literarische texte

Ingo Schulze
Lesen und Schreiben oder

"Ist es nicht idiotisch, sieben oder gar acht Monate an einem Roman zu schreiben, wenn man in jedem Buchladen für zwei Dollar einen kaufen kann?" (Mark Twain)

Ich war erleichtert, als mir die Veranstalterinnen dieser Vorlesungsreihe eine Seite mit "Leitfragen" schickten. Diese "Leitfragen" schienen eine Möglichkeit zu sein, festen Boden unter die Füße zu bekommen und mich vor Allgemeinpolatzen wie Es gibt überhaupt keine Entschuldigung dafür, ein schlechtes Buch zu schreiben oder "Im Ernstfall ist bedrucktes Papier wertloser als unbedrucktes" zu bewahren. Denn wer behaupten will, daß es noch nie so gute Bedingungen für die Herstellung von Literatur gab wie heute, hat erdruckend viele Argumente auf seiner Seite – genauso viele wie die Vertreter der Gegenthese.

Die "Leitfragen" als Positionslichter einer Selbstverständigung, auch einer Selbstrechtfertigung vor mir, geriet ich allerdings gleich zu Beginn ins Stocken.

"Sie haben eine eigene Schreibweise entwickelt – wie ist sie entstanden?"

Finden Sie wirklich, daß ich eine eigene Schreibweise entwickelt habe? Ich glaube das nicht.

"Muß man heute anders schreiben als vor 10 oder 20 Jahren?"

Natürlich kann man heute genauso schreiben wie vor 10 oder 20 Jahren, aber es bedeutet heute etwas anderes.

"Gibt es für Ihre Arbeit ein zentrales Thema?"

Nein, ich hoffe, daß immer ALLES enthalten ist. Das, was als zentral anzusehen ist, stellt sich oft erst im nachhinein heraus.

Auf diese Art schien ich mich meiner Aufgabe in zwei Minuten zu entledigen, bis ich auf die Frage stieß

"Wie entsteht ein Text?"

Sollte ich jetzt einfach Beispiele aufzahlen, wie sich diese Geschichte oder jenes Kapitel herausgebildet haben? Vorher müßte ich jedoch, klären, wie es überhaupt zu dieser Idee, zu diesem Stil, gekommen ist. Oder sollte ich nicht erst einmal fragen, warum schreibe ich überhaupt?

Ich habe sehr spät angefangen zu lesen. Erst mit dreizehn griff ich aus Langeweile zu einem Buch. Glücklicherweise geriet mir als erstes Tim Thaler oder das verkaufte Lachen in die Hände, zwei Bücher später ebenso zufällig: Martin Eden von Jack London. Darin geht es um den steinigen Weg eines Schriftstellers zu Anerkennung und Ruhm. Ich beschloß Schriftsteller zu werden und richtete mich auf Entbehrungen ein, die sich aber sicher lohnen würden.

Verglichen mit Jack London empfand ich meine Situation als hoffnungsvoller: die Wahrscheinlichkeit, in der DDR hungern zu müssen oder die Miete nicht bezahlen zu können, war gering. Außerdem, ich spreche von den Jahren 1976/77, kam Schriftstellern im Osten eine ganz andere Rolle zu als in der kapitalistischen Welt, wo sich der Erfolg – siehe Jack London – vor allem in Geld ausdrückt. Bei uns hingegen zählten Schriftsteller zu den wichtigsten Persönlichkeiten überhaupt. Ein ganzer Staat konnte wegen einiger Liedzeilen in Aufruhr geraten, kein Name wurde so oft genannt wie der des Verfassers. Sollte es denn unmöglich sein, selbst solche Zeilen zu schreiben?

Außerdem war der Sozialismus, trotz aller Entstellungen und Perversionen, die entwickeltere Gesellschaft, also historisches Neuland. Über die alte Welt des Kapitalismus existierten schon mehr als genug Bücher – freiwillig würde ich nicht mit einem Schriftsteller im Westen tauschen.

Ich schrieb ausgiebig Tagebuch, weil ich alle schönen und glücklichen Stunden festhalten und nicht mehr verlieren wollte. Ich las Rainer Kunze und versuchte mich in ersten Gedichten. Hermann Hesse erschütterte und erhob mich. Franz Kafka machte mich ratlos. Ich las Thomas Mann und verstand nicht, was er dem Leser sagen wollte. Leonard Frank war in seiner Aussage klarer. Ich las Hemingway und wollte zum zweiten mal Schriftsteller werden. Nichts erträumte ich inbrünstiger, als von der kalten, vom Sturm gepeitschten Rue de l’Odéon an den großen Ofen von Sylvia Beach zu treten, oder im Herbst, wenn das Licht im Luxembourg schwand, durch die Gärten hinaufzugehen, und in der Atelierwohnung Rue Fleurus 27 bei Gertrude Stein vorzusprechen. Manches war offensichtlich im Kapitalismus doch einfacher gewesen.

Zur gleichen Zeit wogte in mir der Kampf zwischen meinem christlichen Glauben und meinen Schreibversuchen hin und her. Als ich eines meiner "Gedichte" einem Freund aus der "Jungen Gemeinde" zeigte, fragte dieser nicht ohne Vorwurf: "Hast Du nie die Vergebung durch Jesus Christus erfahren?" Ich empfand Glauben und Schreiben als Widerspruch. Nichts sollte zwischen mir und der Welt stehen. Ich wollte keinen abfedernden Trost nichts, was ich a priori zu verteidigen hatte. Und da der Teufel ein Logiker ist, wurde ich Atheist. Meinem Schreiben nutzte das nicht viel. Anfang der Achtziger, ich war nach dem Abitur für 18 Monate Soldat geworden, Solidarnosc probte den Aufstand, und die Friedensbewegung füllte im Osten die Kirchen und im Westen die Straßen, schrieb ich Geschichten, die ausnahmslos die Armee als Hintergrund hatten. Da wir nicht zur brüderlichen Hilfe nach Polen eilen mußten, obwohl Honecker den Einmarsch gefordert hatte, begann ich 1983 mit dem Studium der klassischen Philologie in Jena. Doch als würde ich nichts anderes kennen, schrieb ich weiter über die Armeezeit.

Bei einer Lesung hatte ich den mir bis dahin unbekannten Schriftsteller Gert Neumann erlebt, ihn um seine Adresse gebeten und ihm ein paar Arbeiten geschickt. Eine kleine Erzählung gefiel ihm – leider nicht jene, die ich am besten fand. Aber diese eine Geschichte berge, so las ich, ein Geheimnis, weil ich um ein Schweigen herumgeschrieben hätte. Ich müßte nur weiter daran arbeiten. Vielleicht gelinge mir diese Geschichte.

Ich wurde für etwas zaghaft gelobt, das ich nicht recht verstand, geschweige denn beabsichtigt hatte. Ich wollte ein Buch gegen die Armee, gegen das Wettrüsten schreiben. Aber irgendwie kam ich nicht weiter. Die Armeegeschichten versandeten. Die Hemingwaysche Forderung, wahre Sätze zu schreiben, nahm ich ernst. Aber was ich auch versuchte, die Figuren und Dinge entzogen sich meinen Worten, als wollten sie mit mir nichts zu tun haben, als würde ich ihnen Gewalt antun. Mir gelangen einfach keine wahren Sätze. Nicht weil ich unter innerer oder äußerer Zensur litt, sondern weil ich es nicht schaffte. Alles wurde mir zum "Als ob". Dabei empfand ich mich und meine Umwelt als sehr real, so wie Glück oder Schmerz im Osten nicht weniger wirklich waren als überall auf der Welt. In den nächsten acht, neun Jahren gelang mir nichts, was ich einem Schriftsteller hätte schicken können oder wollen. Trotzdem hätte ich damals wie heute die Frage: "Warum schreibe ich? Warum will ich schreiben?" relativ einfach beantworten können.

Vernachlässigen Sie einmal, daß man mit Schreiben unter Umständen auch Geld verdienen kann und daß der Wunsch, gekannt zu werden, bekannt zu werden, berühmt zu werden auch bei Schreibern wie Staub immer mitwirbelt und daß es eine Freude am Machen gibt, der es egal ist, ob es sich um eine Autoreparatur handelt oder um einen Roman. Wenn Sie also den Traum von Geld und Ruhm und die Macherlust abziehen, können Sie die Frage: Warum schreiben Sie? Durch die Frage: Warum lese ich? ersetzen und selbst beantworten.

Zuerst bin ich immer Leser. Würde ich nicht lesen, würde ich auch nicht schreiben. Könnte ich mir ein Leben ohne Bücher vorstellen, würde ich keine schreiben. Ich werde unleidlich, wenn ich lange nicht zum Lesen (+Schreiben) komme oder nichts find (+erfinde), was mich in seinen Bann zieht.

Warum aber ist das so? Warum lege ich einen Roman nicht mehr aus der Hand? Warum beglückt mich eine Erzählung? Warum kann ein Gedicht auf mich befreiend und tröstend wirken?

Eine vorläufige, Sie wahrscheinlich nicht befriedigende Antwort könnte heißen: Es liegt am Poetischen, oder – Sie werden es gleich wider hören - ,am Zauberwort. Um das zu erklären, nehme ich die Hilfe eines Schriftstellers in Anspruch, der einige wundervolle Erzählungen und Nachdichtungen geschrieben hat, der aber vor allem einer der ganz großen deutschen Essayisten ist. Ich spreche von Franz Fühmann. Ich bin ihm nie begegnet, habe ihm nie geschrieben, aber als er 1984 starb, hatte ich das Gefühl, einen Freund, vielleicht sogar meinen zukünftigen Mentor verloren zu haben. Franz Fühmanns Essay "Das mythische Element in der Literatur", erschienen 1975, versucht auf die gestellten Fragen zu antworten. Daß ich an Überzeugungskraft verliere, wenn ich sechzig gut lesbare, doch hoch konzentrierte Seiten auf einige Zitate kürze, muß ich in Kauf nehmen.

"......das Erfahren geschieht nicht nur intellektuell, sondern mit dem ganzen Ich, das WAS und das WIE der Erfahrung verschmelzen, und ihr Gegenstand wird unbestimmt und ist am besten als eine Art Feld darzustellen, zu dem die Wirklichkeit der Außenwelt wie die Wirklichkeit der Seele gehört....Äußeres wie Inneres wirkt auf mich ein, und nun geschieht das Merkwürdige, daß diese Wirklichkeiten aneinander darstellbar sind. Ich kann entdecken, daß Wespenstiche nicht nur ins Fleisch, sondern auch in die Seele geschehen; ein höhnisches Gelächter kann mich solchermaßen treffen, die Einstichstelle in meine Psyche kann schwellen und sich verhärten und zu hämmern beginnen, und wenn ich dann Wut in mir brausen fühle, schwirrt sie vielleicht wie ein Wespenschwarm. Kurzum, ich kann einen an sich ja ungreifbaren Vorgang seelischer Innenwelt an Vorgängen der Außenwelt sichtbar und durch solches Sichtbarmachen auch verständlich machen und also erklären - .... Auf dieser ununterbrochen als selbstverständlich hingenommenen und doch höchst geheimnisvollen Fähigkeit des Einander-Entsprechens von psychischer und physischer Realität beruht auch die spezifisch ästhetische Mimesis."

Fühmann zitiert Hiob. "Wenn doch mein Gram, mein Leid gewogen würde auf einer Waage, ganz genau, so wäre es schwerer als aller Sand, der an den Küsten der Meere liegt." Das Gleichnis ist, wissenschaftlich gesehen, eine unwahre, eine unsinnige Aussage. Wenn ich dennoch an dieser Wahrheit einen Trost finden kann, dann deshalb, weil meine Erfahrung nur im Gleichnis objektivierbar, vergleichbar wird. "Ins Gleichnis eintretend", schreibt Fühmann, "erweitere ich mein Ich um das Ich eines Andern, und dieser Andre wird als Meinesgleichen nun mein Halt. Das Gleichnis überzeugt mich, daß ich nicht allein bin." Dadurch wird es möglich, "die individuelle Erfahrung, mit der man ja wiederum allein wäre, an Modellen von Menschheitserfahrung zu messen."

Und: "Der sein Gleichnis formt, um sein Leid (man könnte hier hinzufügen: sein Glück; I.S.) zu bewältigen, stellt es zugleich zum Gebrauch für seine Brüder und Schwestern bereit, die der Gabe solchen Artikulierens nicht teilhaftig sind, und er hilft ihnen in ebendem Maße, in dem er rückhaltlos sagt, 'was ist'."

Das, was ich das Poetische genannt habe, was aber auch mit Gleichnis, Metapher oder dem mythischen Element beschrieben werden kann, ist "untheoretisierbare Erfahrung und Bestätigung meines Erfahrens, doch dieses Bestätigen hat übergreifend auch erklärende Gewalt, wenngleich in einem besonderen Sinn: Es erklärt Dinge, die wissenschaftlich unerklärbar sind." Ich denke, daß auch Celan mit seinem "Gegenwort", mit der "Atemwende" in diese Richtung weist.

Die "magische Macht des Namennennens" ist jedem Kind aus Rumpelstilzchen vertraut. Die Müllerstochter war dem Männlein in den schaurigen Wald gefolgt, hatte sich nicht gescheut, der Wirklichkeit ins Auge zu sehen und den verborgenen Namen ausgesprochen. Sie hatte gesagt, "was ist" und sich damit befreit.

Wenn eine Kultur, die so auf das Wort fixiert ist wie die jüdische, die Namen Gottes nicht nennt, so vor allem deshalb, weil damit schon der Weg der Entzauberung beschritten wäre. Die Namensnennung wäre eine Anmaßung.

Bei Eichendorff heißt es: Schläft ein Lied in allen Dingen, /Die da träumen fort und fort, ?Und die Welt hebt an zu singe, ?Triffst du nur das Zauberwort.

An dieser Stelle sollte ich einen Satz vom Anfang korrigieren: Im Ernstfall muß bedrucktes Papier keinesfalls wertloser sein als unbedrucktes. Wenn es wirklich drauf ankommt, ist vor allem bedrucktes Papier gefragt.

Ich könnte jetzt sagen: Ich schreibe, weil ich etwas geklärt haben will, was mich angeht, was mich beschäftigt, was mich schmerzt, was mich freut, und weil ich es anders nicht sagen kann als in einer Geschichte oder einer story oder einem Roman. Die Schwierigkeit ist nur, und insofern muß ich alles wieder einschränken, daß ich natürlich nicht weiß, wohin mich eine Geschichte oder ein Roman (oder eine Vorlesung) führen. Am Ende habe ich eine Geschichte auf dem Papier, die von etwas ganz anderem spricht, als ich gewollt hatte. Der Anlaß verliert sich beim Schreiben. Ideen und Begriffe, wenn sie nicht haltlos werden, verbrauchen sich als Katalysatoren und sind nicht mehr nachweisbar. Das Verhältnis zu einer Figur – und diese Figur muß sich ja überhaupt erst einmal aus einer Konstellation heraus entwickeln und Konturen gewinnen – ist in aller Regel am Ende der Arbeit ein anderes als zu Beginn usw. usf. Fühmanns Überlegungen bedeuten nicht: Hier Erlebnis, da Gleichnis, und nun knüpfe ich mein Gedicht oder meinen Roman an diese Strippe. Wenn jemand sein Gedicht oder Romanmanuskript verteidigt, wird er bei Sätzen wie: "Aber so ist es doch gewesen. Das habe ich selbst erlebt!" disqualifiziert. Mit dieser Haltung schreibt man kein Gedicht, keinen Roman. Damit soll man zu Freunden gehen oder in Talkshows oder Selbsthilfegruppen.

Ich könnte versuchen, den Schreibvorgang an Hand eines Beispiels zu dokumentieren, um dann zu sagen: Der da macht seine Geschichten im Kopf fertig und hämmert sie dann nur noch in den Computer. Die da kritzelt einfach einen Satz hin, der ihr gerade einfällt und sieht dann zu, wie sie weiterkommt.

Ein Beispiel. Jemand erzählt mir von einem Bekannten, der auf offener Straße zusammengeschlagen wurde. Seither fährt er abends nur Taxi. Noch laufe ich ohne Angst durch die Straßen. Aber mir kann das auch passieren. Und wenn ich dann meine Freundin dabei habe?

Mann und Frau müssen rennen, fliehen – ich schreibe eine Geschichte über Gewalt auf der Straße? Wer erzählt? Wo? Wann? Denke an Hemingway, wie er ein Geschehen im Dialog enthüllt. Statte Mann und Frau mit Argumenten aus, Unterhaltung nach Flucht. Sie trägt nur einen Schuh. Wo ist der andere – ah, Moment, interessant. Sie hat einen Schuh verloren. Ist sie hingefallen? Was hat er dabei gemacht? Ein neuer oder ein alter Schuh? Beginne die Geschichte erneut. Wer holt zweiten Schuh? Wird er gebracht? Hätten vielleicht gar nicht rennen müssen? Was fällt dir bei Schuh ein. Aschenputtel, nachlesen, wieder von vorn...usw.usf.

Anfangs dachte ich, es geht um Gewalt, aber eigentlich geht es um Erwartung, um Enttäuschung, um einen Rest Liebe, natürlich auch um Gewalt, um Angst. Oder ist das Thema des Kapitels: Neonazis nach '89 im Osten?

Man kann solche Abläufe analysieren, aber warum? Ähnliche Erfahrungen kennen alle, die mal einen Hausaufsatz oder eine Magisterarbeit anfertigen mußten (jeder kennt den toten Punkt, die Angst, Banalitäten zu produzieren usw.). Was zählt, ist am Schluß nicht das, was ich mir dabei gedacht habe oder bezweckte, wovon ich ausging und was mir dazwischengeriet, sondern das, was da steht. Denn daraus entwickeln die Leserinnen und Leser – aufgrund ihrer verschiedenen Erfahrungen und Bedürfnisse, die sie im Dialog mit dem Text überprüfen müssen – ihre Lesart. Und die kann berechtigterweise ganz anders sein als jene, die vielleicht der Schriftsteller im Kopf hatte oder Ihnen gar vorschlägt. Erst durch den Leser wird aus einem gebundenen Stapel bedruckten Papiers ein Buch. Ich habe meine Bücher durch Gespräche im Freundeskreis und das Lektorat, nach der Veröffentlichung durch Lesungen, Rezensionen und Übersetzungen zum Teil besser, zum Teil überhaupt erst kennengelernt.

Schreiben ist ein enormes Abenteuer – wie Lesen. Wenn die Motive in Bewegung geraten und man im Dialog mit ihnen ihrem Lauf folgt, kann Schreiben wie Lesen sein. Und manchmal ist Lesen wie Schreiben, wenn man das Buch vor sich wie eine Partitur aufgeschlagen hat und den Motiven nachspürt und sie wie ein ganzes Orchester für sich zur Aufführung bringt.

All das gibt mir aber keine Antworten auf die für mich, Ingo Schulze, äußerst wichtige Frage: Warum habe ich nicht schon mit zwanzig ein Buch geschrieben oder mit fünfundzwanzig?

Zu Recht werden Sie einwenden, daß ich damit nicht andere behelligen sollte, und ebenso zu Recht werden Sie antworten, daß dies mit Erfahrungen zu tun hat, mit innerer Reife, mit der Kenntnis von Literatur, mit Zufall, gesunder Ernährung und was es sonst noch gibt.

Ich möchte Ihnen im folgenden kurz einige dieser Erfahrungen berichten, Literatur und Zufälle erwähnen, alles aber in der Hoffnung, damit auf etwas zu verweisen, von dem ich froh gewesen wäre, wenn ich es früher erfahren hätte. Mein Mitteilungsdrang gründet auch auf der Annahme, daß poetologische Fragen, mal mehr mal weniger vermittelt, jede und jeden betreffen, also kein Spezialfach darstellen, in dem nur Dichter und Denker auftreten.

Als ich Anfang 1993 für ein halbes Jahr nach St. Petersburg ging, um ein Anzeigenblatt aufzubauen, dachte ich nicht im Traum daran, darüber zu schreiben. Ich war gerade dreißig geworden, hatte ein Studium hinter mir, eine anderthalbjährige Karriere als Theaterdramaturg, eine kurze Zeit als bürgerbewegter Bürger auf den Straßen von Leipzig und Altenburg und eine knapp dreijährige Geschäftsführerschaft in einem Zeitungsverlag mit zwanzig Angestellten. Seit dem Herbst '89 war ich kaum noch zum Lesen gekommen, geschweige denn zum Schreiben. Außer den Armeegeschichten, deren Entstehung acht oder zehn Jahre zurücklag, fand sich nichts in meiner Schublade.

Als Ostdeutscher flog ich in der rolle des westlichen Geschäftsmannes nach Osten, ich kam nicht mehr aus der DDR in die Sowjetunion wie noch im Sommer &Mac226;89, sondern aus der Bundesrepublik nach Russland, nicht mehr nach Leningrad, sondern nach St. Petersburg. Was ich an Marktwirtschaft in den letzten Jahren gelernt hatte, lehrte ich jetzt und verdiente dabei das Hundertfache von dem, was einheimische Freunde und Mitarbeiter erhielten. Vor diesem Hintergrund – drei Jahre zuvor waren die Unterschiede unbedeutend gewesen – hatte man kaum die Möglichkeit, etwas nicht falsch zu machen.

Wenn Sie zu Anfang des Jahres '93 über den Newski-Prospekt in St. Petersburg gingen – die postsowjetische Variante der Marktwirtschaft war noch kein Jahr alt -,sahen Sie neben dem westlichen Parfümladen den staatlichen Gemüsehandel, davor hatten ein amerikanischer Zeitungsverkäufer und ein russischer Schuhputzer ihre Posten bezogen. Nationalisten, Royalisten, Kommunisten, Demokraten plärrten mit ihren Megafonen aufeinander ein, Hari-Krishna-Jünger wuselten um katholische Missionare und orthodoxe Priester, zwei Pelzdamen unterhielten sich neben der Bettlerin im Rinnstein. Die Gegensätze waren extrem und lagen dicht beieinander. Wenn Sie sich dann noch die Geschichte dieser Stadt vor Augen führen und bedenken, daß es in St. Petersburg so gut wie keinen Quadratmeter gibt, der nicht Schauplatz literarischer Großtaten gewesen ist, dann bekommen Sie eine Ahnung, auf welche Atmosphäre ich traf.

In Faxbriefen sandte ich meine täglichen Beobachtungen an einen Freund, dessen liebevoll kritische Erwartung sie mir abgefordert hatte und mich zum genauen Hinsehen und Formulieren zwang. Von da führt der Weg zu Skizzen, die ich – Ossip Mandelstams Armenische Reise als großes Vorbild – in den letzten Wochen meines Aufenthaltes begann. Aus einer dieser Skizzen entstand eine kleine Erzählung. Zurück in Deutschland schrieb ich weiter. Die zweite Geschichte geriet mir ganz anders als die erste. Ich las Bjeli, Sorokin, Puschkin, Lermontow, Mandelstam, Mamlejew, Gogol, Dostojewski, Charms, Prigow, Chlebnikow, Kawerin, Rubinstein, Majakowski, Sostschenko, Brodski, Jessenin und andere, auch Märchen und Heiligenlegenden. Jedes Buch wurde zu einer Anregung, nicht nur, weil es an meine eigenen Erfahrungen rührte, sondern weil es mir auch Muster lieferte, die mich zur Sprache brachten, die mir etwas sagbar werden ließen. Ich übernahm Stile, Motive, einzelne Sätze oder versuchte nachzuerzählen.

Das Glück, das ich beim Schreiben empfand, wurde nur noch von meinem ungläubigen Erstaunen übertroffen, daß jetzt plötzlich möglich sein sollte, was ich so lange vergeblich versucht hatte. Vergleichbar aufgewühlt hat mich später die Annahme meines Manuskriptes beim Berlin-Verlag.

Die Mehrzahl der Rezensenten, auch der wohlmeinenden, merkten an, daß der Autor zwar hier und da gekonnt erzähle, aber er sage nirgendwo ICH, er habe seinen Ton, seine Stimme, seinen Stil, seine Schreibweise noch nicht gefunden. Eine Überschrift hieß: "33 Geschichten suchen einen Autor." Auf Lesungen bekam ich zu hören: Aber wo sind Sie denn ihre Geschichten? Wo sagen Sie ICH?

Solche Fragen machten mich ratlos. Das Schreiben war mir erst gelungen, als ich nicht mehr an mein ICH gedacht hatte, als ich nicht mehr nach meiner authentischen unverwechselbaren Stimme gesucht hatte, sondern mit Hilfe vornehmlich russischer und sowjetischer Literatur auf eine Situation reagiert hatte. In St. Petersburg hatte ich wiedergefunden, was meine ureigenste Erfahrung traf: Der Wechsel von einem Gesellschaftssystem zu einem anderen. Ein ICH im Sinne der Frager hatte ich dazu nicht gebraucht.

Eigenartigerweise waren mir immer jene Geschichten mißglückt, bei denen die Figuren russischen Boden verließen und nach Deutschland reisten. Ich versuchte es wieder und wieder, aber meine Figuren bekamen weiche Knie und knickten ein.

Es war Zufall, daß ich nach Abschluß meines ersten Manuskriptes Raymond Carver las. Plötzlich hatte ich einen Ton im Ohr, mit dem ich meine hiesige Gegenwart ansprechen konnte. Dadurch, daß ich versuchte, den Stil der short-story eines Anderson, Hemingway und Carver auf die ostdeutsche Provinz nach '89 anzuwenden, ließ sich etwas mitteilen. Zufällig war ich auf eine richtige Frequenz gestoben. Erst jetzt war ich wieder in Ostdeutschland gelandet.

Bei meinem zweiten Buch war der ruf der Kritik nach meinem ICH verhaltener. Daß ich auf nordamerikanische Tradition zurückgriff, galt eher als lobenswert. Trotzdem muß ich mich fragen: Bin ich ein Plagiator, ein Scharlatan, ohne wirkliche eigene Substanz und Stimme? Braucht nicht gerade ein Schriftsteller ein wenn nicht gar genialisches, so doch ausgeprägtes, unverwechselbares ICH.

Vilem Flusser verglich das menschliche ICH mit einer Zwiebel. Jede Schale dieser Zwiebel ist eine Beziehung. Schält man die Zwiebel immer weiter, so bleibt nichts mehr von ihr übrig. Und so ist es auch mit dem um seine Beziehungen beraubten Menschen. Folgt man diesem Flusserschen Bild, dann ist das Ich die Gesamtheit meiner Beziehungen. Jede Beziehung zeigt aber ein anderes ICH, denn jedes Sich-In-Beziehung-Setzen entwickelt eine eigene Wellenlänge, bringt auf beiden Seiten etwas zum Sprechen, deckt dieses auf oder jenes zu. In der nächsten Begegnung ist es schon wieder anders. Man wird von sich und von anderen überrascht oder gelangweilt. Warum sollte das beim Schreiben anders sein?

Ich greife im folgenden zum Teil auf Gedanken zurück, die ich an anderer Stelle so oder ähnlich schon formuliert habe. Denn weder möchte ich darauf verzichten, noch kann ich diese Texte als bekannt voraussetzen.

In der Schrift Der Bau des epischen Werks von 1928 schreibt Alfred Döblin: "jedem Sprachstil wohnt eine Produktivkraft und ein Zwangscharakter inne, und zwar ein formaler und ein ideeller." Diese verschiedenen Produktivkräfte hat Döblin benutzt. Aus keinem seiner Bücher kann man auf das vorangegangene oder das folgende schließen. Bei ihm war Stil eine bewußte Entscheidung, eine Wahl, nichts Beliebiges, sondern das Resultat; die Resonanz zwischen ihm und seinem Stoff, zwischen Idee und Sprache einschließlich der vorgefundenen Sprachstile.

In Epilog von 1948 heißt es: "Zudem hatte jedes Buch seinen Stil, der nicht von außen über die Sache geworfen wurde. Ich hatte keinen 'eigenen' Stil, den ich ein für allemal fertig als meinen ('Der Stil ist der Mensch') mit mir herumtrug, sondern ich lieb den Stil aus dem Stoff kommen."

"Der 'Alexanderplatz'", schreibt Döblin weiter, "hat den ihm gemäßen Stil, wie der 'Manas' oder der 'Wallenstein' (die man freilich dazu kennen muß). Dies Buch war beim Publikum ein Erfolg, und man nagelte mich auf den.... 'Alexanderplatz' fest. Es hat mich nicht gehindert, meinen Weg weiter zu verfolgen, und die Leute, die Schablonenarbeit verlangen, zu enttäuschen." In der Verweigerung eines eigenen Stils, statt dessen den Stil immer wieder neu im Dialog mit dem Stoff zu entwickeln, vertritt Döblin eine Tradition, der ich mich gern zuordne.

Spätestens seit Anfang der sechziger Jahre geschah in Moskauer Künstler- und Schriftstellerkreisen etwas, was sich mir aus heutiger Sicht wie eine Modifikation der Döblinschen Tradition darstellt (für die bildende Kunst wäre Warhol der Bezugspunkt, bestünde da nicht Gleichzeitigkeit). Für mich sind diese Arbeiten so grundlegend, daß ich behaupte, mit der Kenntnis der Moskauer Konzeptualisten wäre ich schon zu DDR-Zeiten ohne Schreibpause ausgekommen.

Eine grundlegende Erfahrung dieser Künstlergruppe war die allgegenwärtige offizielle Sprache der Sowjetunion. Durch Radio, Fernsehen, Zeitungen, Transparente, durch Versammlungen und Resolutionen, durch Schulbücher und Lieder besetzte die offizielle Sprache alle Räume. Selbst wenn man sich dagegen wehrte oder sich nicht um die Existenz dieser Norm-Sprache kümmerte, so klang diese doch in jedem Gespräch mit. Immer stand man zu ihr in Bezug – abweichend oder übereinstimmend. Ihre Allgegenwart hatte aber auch zur Folge, daß man sie nicht mehr wahrnahm – so wie man einen Dauerton irgendwann nicht mehr hört. Versuchte man selbst aber, eine Melodie zu pfeifen, machte sich dieser Dauerton als etwas Störendes und Falsches bemerkbar. Auf diese Erfahrung reagierten die Moskauer Konzeptualisten – für mich am eindrücklichsten in der Prosa von Vladimir Sorokin.

Wie bei einer Installation, die selbst den Kontext schafft, in dem ein Bild oder Objekt betrachtet werden soll, und die zugleich auf den Ort der Präsentation reagiert, bleibt bei Sorokin nichts ungebrochen. Alles wird episiert. Der Schriftsteller tritt aus seiner Rolle heraus -- doch scheinbar nur, um etwas später wie im Märchen in seinem eigenen Bild, in seiner eigenen Geschichte wieder zu verschwinden.

Die Handlung ist immer auch (oder vor allem) eine Veränderung der Sprachebenen. In Marinas dreißigste Liebe löst sich die Hauptfigur im offiziellen Kauderwelsch auf oder steigert sich wie in Norma in eine Wut hinein, so daß erst die Syntax verloren geht, dann das Verstehen auf einzelne Worte und Silben schrumpft, bis schließlich nichts als Laut und Geräusch übrig bleiben.

Sowohl die Dissidenten (Solschenyzin) als auch die Neo-Nationalisten (Vertreter der Dorfprosa), als auch die Avantgarde traten mit dem Anspruch auf, Lehrer zu sein, Volkserzieher, Demiurgen. In dieser Eigenschaft beanspruchten sie die Wahrheit und die Macht über andere. Darin sind sie vergleichbar.

Das Aufeinanderprallen und Nebeneinander verschiedener Stile relativiert nicht nur die jeweils verkündeten, in ihrem Anspruch absoluten Wahrheiten, es legt auch die Verwandtschaft ihrer Ansprüche offen. Der Schriftsteller, egal wie authentisch und unverwechselbar er sich selbst gebärdet, befindet sich nicht außerhalb dieser Sprachen. Er gehört zur "Familie".

Man könnte das auch als den Willen beschreiben, die eigenen Voraussetzungen aufzudecken und somit den Gültigkeitsbereich für das Gesagte zu markieren, den eigenen Wahrheitsanspruch sofort zu relativieren.

Ich hoffe, dies in meinen beiden Büchern wenigstens versucht zu haben. Im ersten relativiert sich eine Geschichte an der anderen, ein Stil am anderen, eine Vorstellung von Glück an der anderen. Die Hoheitsgebiete begrenzen sich gegenseitig. Im zweiten, das eher einem Stil folgt, befindet sich vor jedem Kapitel eine Art Stolperstein gegen die Einfühlung, eine Episierung des Inhalts, die signalisiert: Ich kann das ganze auch anders erzählen, als Banalität, als simple Story, als die Zusammenfassung für einen Verriß.

Beide Bücher wären ohne die Erfahrung der Umwandlung eines wie auch immer sozialistischen Systems in ein wie auch immer kapitalistisches System so nicht entstanden. (Die Möglichkeit, zwei Systeme zu kennen, also vergleichen zu können, empfinde ich als Vorteil.) Diese Transformation ist aber nicht mein zentrales Thema, sondern der Stoff, in dem all die alten Geschichten von Liebe und Tod für mich Gestalt gewinnen.

Wenn ich das, was ich über den ICH-Begriff, die Auffassung des Stils bei Döblin und Sorokin zusammenfasse, möchte ich sagen: Es geht darum, das für meine Situation Angemessene zu finden. Ob ich perfekt imitiere oder ob dabei etwas Eigenes, etwas Neues entsteht, ist für mich bedeutungslos.

Bevor ich zum Schluß komme, mochte ich das an einem kleinen Experiment veranschaulichen. Wenn Sie 1988 sagen: "Unsere Nachbarn fahren nach Budapest", dann heißt das: Die müssen ja Knete haben, zu viert Urlaub in Budapest! Zu welchem Kurs tauschen die denn schwarz? Wohnen sie bei Freunden oder auf dem Zeltplatz? Die wollen wohl ein bißchen Western schnuppern (Filme sehen oder Konzerte hören, die es nicht bis in die DDR bringen) oder Verwandte treffen. Und wo sonst könnte man noch so angenehm im Thermalbad liegen.

Ein Jahr später bedeutet der Satz schlicht: Die wollen abhauen. Und wieder ein Jahr später: Wir machen billig Urlaub. Jetzt sind wir endlich richtige Deutsche, deshalb haben wir uns auch noch schnell ein neues Nummernschild besorgt. Wir wohnen im Hotel, und abends lassen wir die Puppen auf dem Tisch tanzen.

Sie können dieses Spiel mit jeder beliebigen Aussage machen. Ein und derselbe Satz ruft in verschiedenen Gesellschaften unterschiedliche Assoziationen hervor. Das leuchtet ein. Interessanter aber ist der Umkehrschluß, auf den es mir eigentlich ankommt. Was passiert, wenn ich, der etwas erzahlen möchte, ein und denselben Satz, ein und denselben Stil auf zwei verschiedene Welten anwende?

Zwei Sätze wie: "Jim Gilmore kam aus Kanada nach Hortons Bay. Er kaufte dem alten Horton die Schmiede und den Eisenladen ab", taugen für die DDR nicht: "Harry Nelson kam aus Dresden nach Bernau. Er kaufte dem alten Meyer die Schmiede und den Eisenladen ab." Das ergibt keinen Sinn. So einfach ließ sich nicht über die Dinge verfügen. Wenn ich heute aber schreibe: "Harry Nelson kam...aus Frankfurt nach Altenburg. Er suchte nach Häusern, vor allem aber nach Bauland an den Zufahrtsstraßen zur Stadt", haben Sie den Anfang einer story, in diesem Fall das zweite Kapitel aus den Simplen Storys. Ich hatte versucht, Up in Michigan von Ernest Hemingway nachzuerzählen, und war überrascht, wie mühelos dieses Muster Gegenwärtiges in sich aufsaugte.

Ein Mietshaus war damals kein Kapital, ein Auto konnte man nicht so einfach kaufen. Ein Buch bedeutete mehr und zugleich weniger als ein Buch, eine Reise nach Budapest mußte nicht unbedingt eine Reise nach Budapest sein. Wenn Sie an diese Vergleiche denken, wird Ihnen vielleicht der Satz, daß mit dem Zeitenwechsel '89/’90 das Geld zu Geld wurde, die Dinge zu Waren wurden, verständlicher.

Ich könnte auch sagen: Das Muster Hemingway war für die DDR nicht angemessen. Die Bedeutung der Sprache, die Menschen in einem System benutzen, das vorrangig auf ideologischen Postulaten beruht, ist eine andere als die in einem System, das sich in erster Linie über die Ware, den Markt, das Geld zu regulieren sucht. Ich kann nicht ein und denselben Stil auf die Zeit vor und nach '89/’90 anwenden.

Das Angemessene als Gegenentwurf sowohl zu einem Fortschrittsdenken, das beispielsweise Hemingway ad acta legt, als auch als Gegenentwurf zur Beliebigkeit, die den Auflagenzahlen folgend das jeweils neueste goldene Kälbchen kürt. Wer nach dem Angemessenen sucht, für den gibt es keine veralteten literarischen Formen. Es gibt nur unangemessene Zusammenhänge. Zugleich wirkt auf mich dieses "Im Frühtau zu Berge, wir erzähln-endlich-Wallerah" peinlich unbedarft.

Das Angemessene kann wie bei Döblin ein "moderner Roman" sein wie der Alexanderplatz, ein indisches Epos wie Manas oder ein konventioneller Entwicklungsroman wie Pardon wird nicht gegeben. Bei Sorokin kann es der Stil idyllischer Dorfprosa, Propagandaphrasen oder die Liturgie schwarzer Messen sein. Der Kitsch in Molly Blooms Monolog, am Ende des Ulysses, ist genauso am Platz wie das jede Farbschattierung, jede Geste auffangende Beschreibungsgeflecht eines Robert Musil oder das Wortgehäcksle der Telefonmonologe bei William Gaddis.

Ein heutiger Roman ist auch immer eine Antwort auf die Frage: Wie ist es noch möglich zu erzählen? Wir haben unsere Antworten zu geben, nach Homer und Faulkner, nach Petronius und Joyce, nach Melville und Kafka, nach Dante und Beckett, nach Döblin, Hölderlin, Gaddis, Goethe und Arno Schmidt.

Vielleicht ist es ein erdrückender Anspruch, doch weit mehr sind es Möglichkeiten, Anregungen, Ermunterungen, um für unser Jetzt und Hier das Angemessene zu finden, den Königspfad auf der Suche nach dem Poetischen, dem mythologischen Element, dem Gegenwort, der Atemwende, dem Gleichnis, der Metapher, dem Zauberwort – um zu sagen, was ist. So wie ich hoffe, die Welt im Wassertropfen sehen zu können, so hoffe ich, indem ich versuchte, mich einer Frage zu stellen, auch andere Fragen berührt zu haben, was mitunter heißen kann, daß sich die Lösung eines Problems am Verschwinden der Frage zeigt.

Poetologische Überlegungen sind auch immer etwas traurig, weil sie das, worum es eigentlich geht, nicht herstellen können. Da es nichts Poetischeres gibt als einen Witz, möchte ich Ihnen zum Schluß noch einen meiner Lieblingswitze erzählen, der allerdings den großen Nachteil hat, daß ihn schon fast jeder kennt.

Als ich heute Vormittag in den Zug nach Köln stieg, fand ich nur noch in einem ziemlich verrauchten Abteil Platz, in dem sich am Fenster zwei Männer gegenübersaßen. Auf mein Nicken hatten sie nicht reagiert, sie schwiegen. Plötzlich aber nannte der mir schräg Gegenübersitzende eine Zahl, ich glaube, es war die 9, worauf der neben mir in schallendes Gelächter ausbrach. Kurze Zeit später sagte dieser wiederum: Zwölf! Worauf der andere loswieherte und sich auf die Schenkel schlug. Das wechselte auf diese Art und Weise ein paar mal hin und her, ohne daß ich verstand, worum es hier ging. Ich versuchte bestimmte wiederkehrende Zahlenintervalle auszumachen, mühte mich um Quersummen oder versuchte Daten oder Jahreszahlen zu entschlüsseln -- aber erfolglos. Wir näherten uns schon Wolfsburg, als ich endlich genug Entschlußkraft gesammelt hatte und fragte, was für ein Spiel sie dann da trieben. Erst schien es, als hatten sie die Frage überhört, dann aber gab der mir schräg gegenüber die knappe Auskunft: Sie hatten die ihnen bekannten Witze numeriert und sparten sich auf diese Weise das Erzählen.

Da ich ungern außerhalb des Kollektivs stehe bzw, sitze, nannte ich, noch ehe ich richtig darüber nachgedacht hatte, die Zahl 33, die meiner Meinung noch nicht vorgekommen war. Statt loszulachen sahen mich beide finster an.

"Haben Sie nicht so viele Witze?" fragte ich verlegen, obwohl schon weitaus höhere Zahlen genannt worden waren. Beide schüttelten den Kopf. "Erklär Du es ihm", sagte der mir schräg gegenüber. Der neben mir räusperte sich, blickte auf meine Schuhe und dann in mein Gesicht. "Junger Mann", erklärte er traurig, "die Dreiunddreißig muß man erzählen."

Ich habe trotz der beträchtlichen Redezeit das Gefühl, Sie nur mit Zahlen bombardiert zu haben. Sollten Sie mich wieder einmal einladen, würde ich Ihnen gerne etwas erzählen.




Mit freundlicher Genehmigung des Autors. Aus: Zuerst bin ich immer Leser. Prosa schreiben heute. Hrsg. Ute Christine Krupp und Ulrike Janssen (Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 2002) 80- 101.