rezensionen


Alkoholexzesse zwischen Kaff und Welt

In diesem Text soll ein aktueller deutscher Roman portraitiert werden, von dem ich glaube, dass er lohnt, gekannt zu werden: „Morbus fonticuli oder die Sehnsucht des Laien“ von Frank Schulz aus dem Jahr 2001.

Schon dieser barock anmutende Titel verrät, dass sein Autor nicht gewillt ist, sich bei den derzeit erfolgreichen Popliteraten und Fräuleinwundern einzureihen - temporeich erzählte Geschichten aus dem Leben großstädtischer Jung-Yuppies hat er nicht zu bieten. Schulz’ Bezugsgrößen sind älter – und größer: „Hagener Trilogie II“ lautet der Untertitel seines Romans - eine Anspielung auf die „Danziger Trilogie“ des deutschen Literaturnobelpreisträgers Günter Grass. Doch diese Anspielung signalisiert neben bewundernder Verehrung auch ironische Distanz: Das Dörfchen Hagen bei Stade ist wahrhaftig kein Danzig. Und der übergroße Adamsapfel, der in „Katz und Maus“, der „Danziger Trilogie II“, die erwachende Männlichkeit des Protagonisten auf verstörende Weise sichtbar macht, schrumpft bei Frank Schulz zu einem harmlosen „Hautnippel am Adamsapfel“. Wie eine Parodie auf Grass wirkt es, dass die körperliche Unregelmäßigkeit auch in der „Hagener Trilogie“ die geschlechtliche Befindlichkeit des Haupthelden irritiert, allerdings in umgekehrter Richtung: Der verunsicherte Held der Geschichte, Bodo Morten, schreibt dem „miniaturklitorisförmigen! Zapfen“ (409) an seinem Hals weibliche Fähigkeiten zu und nennt ihn schließlich seine „Adamsklitoris“ (410).

Ohne Zweifel hat sich Frank Schulz an Grass’ opulenter, handlungsreicher und legendenhafter „Danziger Trilogie“ orientiert, sein parodistischer Stil aber und die Neigung, das Alberne, Boshafte und Dumme seiner Zeitgenossen satirisch zu entlarven, verrät den Einfluss des Satirikers Eckhard Henscheid und seiner „Trilogie des laufenden Schwachsinns“.

Der wichtigste Lehrmeister des Autors ist jedoch – von Milieu- und Motivvorlieben bis hin zur Erzähltechnik – offensichtlich Arno Schmidt. Von Schmidt stammt ein zentraler Begriff von Schulz’ Roman: das „Kaff“. Bei Schmidt („Kaff auch Mare Crisium“, Roman, 1960) handelt es sich um das Dörfchen Giffendorf in der Lüneburger Heide, bei Schulz um das kaum hundert Kilometer davon entfernte Hagen nahe der Elbe. Bei Schmidt ist der Ort Mittelpunkt eines Handlungsstrangs, in welchem zwei Stadtmenschen überlegen, ob sie im Kaff nicht ruhiger und gesünder lebten; bei Schulz ist er Heimatdorf des Icherzählers und Bezugspunkt für den gesamten Text: Der Roman beginnt mit einem „Konvoi ins Kaff“, er endet mit Worterklärungen „niederdeutscher Sätze und Passagen“ sowie der Wiedergabe eines plattdeutschen Liedtextes; auch dazwischen durchbrechen immer wieder Erinnerungen an die Kindheit im Kaff die Gegenwartshandlung: an den Roten Schienenbus in die nahe Kreisstadt Stade, an den Glockenrock der verehrten Nachbarstochter Karin Kolk, an die plattdeutschen Sprüche der Oma („Häs du all wedder Heunerfutter freten?“, 695). Das Kaff ist unentrinnbar gegenwärtig – nicht anders als etwa der Jugendschreibtisch des Erzählers, „der einem seit dem Exodus aus dem Kaff folgte wie ein vermöbelter Dorftrottel.“ (143)

Auch stilistisch ist das Vorbild Arno Schmidt nicht zu verkennen: Beide mischen mit sichtbarer Freude am Grotesken Hochbildung und Niederdeutsch, literarische und politische Anspielungen und banalstes Gebrabbel, erfinden lautmalerisch Worte (der „Nagnag“ zum Beispiel ist ein klagendes Singsanggeräusch, das mitunter versoffenen Dorfbewohnerkehlen „entblökt“, 113 u.a.) und geben ebenso realistische wie hintersinnige Schilderungen des niedersächsischen Landlebens. Wie wahr ist beispielsweise folgendes von Schulz wiedergegebene Kneipengespräch über geschichtliche Ereignisse!

"und die erste Sendung war, als sie den, hier, die Lufthansamaschine da, die Landsknecht, nach Mallorc’äääääh Moda ... gischon, und den Schleyer abgeknipst haben und in Selb-, in Stamm-"

„Na und? Das war dreiundsiebzig! Das war dreiundsiebzig war das! Da war meine Nichte – nä, Bärbel? – grade f-"

„Quatsch!“ knurrte, jetzt aber an den Rand der Contenance getrieben, der Lodenmann. „Drei’n’siebzig, da ham se die Juden bei der Olympiade in Berlll-, in München –"

„Was heißt denn hier Juden“, staunte kühl Gundolf, mein Crosby-Stills-Nash-&-Young-Held; wußt ich’s doch. „Die Israelis!“ (280)

Wenn in Niedersachsen der Alkohol das Denken enthemmt, dann wird das berühmt gewordene Flugzeug mit dem Namen „Landshut“ ganz schnell mal zum Landsknecht, Mogadischu rückt in die Nähe des immerhin irgendwie bekannten Mallorca, dann hat der alte Mann im traditionellen Lodenmantel plötzlich wieder Hitlers Berliner Olympiade von 1936 im Kopf, und ein schüchterner Hippie mit esoterischem Vornamen sorgt für die Political Correctness.

Überhaupt ist das Trinken ein wichtiges Leitmotiv und Katalysator aller Geschehnisse in „Morbus fonticuli“. Vor allem verantwortlich dafür ist die Hauptfigur, der Hamburger Germanistikstudent Bodo Morten, der im Laufe der Romanhandlung sein Studium abbricht und als Redakteur eines Harburger Anzeigenblattes auch nicht glücklicher wird. Das Trinken aber beherrscht er. Für jede Situation, für jedes Gegenüber hat er die richtige Sorte an Alkohol zur Hand und kennt den passenden Trinkmodus. Wenn er mit seiner Frau Anita, genannt Nita, essen geht, konsumiert er „hastig Landwein“. Lauscht er mit seiner heimlichen Geliebten Bärbel Joe Cockers „You can leave your hat on“, dann hat er natürlich „einen sogenannten Drink“ in der Hand. Auf der Betriebsfeier mit seiner verklemmten Chefin Irmi Schröder wird Sekt gekippt, mit dem alten Säufer Hans-Hermann Dreyer dagegen Schnaps. Bodo Morten trinkt eigentlich immer, und er hat auch Grund dazu – an seinem tristen Leben ist einiges zu vergolden.

Ein Blick auf die Romanhandlung macht das deutlich. In „Morbus fonticuli“ wird – in kunstreicher Verschachtelung verschiedener Zeitebenen – das Leben Bodo Mortens zwischen 1987 und 1994 erzählt. Er stammt wie gesagt aus einem „Kaff“ bei Stade, hat aber zu Beginn der Erzählzeit „die schnödöde Jobberei in bruttosozialpoduktproduzierenden Handelsbetrieben“ (144) bereits längere Zeit hinter sich gelassen und versucht vergeblich, in Germanistikseminaren gleichaltrige Kommilitoninnen zu beeindrucken. Seine Traumfrau und Freundin, die kluge, hübsche Nita, setzt ihn unter Stress, indem sie ohne Rücksicht auf sein Phlegma ihr Leben zu meistern beginnt. 1987 kündigt sie ihren Job und fährt mit einer Freundin ein halbes Jahr in die USA, um Abenteuer zu suchen, was auch eine Liebesaffäre einschließt. Zurückgekommen unternimmt sie waghalsige Schritte in Richtung Selbstständigkeit und ist am Ende eine aktive, viel herumreisende Inhaberin eines gutgehenden Bekleidungsgeschäfts. Ähnlich ergeht es Mortens bestem Freund Satsche, der einst mit ihm aus dem Kaff nach Hamburg kam. Auch dieser verdient gut und pflegt eine auffällige Liebe zu den materiellen Dingen des Lebens. Wie Nita mit Geld, so hilft er seinem bedürftigen Freund öfter mit eleganten Kleidungsstücken aus, etwa wenn der Anlass das Tragen eines Sakkos oder einer Krawatte verlangt.

Bodos berufliche Ansätze sind nämlich weniger erfolgversprechend. Den Traum von der Schriftstellerei verdrängt er. Stattdessen tritt er während Nitas Amerikareise einen Studentenjob beim „Elbe-Echo“, einem Anzeigenblatt in Hamburg-Harburg, an, der sich bald zu seiner Hauptbeschäftigung auswächst und von der er trotz diverser Entlassungs- und Kündigungsversuche nicht loskommt. Gleichzeitig verstrickt er sich in eine amour fou mit Bärbel Befeld, einer Kellnerin aus der „Hexenkate“ in Harburg. Das von den Großstädtern verachtete Hamburg südlich der Elbe wird ihm zum Verhängnis. Nördlich der Elbe Bummelstudent und erfolgloses, meist leicht alkoholisiertes Anhängsel einer erfolgreichen Frau, spielt Bodo Morten im Süden, in Harburg, den vor Sarkasmus sprühenden, ausgebeuteten Journalisten, den wüsten Säufer und wilden Liebhaber. Ein Scheiternder bleibt er aber auch hier. Am Ende flüchtet er aus beiden Leben und vergräbt sich buchstäblich in einer Erdhöhle im Wald nahe seines Heimatdorfs.

All das erfährt der Leser aus einer Sammlung hinterlassener Schriften Bodo Mortens. Der Roman besteht zu einem großen Teil aus der Wiedergabe dieser Aufzeichnungen, die Anita und seine Freunde nach seiner Flucht auffinden. Neben tagebuchartigen Texten finden sich fiktive Interviews, in parodistischer Absicht verfasste Zeitungsartikel, Rezensionen des christlichen Sonntagskommentars aus der örtlichen Tageszeitung oder von aktuellen Flugblättern, daneben Kindheitserinnerungen und spontane Ideenskizzen, oft nur kleine Lautmalereien und Wortspiele, Schimpfwortorgien oder ordinäres Gelalle. Jeweils am Ende der Abschnitte findet man detailgenaue Notate über Nikotin- und Alkoholkonsum während des Schreibvorgangs.

Im Folgenden werde ich einen Aspekt, die Bedeutung des Alkohols, aus diesem Sammelsurium herausgreifen und mit seiner Hilfe versuchen, den Kern der Sehnsüchte freizulegen, die den Protagonisten zur Herstellung seines merkwürdigen Textkonvoluts trieben. Vielleicht kann das Alkoholmotiv auch der Analyse des ganzen Romans als Katalysator dienen und schon einige der Fragen beantworten, die der Hauptfigur Bodo Morten auf seiner langjährigen Reise aus dem heimatlichen Kaff in die Welt vom Autor in den Mund gelegt werden.

Ich schildere zunächst eine Situation aus dem Jahr 1989. Morten hat sich überreden lassen, seine Geliebte Bärbel auf eine Familienfeier zu begleiten. Ihr Opa wird 65 und feiert mit der Großfamilie im „Runden Eck“. Die Stimmung ist erdrückend. Es gibt keine Geschenke, keine Musik, nur einen riesigen, hell erleuchteten Saal voller schlecht gelaunter Menschen: „überwältigenden Böen totaler Reg- und Atemlosigkeit folgten kollektives Verschnaufen, Scharren, Räuspern und Dehnen – bis der nächste große Wind des Schweigens mit unwiderstehlicher Gewalt über unsere geduckten Nacken ging.“ Was Morten aus dieser Situation rettet, ist der Alkohol:

„Ich brauch dringend ’n Schnaps“, platzte ich heraus.
„In der Kneipe!“ krähte Irene entgegenkommend, als wollte sie sagen, wieso sagst du das nicht gleich. „Im Kühlschrank! Unterm Tresen! Nimm, nimm, mach! Kein Thema!“ (527)

Der Drang zum Tresen wird als menschliches Bedürfnis anerkannt, Morten darf die gruselige Veranstaltung verlassen und einen Barhocker im Gastraum erklimmen. Mit dem alten Säufer Hans-Hermann Dreyer huldigt er dort dem „Orden vom Doppelten Malteserkreuz“ (530). Die zahlreichen, hastig geleerten Schnäpse bewirken, dass Morten später, nach seiner unvermeidlichen Rückkehr auf die Feier, schlagartig betrunken wird. Seine Wahrnehmung verschiebt sich, einzelne Geräusche, Gerüche und Bilder lösen sich überdeutlich aus dem beklemmenden Gesamtzusammenhang.

[...] ich schien das unentwirrbare Schallgeknäuel im ganzen Saal plötzlich sortieren zu können [...] durch den nun enger und heller strukturierten Schleier konnte ich die Gesprächsschnipsel auf dem Weiß der Tischdecke sehen, in einer mir bisher unbekannten Schrift, die ich zugleich aber mühelos zu dechiffrieren fähig war, in dünnen schwarzen Hieroglyphen aufleuchten sehen konnte ich sie – „?döhßießmabluhndßn-faschdähßd; !a gä - !niemßd nochabießl faschierd’döß ?göll“, „!högßdnß nochn oranjensafdt“, „!unnennhaddadadie, unnennhaddadadie, - haddadadie, -!nah, !die,wßwolldichnsahng - !!achsoh:! unnennhaddadie, paa piebßl da, ma aufgemischddorr“ - - - (533f.)

Hatte Morten vorher nur in undifferenzierter Passivität unter der Situation gelitten, kann er nun plötzlich klar sehen, was genau um ihn herum grässlich ist. Der Alkohol verleiht dem kleinen Anzeigenblatt-Journalisten und verhinderten Schriftsteller eine (Schrift-)Sprache und mit der Sprache die Fähigkeit, persönlich und angemessen auf seine Umgebung zu reagieren. Morten wird schlecht. Er flieht aufs Klo. Mit Brechreiz über der Schüssel hängend, überkommt ihn Heimweh:

Ich dachte an Nita. Ich sah ihr Lächeln. Ich löste Satsches Krawatte und öffnete den obersten Hemdknopf. Mich packte so gewaltiges Verlangen, hemmungslos zu weinen, dass ich – weil nichts kam – einem neuen Anfall nur durch einen Kopfstoß gegens Kloknie ausweichen konnte. Die Flurtür quietschte. [...] Absätze auf den Fliesen. „Böckchen?“ Die Kabinentür wurde geöffnet. Ich sah ihre knöchelhohen Schnürstiefel, ihre starken nackten Schienbeine, die blanken Knäufe ihrer Knie [...] Und dann sah ich ihr ins Gesicht. Ich sah ihre asymmetrischen Gesichtszüge, ihre versetzten Lächelgrübchen, ihre unregelmäßig geschwungenen Lippen, [...] ihren dunklen Haarschopf. (535)

Bärbel ist gekommen, ihr „Böckchen“ retten. Morten bedankt sich – da er anders mit ihr nicht kommunizieren kann - mit Verführung zu sexuellen Handlungen. Sie geht darauf ein, lässt sich auch durch das Auftauchen eines Klogängers nicht stören. Zurück im Saal fühlt Morten endlich Kraft in sich: „Ah, ich hatte sie alle im Griff, zum Kuckuck, alle, die Schwafler, die Steher, die Sitzer.“ (541) Erst als das Familienoberhaupt beim Abschied durchblicken lässt, dass er es war, der die Kloszene beobachtet hat, sinkt Morten wieder in sich zusammen: „Filmriß, und das nächste Engramm zeigt, wie man [...] an den Reifen des Kadetten kotzt.“ (543)

Was hier erzählt wird, ist mehr als die minutiöse Beschreibung der Vorgänge nach dem Konsumieren größerer Mengen Schnaps. Es wird auch gezeigt, warum Morten trinkt: Es ist die einzig erlaubte Form des Zu-sich-selbst-Kommens. Schnaps macht mutig. Er befreit für Momente aus der Unterwerfung unter den feindlich empfundenen Familienclan, lässt Morten seine Gefühle für Nita wiederfinden, ermöglicht ihm einen liebevollen Blick auf Bärbel. Am Ende freilich folgt der unvermeidliche Absturz, ausgelöst durch den Patriarchen, der Mortens Ausbruchsversuch „in nach Greisenunterhose stinkender Vertraulichkeit“ (543) ins Zotige hinabzieht.

Der Alkohol also ist ein Mittel, die eigene Souveränität in beklemmenden, vereinnahmenden Situationen zu behaupten. Alkohol zeigt Bodo Morten auch den Weg zu dieser Souveränität: Er führt über die Begegnung mit der Frau. Für ihn besitzt dieser Zusammenhang eine derart zwingende Logik, dass ihm die Lust auf Alkohol und die Lust auf die Frau mitunter in eins verfließen: „Bärbel stillte mich mit gut gekühlten Bier.“ (259) lässt Morten über einen Besuch in der „Hexenkate“ verlauten, während er in seinem Leben nördlich der Elbe „Lustschreie des Nachts“ schmerzlich vermisst: „Ist denn unsereins der einzige in dieser Lehrer-, Werber-, Angestellten- und Juristengegend, der noch einen ausstößt? Zum Beispiel nach ’ner wilden Knutscherei mit ’nem Krug Bier?“ (552)

Natürlich funktioniert dieses Muster nur, solange die Retterin Frau – wie Bärbel – außerhalb der herrschenden Ordnung steht. Ist die Frau erfolgreich und Vertreterin ebendieser Ordnung, wohin dann mit der Sauf- und Sexlust? Morten begegnet dieses Problem in Gestalt seiner Chefin Irmi Schröder. Das erweist sich bei der Betriebsweihnachtsfeier 1988, als Irmi Schröder in Minirock und Trinklaune erscheint. Zum allem Überfluss sorgt auch noch die Nachricht vom plötzlichen Tod eines Mannes, des grundsympathischen Blumenhändlers Fredi Born, für Aufregung. Entsetzen und Sensationsgier heizt die Partystimmung an. Vor allem bei Irmi Schröder führt die Nachricht zu „Euphorie“ und sexueller Erregung („Schröder griff sich, ohne es zu merken, an die linke ihrer Brustfigurinen und fing an zu reden und zu reden.“) – für Morten ist es eine Warnung. Plötzlich weiß er, dass er leben will, „hinaus in die Welt gehen, lernen, lieben, lachen, staunen, kämpfen, saufen, rauchen, ...“ (425) Wieder ergreift ihn fast gleichzeitig Lust auf die Welt, auf Bärbel und auf Nita. Doch der masochistische Wunsch auf „Tabak und Vollrausch“ hält ihn auf der Party fest und führt ihn schließlich ins Bett der euphorischen Irmi Schröder. Morten ergibt sich einer Frau, in der Machtgefühl und erotische Lust zusammenkommen: Ihr Begehren kann sich nicht anders ausdrücken als durch ein zärtlich gelalltes „Sie sind entlassen.“ (440)

Angesichts einer Frau in einer Machtposition verfehlt das Trinken seinen Zweck. Alkoholische Freiheitsphantasien können ihre Wirkung nicht entfalten, wenn auch das feindliche Gegenüber betrunken und eine Frau ist. Was bleibt, ist der selbstzerstörerische Vollrausch und die Unterwerfung. Gegen Irmi Schröder hilft es nur, nicht zu saufen – wie an dem legendären Tag im Herbst 1987, als die gesamte Redaktionsbelegschaft in offener Meuterei einen Arbeitstag in ihrer Stammkneipe, dem „Schmutzfinken“, verbrachte und dabei vergleichsweise wenig Alkohol konsumierte.

Angesichts dieser Umstände ist es verständlich, weshalb Bodo Morten mit seiner Frau Nita weder Sex haben noch genüsslich saufen kann. Seit sie ihn für eine kurze Zeit verlassen und sogar betrogen hat und gerade dadurch zu einer erfüllenden Berufsperspektive fand, hat er es sich trotzig in der Erfolglosigkeit bequem gemacht und die Lust, den Genuss auf die Südseite der Elbe verlagert. „Nita“, das klingt verdächtig nach „Nispa“, der Niedersächsischen Sparkasse, bei der Morten seit Jahren ein unausgeglichenes Konto besitzt. Auch als er durch das Verfassen eines pornographischen Romans überraschend zu Geld kommt, besteht er auf diesem Defizit und eröffnet lieber ein Konto bei einer anderen Bank. Für Nita und Nispa muss er in der Erfolglosigkeit verharren.

Es ist eine jungenhafte Ängstlichkeit vor Autoritäten jeder Art, die Bodo Mortens Drang in die Freiheit, zur Lust und zum Erfolg bremst. Dabei macht es kaum einen Unterschied, ob diese Autoritäten der großen Welt angehören wie die weltläufige Diplomatentochter Nita – oder aber der heimischen Provinz wie die regionale Sparkasse. Kaff und Welt sind zwei Seiten derselben Medaille. Seit der jugendliche Morten mit seinem Kumpel Volli einst nachmittags „per Anhalter in die Stadt, zu Karin und ihrer Freundin“ gefahren und um elf Uhr abends entjungfert zurückgekommen war (713), glaubt er, sich durch Ortswechsel auch innerlich die Welt erschließen zu können – ein folgenschwerer Irrtum. Auch nach seinem eigenen Umzug in die Großstadt nördlich der Elbe bleibt er der naive Provinzler, der nicht weiß, was er will, und mit wechselnden Freundinnen „- wie’s die Etikette nun mal vorschreibt – höflich Penetration machen musste“ (144).

Entsprechend ist es kein Wunder, dass Bodos daheim im Kaff gebliebener Jugendfreund Volli und seine Hamburger Freundin Nita sich „beinahe wie Geschwister“ ähneln: „Sie waren gleich groß, und sie glichen sich in ihrem feingliedrigen Körperbau, der auf den zweiten Blick jene Zähigkeit ahnen ließ, die insbesondere kleineren Menschen nicht selten eigen ist“ (25). Der Autobahntunnel unter der Elbe hindurch, der die Welten von Volli und Nita miteinander verbindet, wird vom Helden des Romans gern als „Arschloch zur Welt“ bezeichnet. In welcher Richtung er ihn auch immer durchfährt, immer hofft Morten, zur Welt durchzudringen, und immer wird er in seiner Hoffnung enttäuscht.

Zur wirklichen Befreiung kommt es erst in der Schlussszene des Romans, als alle Hauptpersonen in einem wahren Showdown aufeinandertreffen. Der Autor hilft hier seinem Haupthelden mit erzähltechnischen Trick: Er lässt Anita und Volli aus der Geschichte ausscheiden. Anita erleidet einen Lachanfall, der allgemein als Nervenzusammenbruch bewertet wird und zu ihrem Abtransport ins Krankenhaus führt. Volli dagegen konsumiert zuviel Joints und Biere, so dass er bald darauf einschläft. Derart befreit kann Bodo Morten einen letzten, wildesten Liebesakt mit seiner Bärbel genießen (während Blitze zucken und ein Gewitterregen niedergeht) und dann in ein imaginäres, märchenhaftes Griechenland entschwinden, während die Überreste seines Hamburger Lebens zurück in die Provinz wandern: „Die Sachen sind auf Gartenhäuschen und Schuppen, Böden und Keller meiner Schwestern verteilt.“ (727)

Natürlich lässt dieses konstruierte Ende etwas unbefriedigt, wie ja auch die Figur, die die Erweckung Bodo Mortens zum Leben herbeiführt, in ihrer nahezu göttlichen erotischen Ausstrahlung auf unglaubhafte Weise überhöht wirkt. Allein weil Bärbel Befeld aus Hamburg-Harburg stammt, nimmt sie in „Morbus fonticuli“ die Rolle der Retterin ein. Harburg, dieser provinzielle Hamburger Stadtteil am Südufer der Elbe, vermittelt schon durch seine Lage zwischen Kaff und Großstadt, und die Harburgerin verkörpert entsprechend die Ganzheit des Lebens.

Diese These mag naiv anmuten. Und sicher ist das eine Schwäche in der Konstruktion des Romans. Sie führt dazu, dass viele der Liebesnächte und -tage mit Bärbel in der Beschreibung durch Morten banal bleiben, ja gerade den Witz und die Treffsicherheit der Beobachtung vermissen lassen, die seine Notate über weite Strecken zu einem so außerordentlichen Lesegenuss machen. Vielleicht ist aber auch das eine Wahrheit über die Welt, die der junge Provinzler einen langen Roman über verzweifelt sucht: Der ganze Kampf darum, die Welt zu verstehen und in ihr seinen Platz zu finden, und all die Erinnerungen, Beobachtungen, Wortgefechte, die dabei eine Rolle spielen - im Moment der Erkenntnis und des Glücks schmelzen sie zusammen in einen simplen Satz: „Gott, ein Globus von Hintern!“. (186)

Martin Schönemann