Glossen Sonderausgabe/Special Issue: 19/2004

Neues Spiel mit einem alten Genre in Ost und West: Zu Adolf Endlers Warnung vor Utah und Ulrich Woelks Amerikanische Reise
Wolfgang Ertl

Das Interesse der Europäer für Amerika äußert sich auch am Anfang des 21. Jahrhunderts in Faszination mit der amerikanischen Großstadt, vor allem der Metropole New York, und den vielfältigen Landschaften und Naturschönheiten des Kontinentes. In den ebenfalls weiterhin anzutreffenden kritischen und skeptischen Einstellungen vieler europäischer Intellektueller, sowie manchen arroganten antiamerikanischen Aufgeregtheiten, wie immer sie motiviert sind und welcher tagespolitische Anlaß sie auch auslöst, manifestiert sich letztlich auch, wenn auch im negativen Sinne, dieses lebendige Interesse.

Seit der Auflösung der Sowjetunion und dem Untergang der kommunistischen Regime in ihrem Machtbereich verbleiben die Vereinigten Staaten als einzige Weltmacht. Diese neuartige weltpolitische Konstellation führte zwangsweise zu mehr oder weniger schwerwiegenden Verschiebungen im globalen Geflecht der Allianzen und Auseinandersetzungen. Breite Teile der Bevölkerung in den europäischen Ländern gingen auf die Straße, um gegen die beiden Irak-Kriege zu demonstrieren. Prominente Schriftsteller und Künstler meldeten sich zu Wort und stimmten meist ein in den Chor der Kritiker amerikanischer Außenpolitik und ihrer militanten Machtdemonstration.

Jüngst auf "den wachsenden Antiamerikanismus in Europa" angesprochen, mußte der in Polen geborene amerikanische Schriftsteller Louis Begley allerdings lachen, handle es sich doch um "die älteste und müdeste aller Zeitungsenten":

Der Antiamerikanismus ist so alt wie Yankee Doodle; er entstand zusammen mit den dreizehn abtrünnigen amerikanischen Kolonien. Während des ganzen neunzehnten Jahrhunderts haben europäische Schriftsteller sich ein Vergnügen daraus gemacht, über eine Reihe amerikanischer Stereotypen herzufallen: den amerikanischen Hinterwäldler; Sklavenbesitzer, Sklavenhändler und Sklavenjäger; neureiche Amerikaner, die nach kultureller Verfeinerung gieren, aber nicht einmal wissen, wie man mit Messer, Gabel und Löffel umgeht; steinreiche amerikanische Mütter und Väter, die in Europa Alte Meister aufkaufen und nach aristokratischen Ehemännern für ihre Töchter Ausschau halten; amerikanische Cowboys und Indianer und korrupte, vulgäre Politiker.[1]

Amerika hat seine Anziehungskraft für viele deutsche Schriftsteller und Künstler bekanntlich auch im 20. Jahrhundert nicht verloren. Das Thema erweist sich als schier unerschöpflich; es schreckt die Autoren am Ende auch nicht ab, daß das Thema so viel beackert ist. Adolf Endler zum Beispiel stellt sich am Anfang seines 1996 erschienenen Buches Warnung vor Utah. Momente einer USA-Reise [2] die Frage, ob man überhaupt noch ein Buch über die USA schreiben könne, "als wäre es das erste dieser Art nach geraumer Zeit" (9). Es bedürfe vielleicht "einer gewissen naiven Jungfräulichkeit oder Greenhornhaftigkeit des Blicks als Voraussetzung, ja vielleicht sogar als Legitimation der Niederschrift eines derartigen Büchelchens, das ja nicht letzte bzw. vorletzte Wahrheiten über das bereiste Land, die bereisten Landschaften mitteilen, sondern einigermaßen munter und verantwortungslos 'subjektive' Eindrücke wiedergeben will" (9). Die Naivität ist bei Endler allerdings weitgehend selbstironisch vorgetäuscht, gespielt.

Adolf Endler, 1930 in Düsseldorf geboren, ist 1955 in die DDR gezogen, um dort bald eher eine Außenseiterrolle zu spielen. 1990 besuchte er zum ersten Mal die Vereinigten Staaten, woraufhin er übrigens mitteilte, er "wüßte keine Summe zu ziehen von all dem" und hätte festgestellt, daß auch "die Amerikaner [...] diese Summe nicht zu ziehen" wüßten. "Man müßte vielleicht 100 Eindrücke zusammenstellen in einer impressionistischen Art, die man dem Leser als Puzzle überläßt".[3] Erst nach seiner zweiten Reise mit seiner Frau Brigitte in die USA hat er ein solches literarisches Puzzle-Spiel vorgelegt.

Den Vorschlag eines hessischen Bankkaufmanns, doch am besten mit dem Flugzeug zu reisen und die langweiligen Autobahnen zu meiden, in den Wind schlagend, fahren die beiden mit dem Auto durch das Land: "Wir hätten auch dann die Highways bevorzugt, die keinesfalls langweiligen, wenn in den Aeroplanen, auf den Airports des Landes das Rauchen erlaubt gewesen wäre. Noch lieber als die Highways sind uns jedoch die verrufensten Wald- und Wüstenwege gewesen" (10, 11). In den aneinandergereihten feuilletonähnlichen Notizen geht es dann oft um recht alltägliche Angelegenheiten, wie zum Beispiel die "quälerische Auseinandersetzung" (19) mit den ungewohnten Geräuschen in den Motels, verursacht durch Klimaanlage, Eismaschine, Whirlpool und Waschmaschinenkammer. Geschildert wird unbekümmert auch eher Abgedroschenes, wie ein baptistischer Gottesdienst mit einem Wanderprediger, neben Abwegigerem wie der kultischen Versammlung der "Friends of the Henry Miller Library" in Big Sur in Kalifornien. Verschmitzt erwägt der Autor selbst eine Erklärung für den Mangel an ausführlicheren Berichten: "Daß mein Notizbuch aber sogar auf dieser Reise durch Kalifornien, Arizona, New Mexico, Colorado, Utah und Nevada so deprimierend leer bleibt und nur ganz selten ein Halbsätzlein in es hineingeschnibbelt wird, dafür ist vielleicht auch das dürftige Rauchwarenangebot in all diesen Staaten verantwortlich zu machen" (92). Immerhin schreibt allerdings ein Rezensent im Neuen Deutschland, daß dieses Buch "mehr Information als hundert Hollywoodfilme" biete und "[m]anchem gar [...] einen Amerikatrip" erspare."[4]

Endlers Neugier gilt in ganz besonderem Maße dem Vergleich seiner durch die Lektüre vieler amerikanischer Autoren gewonnenen Vorstellungen mit der selbst erlebten Wirklichkeit, wobei auch das historische Interesse daran, was sich verändert hat und was noch übrig geblieben ist, eine Rolle spielt. So hat Endler als Reiselektüre Thomas Pynchons Vineland von 1993 im Gepäck, und seine Frau Brigitte liest Jack Kerouacs On the Road, 1957 erschienen, auf der Reise in den Südwesten der Staaten. On the Road ist erst 1980 in der DDR erschienen, war aber schon vorher eines "der 'Kultbücher' der DDR-Jugend" (15). Eine gewisse Affinität des rebellischen Prenzlauer-Berg-Dichters Endler mit den Beatniks der fünfziger und sechziger Jahre, die ihrerseits die "amerikanischen Weiten im Geist Walt Whitmans" (18) wiederentdeckt hatten, ist unverkennbar. In seinen Reisenotizen tauchen aber neben Jack Kerouac und Allen Ginsberg auch Reflexionen über John Steinbeck, Mark Twain, Ambrose Bierce, Ernest Hemingway, Henry Miller, Frank Waters und Norman Mailer auf.

Mit seinem Literaturtourismus, den witzigen Beschreibungen der Reiseabenteuer auf der Autofahrt durch das Land und den sarkastischen Betrachtungen, etwa zu dem Kontrast zwischen dem Mormonenstaat Utah und dem benachbarten Sündenpfuhl Nevada, steht Endlers Buch durchaus in der reichen Tradition der aufklärerischen und unterhaltsamen Reisebücher.

Auch die Neigung zum Vergleich mit der eigenen Heimat und Selbstreflexion teilt Endler mit vielen Verfassern solcher Literatur. So ertappt er sich bei seinen Betrachtungen der durch Steinbeck legendär gewordenen "Cannery Row" in Monterey, Kalifornien, bei Erinnerungen an den "Bitterfelder Weg". Angesichts der amerikanischen Abkürzung WWII, auf die er in einer Zeitschrift stößt, fühlt er sich an die Abkürzungen "im Umkreis des Stasiakten-Whirlpools" erinnert (36). Selbst beim Besuch des Grand Canyon lassen ihn seine Gedanken an die Lektüre seiner eigenen Stasi-Akte nicht los. Der Kunstbetrieb und die überall verstreute "Junk Art" in den Ghost Towns von New Mexico mit ihrem Hang zum "Abseitigen, aber auch spontan Zusammengefummelten" läßt den Reisenden "hin und wieder ordentlich erschauern" und erinnert ihn "an allerlei Hinterhofkunst im Prenzlauer Berg" (77). Die vom Ex-Präsidenten Ronald Reagan so geschätzte "Western Art" mit ihrer Historienmalerei und ihren Landschaften "im realistischen Stil mit zuweilen kühnem impressionistischen Touch" dagegen scheint ihm "Ähnlichkeiten mit den Spitzenwerken des 'Sozialistischen Realismus' der Stalin-Ära" (79) aufzuweisen.

Obwohl das Buch "selbstverständlich im wesentlichen von Land und Leuten und sehr viel weniger von den Unpäßlichkeiten und Mißstimmungen des Autors" (10) handelt, gerät es unvermeidlich auch zu einem Buch über den Verfasser, einer Art "Kapitel seiner Autobiographie" (9), "das streckenweise selbst erzählerisch-romanhafte Züge annehmen möchte" (9). Endler verwahrt sich aber ausdrücklich gegen die vom Verlag in der Vorwerbung für das Buch benutzte Genrebezeichnung Roman. Auch käme der ursprünglich anvisierte Buchtitel "Der Kettenraucher von Mexican Water" dem Charakter des Buches näher, besonders da er die Leser gleich auf die das ganze Buch durchziehenden Nörgeleien des Erzählers über "die Folgen der militanten Anti-Raucherkampagne in den USA" (10) vorbereitet hätte.

In einer Rezension in Die Zeit wird übrigens die Vermutung geäußert, "die Berichte über die Nachbarstaaten Utah und Nevada [könnte man] zuerst als literarisch verschnurrte Wirklichkeitsauskunft lesen und dann, sozusagen als Zugabe, noch einmal als Parodie deutsch-deutscher Verhältnisse: hier der sorgende und beengende und kontrollierende Mormonenstaat Utah mit der Hauptstadt Salt Lake City, dort das halbseidene und gefährliche und verlockende Spielerparadies Nevada mit Las Vegas und Reno."[5]

Obwohl in der Presse meist wohlwollend aufgenommen, entsprechen Endlers oft schnippische Reiseaufzeichnungen und Selbstbetrachtungen nicht dem Geschmack aller Rezensenten. In der Wochenschrift Freitag zum Beispiel heißt es geradezu boshaft: "Das ist leider kaum der Humor, den wir am Tarzan vom Prenzlauer Berg schätzten, nicht dessen grimmige Kantigkeit, sondern meist bloß Hermannkantigkeit."[6]

Ulrich Woelks Roman Amerikanische Reise, 1996 erschienen, zählt sicher mit zu den bemerkenswertesten neueren Prosawerken, die sich dem Thema Amerika zuwenden.[7] Das Buch unterscheidet sich dabei von anderen fiktionalen oder nichtfiktionalen Reisebüchern weniger durch verfeinerte Beobachtung als durch die etwas ungewöhnliche Konstruktion der Handlung oder vielmehr der Figuren-Konstellation und die durch den auktorialen Erzähler ermöglichte Reflexionsebene. Es fehlt nicht an altbewährten Erzähltechniken wie der Erhöhung der Spannung durch den Handlungsverlauf verzögernde Erzählerkommentare und Reflexionen, der Vermeidung gänzlich linearer Erzählweise durch Darstellung der Ermordung des Protagonisten bereits nach den ersten zwei Dritteln des Buches und Nachholen der Details seiner Autofahrt in den Westen des Landes im dritten Teil, sowie das symbolische Geflecht zahlreicher leitmotivischer Bilder und Vorankündigungen.

Amerikanische Reise ist der dritte Roman des 1960 geborenen Autors, dessen beide erste Romane Freigang (1990) und Rückspiel (1993) von der Kritik viel beachtet wurden, und der inzwischen zwei weitere Romane vorgelegt hat. 2001 erschien Liebespaare und 2002 Die letzte Vorstellung. Er ist in Köln aufgewachsen und hat in Tübingen Physik studiert und seine Diplomarbeit über Chaostheorie geschrieben. Sein Studium der Physik schloß er 1991 mit der Promotion am Institut für Astronomie und Astrophysik der Technischen Universität Berlin ab, wo er auch bis 1994 tätig war. Seitdem lebt er in Berlin als freischaffender Schriftsteller.

Die Fabel des Romans ist nicht sonderlich kompliziert. Es handelt sich um eine Art Beziehungskiste, die mehr oder wenig zufällig in den USA spielt: Der deutsche Journalist Jan besucht zwei deutsche Freunde, die seit vier Jahren in den USA leben. Ein zweiwöchiger Urlaub ist geplant, wobei der Protagonist keine besonderen Erwartungen zu haben scheint, zumindest, was Land und Leute betrifft. Sein alter Freund Walter arbeitet als Börsenmakler an einer amerikanischen Bank, und dessen Frau Kristin, für die sich Jan allerdings schon immer interessiert hat, ist studierte Mathematikerin, macht jetzt aber die Buchhaltung für eine Künstlergalerie. Jan zieht zwar dauernd wechselnde Liebschaften einer festen Bindung vor, seine Zuneigung zu Kristin bringt aber sein ansonsten eher unsentimentales hedonistisches Verhältnis zum anderen Geschlecht ins Wanken. Er scheint sich ernsthaft in sie verliebt zu haben, sieht sich auch von Anfang an als Nebenbuhler Walters. Es stellt sich auch schnell heraus, daß die Ehe der beiden kriselt. Nach einem Streit Kristins mit ihrem Mann, ausgelöst durch dessen Verurteilung ihres Verhältnisses mit dem Photographen Rick, für den sie als Nacktmodell saß, macht Kristin sich zusammen mit Jan auf eine Reise mit dem Auto in Richtung Westen, zuerst nach Chicago und dann weiter bis in die Bad Lands von South Dakota. Daraus ergibt sich eine Episode in der Tradition des Road-Romans oder Road-Movies, auf die noch zu kommen ist.

Wichtiger als das Reiseerlebnis ist aber die Beleuchtung der Figurenkonstellation der Mittdreißiger. Kristin weist Jans sexuelle Annäherungsversuche zurück, es kommt dann in den Black Hills zu einer Zufallsbekanntschaft mit einem amerikanischen Paar und einer Sexnacht zu viert. Durch einen Telephonanruf erfährt Kristin, daß Walter wegen illegaler Börsenspekulationen in Schwierigkeiten stecke, hinter denen sein Kollege Neil stehe, die bald dazu führen, daß er seinen Job verliert und Kristin und er das Land verlassen müssen. Abrupt brechen Kristin und Jan die Reise ab und fahren zurück nach New York. Inzwischen hat Walter aus Rache Neils Frau Cindy vergewaltigt. Nach einem Streit des Ehepaares, verläßt Jan die Wohnung, um sich in der Stadt umzusehen. Er wird von zwei Jugendlichen im Busbahnhof überfallen und erstochen. Am Ende finden wir das Paar in Deutschland wieder und erfahren, daß Kristin selbst hinter den Betrugsmanövern steht.

Die Faszination mit den USA oder zumindest beobachtende, erkundende Neugier zeigt sich in vielen ausmalenden Passagen, die Atmosphärisches festhalten, oft mit einer ausgeprägten Neigung zu erlesener Metaphorik. Beschrieben werden dabei Nebensächlichkeiten ebenso akribisch wie spektakuläre Landschaften auf der Reise in den Westen des Landes. Schon beim Landen des Flugzeuges in New York kommt die Beschreibungslust des Journalisten Jan zum Vorschein, auch wenn es sich nur um die Beobachtung handelt, daß es in Amerika nicht anders aussieht als in Europa: "Die amerikanische Erde sieht nicht anders aus als die europäische, ein von Straßen durchschnittenes braun-grünes Mosaik, der Planet ist parzelliert. Die Autobahnkreuze liegen wie vierblättriger Klee in der Landschaft, daneben das Meer, gesäumt von einem schnurgeraden, weißen Band und fingerbreiten Haffseen im Hinterland. Das Wasser glänzt im Gegenlicht wie grobporiges Leder" (15). Auf der Fahrt durch die Bad Lands in South Dakota vermeint Jan sich "in einer Art Urlandschaft oder Atombombentestgebiet" (206) zu befinden.

Ansonsten ist das Buch eine wahre Fundgrube für alle Vorurteile, Stereotypen und Klischees, allerdings weniger im Sinne von Begleys Auflistung der stereotypen Objekte schriftstellerischer Entlarvungslust des 19. Jahrhunderts. In Woelks Buch geht es meist um nüchterne Bestandsaufnahme, nicht um vergnügliches oder selbstgefälliges Aufdecken amerikanischer Fehler und Schwächen. Soweit die Dinge aus der Perspektive des reisenden Protagonisten Jan präsentiert werden (es ist nicht immer klar auszumachen, ob nicht doch eine allwissende Erzählinstanz oder der Autor selbst hinter den Äußerungen und Darlegungen steht), geht es in der Regel um eher neutrale Feststellungen. Ohnehin ist Jan ohne besondere Erwartungen angereist: "Lohnt es überhaupt, in die Vereinigten Staaten zu fahren, nachdem man in ungezählten Fernsehserien, Filmen und Nachrichten bereits dort gewesen ist? Der erste Besuch ist bereits der zweite mit all seinen Enttäuschungen und Ernüchterungen" (200). Es scheint auch nur bedingt das Anliegen des Touristen Jan zu sein, das "wahre" oder authentische Amerika zu suchen oder zu unterscheiden vom Abbild in den Medien. So heißt es am Anfang des Buches, als Jan mit Walter durch die Straßen New Yorks fährt: "Filmszenen schieben sich über die Wahrnehmung, Verfolgungsjagden in Vorabendserien. Amerika gleicht Amerika" (23).

Es gibt auch so manches, was dem Reisenden gar nicht fremd oder typisch amerikanisch erscheint. Die Graffiti, die Jan auf dem Weg vom Flughafen zur Wohnung seiner Freunde sieht, kommen ihm vor wie "[n]icht zu entziffernde Runen einer unsichtbaren Kultur, die sich über den ganzen Planeten ausgebreitet hat": "Die gleichen gesprühten Rätsel, egal, ob in Berlin oder New York. So verschieden kann die europäische Jugend von der amerikanischen nicht sein" (32).

Nachdem Jan sich von Kristin und Walter verabschiedet, um sie mit ihrem Ehestreit allein zu lassen, entladen sich allerdings doch seine negativen Stimmungen gegenüber Amerika, das er bisher eher neutral oder wohlwollend betrachtet hat: "Jetzt steigt eine Abrechnung mit den USA in ihm auf, über die er nichts weiß und die er dennoch beschuldigt, nichts als eine Müll- und Verschwendungsgesellschaft zu sein, ein ölfressendes Monstrum, das dabei ist, die Erde in kürzester Zeit zu plündern, und sich bereits zum Kampf um die letzten Ressourcen rüstet, zu einem weltweiten Desert Storm, dessen propagandistisches Ziel die Beseitigung des Bösen ist, das im naiven Weltverständnis der US-Zivilisation einem Krebsgeschwür gleicht, das nur herausgeschnitten werden muß - und welchen besseren Chirurgen könnte es dafür geben als die USA selbst, die behaupten, mit ihren modernen Waffen einen Krieg wie mit dem Seziermesser führen zu können, und am Ende ist die Welt geheilt." (149, 150) Es geht dann weiter in einem Schwall von Ausfällen und Gedanken zum Thema Sexualität und Gewalt. Das Land sei "trotz scheinbar sündiger Städte, fest im Griff eines geschlossenen ländlich-religiösen Weltbildes", und "Gewalt eine Artikulation unterdrückter Sexualität" (150).

Am Anfang des Epiloges stößt der Leser dann auf eine ganze Litanei von stereotypischen Einfällen zum Thema Amerika. Sie sind durch Schrägdruck als Zitat markiert und werden auch nicht weiter kommentiert. Unvermittelt folgt eine Szene, die uns Kristin zwei Jahre nach der Übersiedelung nach Deutschland in der neuen Wohnung des Ehepaares vorführt. Hier einige Ausschnitte aus der langen Aufzählung:

Was einem zu den USA einfällt: Hollywood, die Mondlandung, Vietnam. Endlose Highways. Marlboro-Country. Der Grand Canyon, das Monument Valley. John Wayne und James Dean. Mickey Maus. Bildungslose Menschen, naiv und begeisterungsfähig [...]. Interesse für Politik, wenn überhaupt, dann als Show. Ein Volk von Wahlkampfwimpelchenschwenkern und Präsidentschaftskandidatenbeschreiern. Der Mord an John F. Kennedy. CNN und CIA. Fernsehen, Fast Food und Wolkenkratzer. Die Kriminalität in den Städten. Straßengangs. Schußwaffen für jedermann. Ein Volk aus Guten, Bösen und Geschworenen. Der Kreuzzug gegen das Rauchen. [...] Der amerikanische Traum. Vom Tellerwäscher zum Millionär. Das Recht des Stärkeren. [...] Das Elend auf den Straßen. [...] Ein Volk aus vielen Armen und wenigen Reichen. [...] Rockefeller und Bill Gates. Die ungenierte Zurschaustellung von Reichtum. Eine Verschwendungsgesellschaft, die dabei ist, die Erde in kürzester Zeit zu plündern, und sich bereits zum Kampf um die letzten Ressourcen rüstet. Desert Storm. Die Überzeugung, auf der Seite von Recht und Moral zu stehen. [...] Das Ideal des schönen Menschen. Gebräunte Männer und vollbusige Frauen an sonnenglitzernden Swimmingpools. Der Körperkult. [...] Gesundheitsfanatiker und Stadtneurotiker. Ein Volk von sexuellen Belästigern und sexuell Belästigten. (237, 238)

Dieses Sammelsurium läßt sich als Zitatanhäufung des Autors selbst verstehen, wobei es sich einfach um eine nicht weiter kommentierte Bestandsaufnahme dessen handelt, was sich am Ende des 20. Jahrhunderts an Ansichten zum Thema Amerika finden läßt. Möglich wäre auch, es als Materialsammlung Jans anzusehen, der immerhin Journalist von Beruf ist und, wie wir erfahren, als Gedächtnisstütze auf Reisen Tonbänder mit allem Möglichen, einschließlich seiner Frauengeschichten, bespricht. Der fast atemlosen Aufzählung ist zwar ein gewisses Pathos nicht abzusprechen, die ansonsten unvermittelte und unaufgeregte Zusammenstellung entspricht aber durchaus der Mentalität des unmäßigen Gefühlsausbrüchen völlig abholden, im Grunde illusionslosen Amerikatouristen Jan.

Zur Lebensphilosophie des Protagonisten heißt es: "Jan hat nie Glück und Harmonie gesucht, und der Wunsch danach ist ihm stets fremd geblieben. Er hat darin immer nur eine Täuschung sehen können, und er glaubt, daß es an der Zeit ist zu lernen, ohne sie auszukommen. Sinnvoll erscheint es ihm, sich das Leben möglichst angenehm einzurichten, ohne darüber hinaus etwas von ihm zu verlangen" (38). Der Buddhismus mit seinem Nirwana als Endstadium scheint ihm die "einzig akzeptable Vorstellung vom Ende der Existenz" zu haben, wenn man vom dem Glauben an Wiedergeburtszyklen absehe (204). So steht auch am Ende der Szene, die schildert, wie er von Jugendlichen erstochen wird, das Wort Nirwana (157). Es ist allerdings auch nur Zitat und bezieht sich auf ein Werbeplakat für Parfum, auf dem die Worte ecstasy, bliss, nirwana erscheinen und dem Jans letzte Betrachtungen vor seiner Ermordung galten.

Die anderen beiden Figuren in der Dreieckskonstellation, so stellt sich heraus, sind in mancher Beziehung doch erstaunlich oberflächlich, gefühlskalt, im Grunde auch berechnend und verlogen. Die wenigen amerikanischen Freunde und Bekannte, wie zum Beispiel der Photograph Rick, Walters Arbeitskollege Neil und dessen Frau Cindy, die Touristen Hank and Ariel werden nur skizzenhaft charakterisiert und bleiben eher blaß im Hintergrund.

Obgleich diese Geschichte auch anderswo hätte spielen können, liefert die amerikanische Kulisse doch wesentlich mehr als den atmosphärischen Hintergrund. Zu den Reflexionen Jans bzw. des Erzählers über alles Mögliche vom Rauchen und Fliegen zur Chaostheorie und den Tricks der Romanschriftsteller, ihren Erzählungen Glaubwürdigkeit zu verleihen, gehören auch grundsätzlichere Betrachtungen über Amerika. Sie werden offensichtlich auch mehr oder weniger auf das Handlungsgeschehen, die Weltsicht und Lebensweise der Charaktere bezogen.

So zum Beispiel eine interessante Passage über den biblischen Satz "Du sollst dir kein Bildnis machen" und die mögliche Bedeutung dieses eigentlich nicht nur Bildnisse Gottes betreffende Verbot, sondern Bilddarstellungen aller Art. "Offenbar wurde zu mosaischen Zeiten in einer Verbildlichung der Welt eine der größten Gefahren für das Wohl der Menschheit beziehungsweise des jüdischen Volkes gesehen." (46) Es geht dann um die Erfolglosigkeit dieses Gebots und die besondere Vormachtstellung der USA, was die die Wirklichkeit überhaupt erst produzierende Welt der Bilder betrifft. Das Resultat werde bald sein: "eine permanente Spaßsimulation auf einem völlig neu entdeckten virtuellen Kontinent, einem Überamerika, das nirgendwo ist und gleichzeitig überall" (48). In diesem Sinne, so könnte man folgern, repräsentieren die USA den Stand der Zivilisation.

Am Anfang des Bad Land-Kapitels stehen Reflexionen über die Gründe für Amerikas Erfolg: Das "durch eine einfache Einwanderermentalität" geprägte Amerika sei "erfolgreich, weil es nie eine andere Chance hatte, als erfolgreich zu sein": "Entweder man hat Erfolg, oder man geht unter" (165). Hierauf folgen aufschlußreiche Überlegungen zum Begriff "Erfolg", abgeleitet von der Etymologie des Wortes: "Das deutsche Wort Erfolg hat zwei Aspekte: Zum einen ist es dynamisch, Folgen ist eine Bewegung, und wer einem Menschen oder einer Idee folgt, bleibt nicht stehen. Zum anderen ist Folgen keine wirklich freie Bewegung, sie ist gebunden an dasjenige, dem man folgt. Man hat keinen Einfluß auf die Richtung, in die man geht. Die Dynamik ist eine zwanghafte" (165). Von hier scheinen sich Analogien zu ergeben zu den Betrachtungen über die Chaostheorie, wenn es heißt: "Und da es im Leben zweifellos Chaotisches, Unerwartetes und Katastrophen gibt, kann man daraus nur den Schluß ziehen, daß jedes Leben aus dem Ungefähren hervorgeht und daß es keine Möglichkeit gibt, sich daraus zu befreien" (181).

Als eine Art Leitmotiv in dem Roman dient übrigens der für die erzählte Zeit des Romans exakt vorausberechnete Aufprall des Kometen Shoemaker-Levi auf den Jupiter. Das schicksalsträchtige Geschehnis ist ebenso faktisch wie erzähltechnisch konventionell: Schicksal als Klischee. Jan "glaubt nicht an Vorbestimmung" (86), nur daran, daß er sein Leben selbst bestimmt und selbst dafür verantwortlich ist. Die in den Roman eingestreuten Vorankündigungen laufen allerdings konträr zu dieser Gewißheit. Schon auf S. 24 sagt Walter zu Jan: "Neulich ist jemand auf dem zentralen Busbahnhof erschlagen worden. Aber das kann dir auch in Deutschland passieren. Überall auf der Welt" (24). Während eines Spaziergangs mit Kristin in der menschenleeren Stadt geht Jan die "Vorstellung [...] durch den Kopf, sie würden mit vorgehaltener Waffe angehalten, aber die Szene blieb abstrakt: Er fühlte sich nicht bedroht. Er war wie ein Wild, das noch nie einen Menschen gesehen hat und grast, bis es abgeschossen wird. Wie viele Morde gab es Tag für Tag in New York?" (87). Jans Tod ist Zufall. Ansonsten bestätigt das tödliche Ende die Wahrheit der hohen Kriminalitätsrate in Städten wie New York.

Ulrich Woelk zieht gewissermaßen alle Register des erfolgreichen Amerika-Roman-Genres, indem er mit seinen thematischen und formal-ästhetischen Elementen spielt. So vor allem auch mit der auf Jack Kerouacs On the Road zurückgehenden Tradition des Kult-Romans der Beat Generation. "Die einzige originäre Erfindung der US-Kultur ist das Roadmovie", räsonniert Jan: "On the road ist der Traum, vielleicht weil er - wie die Legende vom Erfolg - von einer Bewegung erzählt, aber von einer freien, einer Bewegung, deren Richtung sich bei jeder Kreuzung ändern läßt, ohne Vorgaben, ohne Notwendigkeiten" (165).

Dem Roman vorangestellt sind zwei Motti, das erste von dem deutschen Existenzphilosophen Karl Jaspers zum Thema Einsamkeit und Individualität: "Wo es Individuen gibt, aber gibt es beides: die Lust zur Individualität und damit den Drang in die Einsamkeit und das Leiden an der Individualität und damit den Drang aus der Einsamkeit." Und das zweite von Jack Kerouac: "Nach diesem ganzen Trara [...] kam ich an einen Punkt, wo ich Einsamkeit brauchte, wo ich diese Maschine anhalten mußte, um nicht mehr zu 'denken' und das, was sie 'Leben' nennen, nicht mehr zu 'genießen', ich wollte mich einfach ins Gras legen und in die Wolken sehen." In der Darstellung der Hauptcharaktere des Romans geht es dann offensichtlich auch in diesem dialektischen Sinne um Spielarten erlittener und ersehnter Einsamkeit, ohne daß damit etwa eine zivilisationskritische Perspektive oder existentialistische Akzeptanz deutlich würde.

Die Rezeption des Romans in der Presse ist bemerkenswert zwiespältig. In der Tat ist es nicht leicht, das Buch zu bewerten. Das postmoderne Spiel mit allen Mitteln und Materialien sperrt sich gegen verläßliche Einsichten und Urteile. Was die einen Kritiker loben, bemäkeln die anderen. Stephan Krass kommt in seiner Rezension in der Neuen Zürcher Zeitung zu dem Schluß: "Was Woelk zeigen will, zeigt er. Er kennt seine Figuren genau und verrät sie nicht an Einsichten. Geschickt in den Handlungsverlauf verwoben sind reflexive Passagen, die den narrativen Strom verlangsamen; Kurzessays über Reisen und Einsamkeit, Amerika und die Spasskultur, die Chaostheorie, die Simulation und die Sexualität. Als Jan bei seinem letzten Gang durch New York die Ereignisse seiner Reise Revue passieren läßt und noch einmal die Stadt in sich aufnimmt, überlegt er sich, was er zu Hause über die fremde Metropole berichten wird. Lakonisch stellt er fest, dass er erzählen wird, was alle schon wissen. Aber wie er das tut, das ist schon bemerkenswert."[8] Michael Skasa schreibt dagegen in der Zeit: "Mit Mühe lesen wir uns durch ein bemühtes Konstrukt und sind nie sicher, ob die kraftlose Sprache Absicht (dem schwächelnden Leben angepaßt) oder Unvermögen ist, die schulaufsätzlichen Einschübe Stil sind oder Stuß."[9]

Über eines wird man sich einigen können: Woelks Buch informiert durch die Brille seiner verschieden motivierten Romanfiguren und die Erzählerkommentare ausgiebig und umfassend über die kursierenden Ansichten zu Amerika. Es geht aber nicht mehr wie in früheren Reiseromanen um Wahrheitssuche und Selbsterkenntnis. Das Genre der tagebuchähnlichen impressionistischen Reiseaufzeichnungen, das Adolf Endler einem geschlossenen Roman-Konstrukt vorzieht, ermöglicht immerhin bei aller Subjektivität und Selektivität noch eine Ausleuchtung des auf der Reise Vorgefundenen, dessen Authentizität im Grunde nicht in Frage gestellt wird. Bei Woelk ist ein eher registrierendes Interesse übrig geblieben. Beiden Autoren gemeinsam ist allerdings die Freude an dem Spiel mit Versatzstücken, die kein authentisches Mosaik mehr ergeben, in dem sich die Teile zu einem Gesamtbild fügen.

Anmerkungen

1 Louis Begley, "Das Washington-Imperium: Eine kurze Geschichte des Anti-Amerikanismus", Kulturchronik 21.2 (2003): 23.

2 Adolf Endler, Warnung vor Utah. Momente einer USA-Reise (Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1996). Seitenangaben in Klammern beziehen sich im folgenden auf diese Ausgabe.

3 Zitiert nach Manfred Behn, "Adolf Endler", Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold (München: edition text + kritik, 1978f.) 9.

4 Hannes Würtz, "Tarzan und der Tabak: Adolf Endler reiste durch die USA und warnt vor Utah", Neues Deutschland 21. Februar 1997: 12.

5 Bruno Preisendörfer, "Der Kettenraucher von Mexican Water. Adolf Endlers 'Warnung vor Utah'", Die Zeit 8. November 1996: 12.

6 Erhard Schütz, "Vom Kettenrauchen und Benzintanken. Amerkanische Reisen von Adolf Endler und Ulrich Woelk", Freitag 18. Oktober 1996: 12.

7 Ulrich Woelk, Amerikanische Reise. Roman (Frankfurt am Main: Fischer, 1996). Seitenangaben in Klammern beziehen sich im folgenden auf diese Ausgabe.

8 Stephan Krass, "Und sie redeten nicht über den nächsten Tag. Ulrich Woelks Roman 'Amerikanische Reise'", Neue Zürcher Zeitung 22. August 1996: 33.

9 Michael Skasa, "Nebenbeischläfe. Ulrich Woelk hat eine amerikanische Reise gemacht", Die Zeit 8. November 1996: 6.