung weitgehend ihrer eigentlichen Funktion, nämlich kritischer Berichterstattung über das gesellschaftliche Leben, beraubt waren. Und in den Büchern, den Filmen und den Theateraufführungen fand sich oft – mitunter gut versteckt – Kritik am System. Die Kunst, die Literatur, die Filme haben in der DDR eine Ersatzfunktion gehabt. Die Leute sind in die Lesungen gekommen und haben ein ganz feines Gefühl entwickelt, um auch zwischen den Zeilen zu lesen. Und zwischen den Zeilen lesen kann man auch in Filmen, das kann man auch in Theateraufführungen von Klassikern.

Das ist inzwischen nicht mehr so. Das bedauere ich aber nicht. Ich finde es in Ordnung, daß wir jetzt Verhältnisse haben, in denen die Presse ihre Aufgabe kritischer Berichterstattung erfüllen kann. Aber es ist natürlich eine Art Funktionsverlust auch eingetreten. Auf der anderen Seit gibt es eine größere Vielfalt in Kunst und Literatur einschließlich einer Welle Trivialliteratur und Filmkitsch, mit der das Publikum überschwemmt wird.

SB: Die Bedürfnisse des Publikums haben sich also geändert, vor dem Fall und nach dem Fall der Mauer.

FB: Ja. Jedenfalls in dem Teil Deutschlands, der bis 1990 DDR hieß.

CD: Wie hat sich die politische Rezeption von diesen Filmen nach der Wende entwickelt, das heißt, sowohl die Rezeption vom normalen Publikum als auch von den Filmkritikern?

FB: Zunächst einmal wurde zur Kenntnis genommen, daß es Anfang der 60er Jahre bis Ende 1965 eine starke Bewegung für eine Erneuerung des DDR-Films gegeben hatte. Der Film Spur der Steine gehört zu dieser Bewegung. Er war mit einem Dutzend anderer Filme 23 Jahre lang verboten, das war mehr als die Hälfte einer DEFA-Jahresproduktion.[1] Das hat die professionelle Filmkritik gewürdigt nach der Wende 1989. Leider hat die Zensur in der DDR die Fortsetzung dieser Erneuerungsbewegung der Filmkunst verhindert. Spur der Steine war 1989/90 auch ein großer Publikumserfolg in ganz Deutschland.

SB: Meine nächste Frage: Wie haben Sie als Künstler, als Filmregisseur den Fall der Mauer erlebt und – Sie lächeln! – wie hat dieses Ereignis auf Ihren Beruf gewirkt?

FB: Ich habe den Fall der Mauer am 9. November 1989 paradoxerweise in West-Berlin erlebt. Ich hatte in dieser Zeit ein Visum, weil ich einen Film für eine West-Berliner Produktionsgesellschaft vorbereitete, einen zweiteiligen Fernsehfilm mit dem Titel Ende der Unschuld (1991). Es ging in diesem Film um die deutschen Wissenschaftler, die während des Krieges an dem Uranprogramm in Deutschland gearbeitet hatten. Und ich hatte ein Visum, um nach West-Berlin zu fahren, weil ich einen meiner Hauptdarsteller traf, der wiederum an diesem Abend, dem 9. November, eine Veranstaltung hatte. Das ist in der deutschen Geschichte ein sehr spannendes Datum, im Jahr 1938 der Tag, an dem die Synagogen in Brand gesteckt und jüdische Geschäfte demoliert wurden. Dieser Schauspieler, der dann eine Hauptrolle bei mir spielte, Udo Samel, hatte zur Erinnerung an diesen Tag eine nächtliche Veranstaltung abends um dreiundzwanzig Uhr in einem Theater, und ich kam um eins aus dem Theater heraus, stieg in mein Auto und wollte ganz normal nach Ost-Berlin zurückfahren. Das war aber sehr schwierig. Eine Wagenkolonne kam mir aus dem Osten entgegen. Es war ganz unmöglich, den Grenzübergang Friedrichstraße in Richtung Osten zu passieren. Also die Mauer war gefallen, tausende von Kraftfahrzeugen fuhren in Richtung Westen, und ich fuhr als einziger in die Gegenrichtung. Ich erinnere mich noch, ich fuhr weiter zum Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße. Dort waren die Fahrbahnen Richtung Osten zwar offen, aber von hunderten Fußgängern verstopft. Ich fuhr im Schritttempo auf den Grenzübergang zu. Da kam mir eine Frau entgegen, schenkte mir eine Tafel Schokolade. Ich fragte sie: „Wieso schenken Sie mir die Schokolade? Weil ich in den Osten zurückfahre? – Nein, weil wir uns so freuen“, sagte sie. Das war mein ganz persönliches Erlebnis in dieser Nacht.

Beruflich war es kein so großer Einschnitt für mich. Das hängt mit meinen Erlebnissen in der DDR seit 1966 zusammen. Ich hatte mich in den siebziger und achtziger Jahren sehr weit von der offiziellen DDR-Kulturpolitik entfernt. Nach Spur der Steine war 1978 ein weiterer Film von mir aus politischen Gründen verboten worden (Geschlossene Gesellschaft, 1978). Diesem Verbot hatte ich mich heftig widersetzt und im Zusammenhang damit kam es Anfang der achtziger Jahre zu ersten Arbeiten für das Fernsehen in der Bundesrepublik.

SB: Der Einschnitt kam also früher als 1989?

FB: Ja. Ich gehörte nicht zu denen, die 1991 aus dem DEFA-Studio entlassen wurden und damit auch ihre geistige und berufliche Heimat verloren.[2] Ich hatte diese Heimat schon 1966 nach dem Verbot von Spur der Steine verloren, als ich mit einem Arbeitsverbot bestraft wurde und man mich aus dem DEFA-Studio hinauswarf. 1989/90 konnte ich sofort meine Kontakte zu westdeutschen Produktionsfirmen wiederaufnehmen und kontinuierlich weiterarbeiten. Der einzige Unterschied bestand darin, daß ich die Filme, die ich bisher meistens für das Kino gedreht hatte, nun für die großen westdeutschen Fernsehanstalten gemacht habe.

SB: Bevor Sie zum Film kamen, waren Sie im Theater tätig. Welchen Einfluß hat die Welt des Theaters auf das Medium Film für Sie ausgeübt?

FB: Ich war mit neunzehn Jahren Dramaturg und Regieassistent an einem kleinen Provinztheater.[3] Das war aber nur ein Intermezzo von einem Jahr. Ich habe dann an der Filmhochschule in Prag Regie studiert. Und bis 1966 Filme für das Kino gedreht. Natürlich hat das Theater in Deutschland mit seinem großen Schauspielerreservoir immer einen starken Einfluß auf die Filme gehabt. Das war schon in den zwanziger und dreißiger Jahren so. Die großen Charakterschauspieler der Theater waren meist auch bedeutende Filmdarsteller. Die Theaterschulen sind hoch entwickelt in Deutschland, insbesondere die Ost-Berliner Ernst-Busch-Schule hat immer einen großen Ruf in Europa gehabt. Im Film zu spielen, und im Theater zu spielen, das sind ja keine fremden Berufe, das sind nur unterschiedliche Techniken, die der Schauspieler erlernen kann.

CD: Ich spüre in Ihren Werken einen großen Einfluß von Brecht, wie auch in der Arbeit von anderen DDR-Regisseuren. Würden Sie sagen, daß es auch andere Regisseure gab, die Ihre Karriere und Ihre Arbeitsmethode beeinflußt haben?

FB: Während meiner kurzen Zeit am Theater in den fünfziger Jahren habe ich fast alle Stücke gesehen, die Brecht damals in Berlin inszeniert hat. Und tatsächlich hat eine polnische Filmzeitschrift eine Besprechung meines Films Fünf Patronenhülsen (1960) überschrieben: „Film brechtowskie“, also „ein Film in der Art Brechts“.

Wir haben an der Filmhochschule in Prag ein intensives Studium der Filmgeschichte gehabt, und ich erinnere mich daran, daß mich sowohl die französischen als auch die russischen Filme der dreißiger Jahre stark beeindruckt haben. Also Filme von Jean Renoir wie Die große Illusion (1937) oder Hafen im Nebel (1938) von Marcel Carné. Bei den Russen waren es Filme von Michael Romm wie Die Dreizehn (1936) oder Wir aus Kronstadt (1936) von Jefim Dzigan. Und im Kino zu Hause oder in Prag gab es die italienischen Neorealisten von Rossellini bis zu De Sica und De Santis. Das war ja die Blütezeit des italienischen Neorealismus, der sehr stark von den sozialen Konflikten der Gesellschaft geprägt war. Alle diese Filme haben mich interessiert und sicher auch beeinflußt. Auch andere Kollegen im Studio waren sehr beeindruckt von den Italienern.

CD: Das spürt man in den Berlin-Filmen, die bei der DEFA zu dieser Zeit gedreht wurden, u.a. in Berlin – Ecke Schönhauser (1957) von Gerhard Klein.

SB: Ich habe aus dem Film Geschlossene Gesellschaft (1978) nur die Auszüge sehen können, die im Dokumentarfilm über Sie vorkommen, weil dieser Film hier nicht erhältlich ist. Könnte man in Bezug auf diesen Film sagen, daß ein Einfluß von Ingmar Bergman zu spüren ist?

FB: Ja, gewiß. Das ist eine spätere Periode. Ich habe von einem bestimmten Zeitpunkt an eine ganze Reihe von Filmen gemacht, die sich mit den intimen Beziehungen zwischen Mann und Frau – wenn ich das mal so allgemein formulieren darf –beschäftigen, mit Autoren wie Jurek Becker und Klaus Poche. Wir hatten alle unsere Lebenserfahrungen gemacht. Unsere frühen Ehen waren auseinandergegangen, und wir waren geschieden. Ich habe natürlich den Film von Bergman Die Szenen einer Ehe (1973; 1975 in dt. Fassung) gesehen; der war sogar der letzte Anstoß für den ersten Film aus diesem Bereich, Das Versteck (1977). Allerdings hat er eine ganz andere Farbe als der Bergmann-Film; es ist eine Komödie. Die Tonlage in Geschlossene Gesellschaft, der zwei Jahre später enstand – jenem Fernsehfilm, der 1978 verboten wurde –, ist sehr ernst und von daher ist er mit dem Bergmann-Film vielleicht eher verwandt. Ich habe mich noch zweimal mit diesem Thema beschäftigt. In einem Film mit Angelika Domröse in der Hauptrolle: Die zweite Haut (1981), und nach der Wende in einem Film mit Senta Berger, dem zweiteiligen Fernsehfilm Sie und Er (1992).

CD: Sind die Geschlechterbeziehungen und die Geschlechterrollen also ein zunehmend wichtiges Thema für Sie geworden?

FB: Ja und nein. Inzwischen interessiere ich mich wieder stark für den Konflikt des Individuums in seiner Beziehung zur Gesellschaft.

SB: Interessant, daß die Filme über die Geschlechterbeziehungen bei Interviews oder im Dokumentarfilm über Sie nicht so hervorgehoben werden, wie die politischen Themen.

FB: Das mag sein. Das hat auch damit zu tun, daß diese Filme international nicht so bekannt sind wie zum Beispiel Jakob der Lügner oder Spur der Steine.

CD: Würden Sie uns ein wenig über Ihre Arbeitsweise, Ihre Methode erzählen? Was ist für Sie das wichtigste Element, wenn Sie einen Film drehen? Ist es die Erzählung, wie man ahnen würde? Oder vielleicht die Stimmung? Oder der politische Inhalt?

FB: Wie Sie richtig vermuten, habe ich mich bei meinen Filmen nicht in erster Linie für stilistische Fragen interessiert. Ich habe mich immer zunächst dafür interessiert, eine gute story zu finden, weil das der Ausgangspunkt jeder erfolgreichen Arbeit im Spielfilm ist. Wenn man eine gute story hat, ist sie meistens auch irgendwie fundiert in der Gesellschaft, in der sie spielt. Es ist wohl nicht zufällig, daß im Englischen in dem Wort „history“ das Wort „story“ steckt? So wie im Deutschen das Wort „Geschichte“ die Doppelbedeutung von story und history hat. Ich habe immer versucht, ein Gefühl für eine story zu entwickeln, und mich demzufolge eher aus dem Bauch als mit dem Verstand für oder gegen eine story zu entscheiden. Wenn ich ein Gefühl für eine Geschichte hatte, hat mich das selten getäuscht. Sie können natürlich, wenn Sie eine gute story haben, immer noch einen schlechten Film machen. Sie können aber nie aus einer schlechten story einen guten Film machen. Das habe ich ziemlich früh begriffen und deshalb war ich auch immer bestrebt, mit guten Autoren zusammen zu arbeiten, mich nicht zu sehr auf mich selbst zu verlassen. Es gibt ja Doppelbegabungen unter den Filmregisseuren: manche sind gleichzeitig Autoren. Ich habe eher das Gefühl, daß ich eine solche Doppelbegabung nicht habe. Bei meinen Versuchen, Filmgeschichten aufzuschreiben, war mein Anspruch als Regisseur immer größer als das, was ich als Autor leisten konnte. Es ist also nicht zufällig, daß ich mit Autoren wie Jurek Becker, Klaus Poche, Ulrich Plenzdorf, Wolfgang Kohlhaase und anderen zusammen gearbeitet und über viele Jahre immer wieder versucht habe, diese Beziehungen aufrechtzuerhalten.

CD: Ihre Filme haben außerordentlich gute Drehbücher. Was ist dann an zweiter Stelle?

FB: Das fällt mir schwer, jetzt eine Reihenfolge herzustellen. Wenn man ein gutes Drehbuch hat, muß man es auch angemessen besetzen, denn der Schaupieler transportiert die story zum Publikum.

Und die Umsetzung der Geschichte in Filmbilder ist natürlich auch eine entscheidende Sache. In der Zeit der stalinschen Kulturpolitik, also etwa von 1938 bis 1956, war die große Tradition der russischen Bilderzählungen im Film ziemlich heruntergekommen. Und das hatte auch Auswirkungen auf die DEFA-Filmproduktion bis Mitte der fünfziger Jahre. Wir haben uns damals über den sogenannten „Radiofilm“ lustig gemacht: wir haben diese Filme, in denen unaufhörlich geredet und geschwätzt wurde, Radiofilme genannt. Aber in dieser Zeit, in der ich begonnen habe, Filme zu drehen, Ende der fünfziger Jahre, gab es in der Folge des XX. Parteitags der KPdSU eine große Erneuerungsbewegung im russischen Film, und wir haben das sofort aufgegriffen. Die russischen Filme hatten mit bedeutenden stories auch wieder ihre Bildsprache gefunden, die über viele Jahre verschüttet war. Filme wie Die Kraniche ziehen (1957), Das Haus, in dem ich wohne (1957), Ballade vom Soldaten (1959), Ein Menschenschicksal (1959) oder Klarer Himmel (1961) bewiesen das. Ich könnte ein Dutzend von diesen wirklich erstklassigen Filmen aufzählen. Ich habe das begierig aufgegriffen und in langjähriger Zusammenarbeit mit meinem Kameramann und meinem Szenenbildner Methoden entwickelt, um zu einer Bildsprache für die jeweilige story zu kommen. Um noch einmal auf die Frage des Stils zurückzukommen: ob ich einen Stil oder gar meinen Stil gefunden habe, das sollten die Kritiker beurteilen und man wird ja sehen, ob von den Filmen, die ich gemacht habe, irgend einer etwas längere Zeit überlebt.

CD: Da wir schon bei Ihrem Beruf als Künstler sind: Wie sehen Sie heutzutage die Rolle des Künstlers in der Gesellschaft? Ich denke an die Debatte um Christa Wolf und die Literatur der DDR vor einigen Jahren. Im Zusammenhang mit dieser Debatte diskutierte man, was von der DDR-Literatur bleibt, da die Kunst und die Literatur in der DDR eine spezifische Rolle spielten. Die Rolle des Künstlers selbst hat sich seit der Wende geändert. Was hat sich für Sie geändert?

FB: Am Anfang des Gespräches habe ich gesagt, daß eine Funktion, die die Kunst in der DDR hatte, Ersatzpresse, Ersatzradio, Ersatzfernsehen zu sein, verloren gegangen ist. Das ist aber keine Katastrophe, sondern die Kunst kann sich wieder auf die Dinge besinnen, die alle Menschen beschäftigen, nämlich, daß wir alle sterblich sind, die Geschichten über Liebe erzählen, und so weiter.

CD: Sind die Kreativitätsquellen tatsächlich anders geworden? Es ist öfters gefragt worden, ob die schwierigen Bedingungen und sogar die Zensur kreativ machten.

FB: Das halte ich für Unsinn. Und ich sehne mich keineswegs zu DDR-Verhältnissen zurück. Die ständige Überlegung, wird die Zensur dies durchgehen lassen oder wird sie jenes beanstanden, hat weder den Büchern noch den Autoren genutzt. Jurek Becker hat es einmal drastisch formuliert: „Wenn ich das Maul halten soll, dann will ich das Maul lieber auf Hawaii halten als in der DDR.“ Oder er hat es noch anders formuliert: weil die Zensur bei uns gestaffelt war, galt das Prinzip, je massenwirksamer das jeweilige Medium ist, um so genauer hat die Zensur die Projekte zu überwachen. Demzufolge war im Fernsehen die Zensur am schärfsten, weil dort unter Umständen Millionen von Leuten zur gleichen Zeit etwas sahen. Sie war weniger scharf schon beim Film, und noch ein bißchen weniger bei den Romanen. Hier konnte man das auch steuern mit der Höhe der Auflage oder mit der Anzahl der Kopien. Von relativ wenig Leuten wurden Hörspiele im Rundfunk gehört. Dort konnte man relativ freier arbeiten. Wenn Sie sich einmal die Liste der Autoren anschauen, die in der DDR Hörspiele geschrieben haben, dann werden Sie auf eine ganze Menge von erstklassigen Namen stoßen, weil es dort einen relativ großen Freiraum gab. Am wenigsten hat sich die Zensur für die Lyrik interessiert, weil man da wußte, das lesen nur wenige. Becker hat einmal gesagt: „Ich habe angefangen als Fernsehautor, dann habe ich Filmdrehbücher und Romane geschrieben. Wäre ich länger in der DDR geblieben, hätte ich wahrscheinlich als Lyriker geendet.“

SB: Wir würden gern anhand von spezifischen Beispielen, Fragen zur Themenwahl und zu technischen Mitteln stellen. Ich denke an Spur der Steine und Jakob der Lügner. Gibt es einen spezifischen Grund, warum Sie Spur der Steine schwarzweiß gedreht haben?

FB: Es war so, daß die DEFA-Produktion in den fünfziger Jahren langsam auf Farbe umgestellt wurde. Als erstes wurden die Märchenfilme in Farbe gedreht, dann kamen die politisch wichtigen Filme. Ernst Thälmann (1955) zum Beispiel war ein Farbfilm schon Mitte der fünfziger Jahre.

SB: Frauenschicksale (1952) auch?

FB: Frauenschicksale auch. Das Studio hatte eine bestimmte Menge Farbnegativ, die von Jahr zu Jahr größer wurde. Man konnte es sich aussuchen. Ich habe sehr lange an Schwarzweiß festgehalten, ich habe die Farbe lange nicht vermißt. Und als wir 1966 das erste Mal Jakob der Lügner vorbereiteten, hätte ich den Film mit Sicherheit in Schwarzweiß gedreht. Diese Schwarzweiß-Technik liefert ja eine gewisse Stilisierung und man schaut die Filme heute, wenn sie gut gemacht sind, ganz gerne an und vermißt die Farbe überhaupt nicht.

Als ich dann acht Jahre später Jakob der Lügner tatsächlich gedreht habe, entschied ich mich aus inhaltlichen Gründen dafür, ihn in Farbe zu drehen. Es war mein erster Farbfilm übrigens. Das wollte ich, weil ich dachte, daß diese Geschichte nicht mehr darauf aus ist, eine Rekonstruktion des Ghettos zu machen, sondern sie ist eine stilisierte Geschichte. Zumal Becker in seinem inzwischen erschienenen Roman dieser Geschichte bestimmte Aspekte verliehen hatte, die ich unbedingt ins Filmische übersetzen wollte. Zum Beispiel fängt der Roman damit an, daß ein Erzähler davon berichtet, daß die SS alles Grüne aus den Ghettos entfernt hatte, Bäume … Büsche … den Häftlingen ist nicht gestattet, Pflanzen zu pflegen und in ihren Wohnungen und Zimmern zu halten und so weiter.

CD: Der Baum spielt eine wichtige Rolle in der Erzählweise.

FB: Ja, und ich war in der schwierigen Situation, dies alles in Filmbilder zu übersetzen. Selbstverständlich wollte ich keine SS-Kolonne zeigen, die Bäume absägt und Büsche ausreißt. Wenn Beckers Erzähler über die Abwesenheit von Grün im Ghetto berichtet, wie überträgt man das in den Film? Die Zuschauer bemerken vermutlich nicht, daß es kein Grün gibt, wenn Sie nicht Hinweise darauf geben. Deshalb habe ich mich dann entschlossen, solche Zitate zu machen. Zum Beispiel gräbt diese junge Frau, die Rosa, eine Distel aus, die als Unkraut zwischen den Steinen wächst, nimmt sie mit nach Hause und stellt sie sorgfältig in eine Vase. Oder außerhalb des Ghettos gibt es auf einem leuchtend grünen Hügel eine Burg, die dann später eine Rolle spielt in der Märchenerzählung. Man muß also Grün mehrmals zitieren, damit dem Zuschauer auffällt, daß es in der Handlung kein Grün gibt. Das hatte dann die Konsequenz, daß am Schluß des Films die Zugfahrt nach Auschwitz eine Fahrt in die leuchtende Natur ist: ins Grüne der Wälder mit dem blauen Himmel und den weißen Wolken darüber... Aus dem Roman hatten wir die Rückblenden übernommen, in denen sich die Leute immer ein wenig mit Nostalgie an die Vergangenheit erinnern. Vermutlich war der Kartoffelpufferladen, den Jakob besaß, ein bißchen schmutziger, als er in unserem Film gezeigt wird und diese verklärenden Erinnerungen sind von einer etwas kitschigen Buntheit, während die Gegenwartshandlung kaum Farbe hat – alles ist grau, braun, schwarz, schmutzigweiß. Daß es ein Farbfilm ist, sieht man fast nur an den gelben Judensternen auf der Kleidung und den Gesichtern der Leute.

CD: Die Farbe hat also mit der Erzählweise des Films zu tun, und den dunkelfarbigen Anfang des Films finde ich einfach wunderbar.

Die ersten Textzeilen haben einen Verfremdungseffekt, es erscheinen drei Filmtitel: „Die Geschichte von Jakob dem Lügner hat sich niemals so zugetragen. Ganz bestimmt nicht. Vielleicht hat sie sich aber doch so zugetragen.“ Das ist wieder von Brecht beeinflußt?

FB: Nein, vom Stummfilm! Das hat Brecht ja auch aus dem Stummfilm genommen, die Texte, die er auf die Zwischenvorhänge projiziert hat. Es sind bei uns Stummfilmtitel eingeklebt, um den Zuschauer auf die Besonderheit der Geschichte vorzubereiten. Auf das Schwebende dieser Geschichte, nicht?

SB: Ja, es könnte ein bißchen verwirrend auf den Zuschauer wirken, diese Sätze …

FB: Überhaupt nicht, die lachen! Jedesmal, wenn die Zeile kommt: „The tale of Jacob the Liar is not true,“ und dann folgt: „honest,“ da lachen sie alle, nicht?

CD: Die englische Übersetzung von Peter Wilson bei TITELBILD ist übrigens ausgezeichnet.

FB: „Ganz bestimmt nicht,“ heißt das nicht „sure“ oder so? Ich weiß nicht, was heißt „honest“ eigentlich?

CD: „Ganz bestimmt nicht“ heißt auf Englisch „certainly not,“ und „honest“ heißt auf Deutsch „ehrlich.“

FB: Ehrlich! Ja! Das ist das richtige Wort, auch wenn es nicht die exakte Übersetzung ist.

CD: Dieser Anfang stellt die Wahrheit und das Gedächtnis in Frage, und das ist ein großer Unterschied zu der Kassowitz-Verfilmung von Beckers Buch. In diesem Remake gibt es einen Erzähler, wie im Roman, aber dadurch geht im Film viel von der Geschichte verloren, glaube ich. Wenn Jakob die Geschichte als ein wahres Ereignis erzählt, geht die Spannung zwischen Wahrheit und kulturellem Gedächtnis verloren. Würden Sie das kommentieren?

FB: Ich finde den Erzähler im Roman in Ordnung. Es ist übrigens nicht Jakob, der erzählt, es ist ein Überlebender, der aus der Gegenwart über die dreißig Jahre zurückliegenden Ereignisse berichtet.

CD: Im Gegensatz zum Film-Remake.

FB: Der Erzähler ist der Überlebende, und wenn er aus einer gegenwärtigen Perspektive erzählt, schafft das einen Abstand des Zuschauers zur Filmhandlung. Und ich wollte keinen Abstand des Zuschauers. Ich wollte, dass der Zuschauer ganz in die Geschichte hineingezogen wird und sich nicht sagen kann, alles wird gut, es gibt ja jemanden, der überlebt hat und mir die Geschichte jetzt erzählt.

CD: Ja, das wäre ein ganz anderer Ausgangspunkt als die Stummfilmtitel mit der Spannung zwischen Wahrheit und Gedächtnis.

FB: Ja. Die Spannung ist jedoch nicht zwischen Wahrheit und Gedächtnis, sondern zwischen Erinnerung und Vorstellung, between memory and imagination, oder noch genauer: die Geschichte von Jakob dem Lügner ist geschrieben auf der Suche nach der Erinnerung an die Kindheit, das ist der wichtige Punkt, glaube ich. Sie haben das gelesen, den Abschnitt, den ich in mein Buch aufgenommen habe: was Jurek über seine Erinnerungen, seine imagination und seine memory erzählt. Er ist mit mir nach Polen gefahren, in der Hoffnung, er würde Spuren finden. Dann war das aber sehr enttäuschend für ihn, er hat nichts gefunden, er hat sich nicht erinnert. Er schreibt später, daß er manchmal gedacht hat, daß seine Erfindungen Erinnerungen sind, aber natürlich ist das nicht der Fall. Ich habe das relativ spät erst erfahren, denn er hat mit mir darüber nicht gesprochen. Ich habe ihn ja mitgenommen, um herauszufinden, woran er sich erinnert, weil ich zunächst dachte, das Filmdrehbuch ist aus seinen Erinnerungen gespeist. Und weil das, was ich über das Ghetto wußte, sich erheblich von dem unterschied, was er aufgeschrieben hatte. Aber Jurek hatte keine Erinnerungen an die Ghettozeit.

Das war auch ein Glück für unseren Film, denn wenn er ein paar Jahre älter gewesen wäre und Hunger und Tod und Elend ganz nah an ihn herangekommen wären, hätte er nie diese Geschichte so aufschreiben können, wie er es getan hat.

SB: Dadurch wirkt Ihr Film poetischer als andere Filme mit dieser Thematik: denken wir an Schindlers Liste (1993) zum Beispiel, der einen realistischen Stil hat.

CD: Vor unserem Interview haben Sie von der Neuverfilmung von Jakob der Lügner gesprochen, und ich würde Sie darum bitten, noch etwas dazu zu sagen. Sie haben erstens gesagt, daß Jurek Becker die Rechte verkauft hat ...

FB: Das ist ja immer eine Ehre, wenn ein Autor gebeten wird, die Rechte für ein Remake zu verkaufen. Das ist ein Beweis dafür, daß er eine gute Geschichte aufgeschrieben hat. Über den Film von Kassowitz möchte ich nicht sprechen. Wenn Sie einen Kommentar dazu haben wollen, der steht in meinem Buch drin.[4]

CD: Es ist faszinierend, wie Sie den amerikanischen Ansatz vorausgesehen haben.

SB: Vielleicht nur noch zwei Fragen. Was ist Ihre Haltung zum heutigen deutschen Kino? Sie haben schon im Dokumentarfilm Spur der Zeiten (1997) kommentiert, wenn Sie über Komödien sprechen, daß Sie den sozialen Hintergrund und das Land vermissen, in dem diese Geschichten spielen. Aber ich denke auch an solche Filme wie zum Beispiel Das Experiment (2000) von Hirschbiegel oder Andreas Dresens Filme.

FB: Bitte vergessen Sie nicht, daß dieser Kommentar, der in dem von Ihnen erwähnten Dokumentarfilm steht, vor fünf Jahren gedreht worden ist. Inzwischen hat sich etwas im deutschen Film verändert, glaube ich, zum Besseren. Ich bin aber trotzdem nicht in der Lage, das deutsche Kino zu kommentieren. Ich kann im Einzelfall natürlich sagen, daß mir Filme von Andreas Dresen gut gefallen, auch der letzte, den er jetzt gemacht hat, Die halbe Treppe (2002), der eine Art improvisierter Film ist. Es gibt auch andere Filme, die mir sehr gut gefallen, zum Beispiel Die innere Sicherheit (2001) von Christian Petzold.

CD: Was gefällt Ihnen an dem Film?

FB: Das ist ein sehr guter Film über ein Ehepaar, das zur Terroristenszene gehörte, aber es ist eigentlich nicht ein Film über dieses Ehepaar, sondern über die heranwachsende Tochter, deren Leben als junge Frau unaufhörlich von dem Leben der Eltern geprägt wird, die sich verstecken müssen und mit denen sie gar nichts zu tun hat. Das ist die Spannung, die dieser Film hat. Im übrigen sehe ich die deutschen Filme in Jahresabständen. Wenn die Berlinale läuft, gibt es eine eigene Reihe, da packt man die Filme des vergangenen Jahres nochmal zusammen. Da hat man im Kopf, wie die Filme gelaufen sind, wie sie besprochen worden sind und kann sich dann die guten Filme auswählen. Ich kann aber nicht wie ein Filmwissenschaftler über die deutschen Filme, über die Entwicklung des deutschen Films reden.

CD: Dann kommen wir auf Sie persönlich zurück und möchten gerne wissen, was Ihre jetzigen und zukünftigen Projekte sind.

FB: Wir haben gerade unserem Produzenten ein Drehbuch abgegeben. Der Arbeitstitel heißt "Whisky mit Wodka", und es ist eine Komödie, ein Gegenwartsstück, und ich hoffe, daß wir Geld finden, um das fürs Kino zu machen. Es ist die Geschichte eines Starschaupielers, der ein Trinker ist und dem in einer Produktion ein zweiter Schaupieler an die Seite gestellt wird, der die Rolle auch spielt. Das, was man auf einem Opernzettel zum Beispiel unaufhörlich sieht, daß die Rollen doppelt besetzt sind, was ganz normal ist, ist natürlich im Film ganz unnormal. Und das wird eine Lebenskrise für ihn, daß man ihn für entbehrlich hält. Das ist der Hintergrund der Komödie.

SB: Erwähnen Sie das nicht in Ihrer Autobiographie?

FB: Ja. Das ist eine ganz alte Geschichte, die ich einmal mit einem Schauspieler erlebt habe, als ich Regieassistent bei Kurt Maetzig war. Das ist eine Anekdote, die mir immer im Kopf geblieben ist, aber viele Jahre liegen blieb. Vor einiger Zeit habe ich ein Remake vom Hauptmann von Köpenick (1997) mit dem Schauspieler Harald Juhnke gemacht, der ein alkoholkranker Mann war. Juhnke war nicht etwa während der Arbeit betrunken. Er war ein Mann, der in größeren Abständen trank, aber dann so viel, daß er lebensgefährlich erkrankte. Ich will natürlich unter gar keinen Umständen einen Krankenbericht liefern, ich würde diesen Film auch nie mit einem alkoholkranken Schaupieler drehen. Es soll eine Komödie werden, aber Komödien haben, wenn sie gut sind, immer einen ernsten Hintergrund, und das ist sozusagen die Lebenskrise dieses Mannes.

SB: Ist es noch zu früh oder wissen Sie schon, wer die Hauptrolle spielen wird?

FB: Ja, Götz George wird es spielen.

SB: Wir wünschen Ihnen viel Erfolg mit diesem neuen Projekt.

CD: Und wir bedanken uns für das Interview.

FB: Bitte sehr!

Anmerkungen

1 Auf dem 11. Plenum des Zentralkomitees der SED wurde im Dezember 1965 entschieden, mehrere Filme aufgrund ihrer „dem Sozialismus fremden und schädlichen Tendenzen und Auffassungen“ zu verbieten. Zu den bekanntesten dieser sogenannten „Regalfilme“ zählen Frank Beyers Spur der Steine (1966), Frank Vogels Denk bloß nicht, ich heule (1965), Kurt Maetzigs Das Kaninchen bin ich (1965) und Herrmann Zschoches Karla (1965).

2 Zur Verwandlung des Volkseigenen Betriebs DEFA-Studio für Spielfilme in die Kapitalgesellschaft DEFA-Spielfilm GmbH. i. A. und den darauffolgenden Kündigungswellen ab Ende 1990, vgl. Dalichow (329ff).

3 Frank Beyer war damals als Dramaturg und Regieassistent an den Vereinigten Kreistheatern Crimmitschau/Glauchau tätig.

4 Frank Beyer, Wenn der Wind sich dreht: Meine Filme, mein Leben (München: Ullstein, 2001): S. 194ff. “Während der Drehbucharbeiten improvisierten Jurek und ich oft spielerisch Varianten des Jakob-Stoffs. Unter anderem fragten wir uns, wie wohl die US-Amerikaner eine solche Geschichte im Film erzählen würden. Unsere Gedanken gingen ungefähr so:

"Jurek: Natürlich würden sie die Geschichte als Thriller erzählen. Irgendwann erfährt die SS von der Existenz des Radios, zum Beispiel durch einen Spitzel, dann kommt die schwarze Limousine der Gestapo, gefolgt von zwei Lastwagen mit SS-Leuten, die das Getto auf den Kopf stellen.

Frank: Du meinst eine Art surrealistischen Thriller? Sie suchen ja ein Radio, das es gar nicht gibt.

Jurek: Nein, einen wirklichen Thriller nach Hollywood-Art mit einem langen Showdown. Dass es das Radio gar nicht gibt, weiß ja nur der Zuschauer, nicht aber die SS. Sie können zwar das Radio nicht finden, aber sie finden und verhaften Jakob, den angeblichen Besitzer des Radios. Sie foltern ihn, sie wollen wissen, wo er das Radio versteckt hat. Zum zweiten Male im Film wird die Wahrheit nicht geglaubt, denn Jakob bleibt ja nichts anderes übrig, als die Wahrheit zu sagen.

Frank: Dann treiben sie das Getto zusammen und verlangen von Jakob, dass er seinen Leuten sagt, dass er ein Lügner ist, dass er gar kein Radio besitzt?

Jurek: Zum Beispiel. Aber Jakob weigert sich natürlich, seinen Leuten die Hoffnung zu nehmen. Und da schlagen sie ihn tot oder erschießen ihn.

Frank: Die Amerikaner würden überhaupt keinen Film drehen, in dem es um die Rote Armee als Hoffnungsträger für ein Getto in Polen geht.

Jurek: Das weißt du nicht. Sie würden doch auf alle Fälle ein Happy-End machen, und da könnten die Russen mit amerikanischen Panzern und Lastautos vor dem Getto auffahren. Sie haben ja den Russen während des Krieges viel Material geliefert …

Dreißig Jahre nachdem wir über solche Varianten unseres Stoffes sprachen, haben die Amerikaner tatsächlich ein Remake von Jakob der Lügner gedreht mit einem Showdown und einem Happy-End, wie wir es damals entworfen hatten.

Und sie gingen noch weiter. Sie machten Jakob zum Anführer einer bewaffneten Widerstandsgruppe im Getto. Und das Happy-End mit den Panzern, die den Evakuierungszug der Häftlinge stoppen, ist so, als habe das amerikanische Kino die Traditionen des sozialistischen Realismus aus der Stalinzeit übernommen."

Literaturverzeichnis

Beyer, Frank. Wenn der Wind sich dreht: Meine Filme, mein Leben. München: Ullstein, 2001.

Dalichow, Bärbel. „Das letzte Kapitel: 1989 bis 1993.“ Das zweite Leben der Filmstadt Babelsberg: DEFA-Spielfime 1946-1992. Ed. R. Schenk. Berlin: Henschel, 1994. 328-353.