Glossen Sonderausgabe/Special Issue: 19/2004

"Das Weltbild korrigieren. Nachdenkliche Fortsetzung der Fahrt": Angela Krauß' poetisierte Amerikareisen als Umdenkprozesse und Aufbrüche zu neuen Lebensmustern
Barbara Mabee, Oakland University

Wie bei vielen AutorInnen der ehemaligen DDR lösten der Fall der Mauer und die schnelle Vereinigung innere Verunsicherung, Orientierungslosigkeit und eine längere Veröffentlichungspause bei der 1950 in Chemnitz geborenen Schriftstellerin Angela Krauß aus. In der Wochenzeitung Freitag vom 13. Oktober 1995 nahm die Autorin in einem Gespräch mit Jörg Magenau Stellung zu ihrem langsamen Herantasten an das Neue, das mit den sowjetischen Ideen von Perestroika und dem Ruf nach Umstrukturierung und Erneuerung sie und ihre Mitbürger zur Selbstreflexion herausgefordert hatte: "Ich muss jetzt Zeit haben zu begreifen, was mit mir geschieht. Wenn ich mir jetzt den nächsten Mantel anziehen lasse, weil der so gut geschnitten ist, dann war das alles für die Katz."[1] Mit dem Wort "Mantel" verweist Krauß geradezu programmatisch auf ihre poetische Gestaltung von Reisen und Aufbrüchen in die Fremde, um sich selbst neu zu entdecken, zu zerlegen und zu rekonstruieren. In den Worten ihrer aus Leipzig stammenden, namenlosen Heldin in Die Überfliegerin (1995): "Vor fünf Jahren zerfiel ich in meine Einzelteile."[2] Diese Einzelteile werden in ihren Texten immer wieder neu auf Erinnerungsreisen und in Reflexionsprozessen von ihren Protagonistinnen zu einem Ganzen zusammen montiert und im Kontext der Postwendegesellschaft und der DDR-Biographie unter die Lupe genommen.

Wie Kerstin Hensel und Katja Lange-Müller, hatte auch Angela Krauß zu DDR-Zeiten am Johannes R. Becher Institut für Literatur in Leipzig studiert (1977-1979). In ihren ersten Texten, Das Vergnügen (1984; Suhrkamp 1988) und Das Glashaus (1988, bei Suhrkamp Kleine Landschaft 1989), hatte sie die Welt der Arbeit und das Alltagsleben von Frauen und Männern in spielerisch-lakonischen Momentaufnahmen als Prosatext verdichtet. Für ihr autobiographisches und streng komponiertes Vaterporträt Der Dienst, das ihre Kindheit im Kontext der zwielichtigen politischen Karriere des Vaters und seiner tragisch endenden Lebensgeschichte darstellt, erhielt sie den Ingeborg Bachmann Preis 1988. 1990 war sie Stadtschreiberin von Graz, und heute lebt sie als freischaffende Autorin in Leipzig.

Krauß' Texte seit der Wende sind fortgesetzte Versuche einer Identitätsrekonstruktion und Bewusstseinserweiterung inmitten ständiger Neueindrücke in der westlichen Welt. In den thematisch eng miteinander verbundenen Erzählungen Die Überfliegerin (1995), Milliarden neuer Sterne (1999) und Weggeküßt (2002) geht es immer wieder um Prozesse erneuter Selbstfindung und gesellschaftliche Neuorientierung, die mit den literarischen Stilmitteln der Moderne dargelegt werden, wie Montage, Bewusstseinsströme mit surrealistischen Elementen, poetisierte Traum- und Erinnerungsreisen, sowie innere Monologe statt spannungsgeladener Handlungsabläufe. Norbert Otto Eke sieht den bezeichnenden Ton von Angela Krauß' Prosa in der "ganz eigenen Verbindung von poetischem Sprachvermögen, distanzierter Betrachtung, atmosphärischer Beschreibung und philosophischer Reflexion."[3] Die Protagonistinnen in Die Überfliegerin und Milliarden neuer Sterne begeben sich auf mehrwöchige Amerikareisen, auf denen sie sich mit ihren eingefahrenen Denkmustern aus dem DDR-Alltag auseinandersetzen und neue Lebensformen kennen lernen und untersuchen. Der thematisch verwandte, satirisch-polemische Prosatext Weggeküßt gestaltet ein Konsumparadies mit modernen Vernetzungen zu sinnenfreudigen, süchtigen Menschen in einer technologisierten "Computergesellschaft", in der die Menschen sofort "weggeküßt werden", sobald sie sich den Reizen und Angeboten der "Stadt- und Warenwelt" stellen.[4] Die Jagd nach Genuss und unverbindlichen, oberflächlichen Kontakten mit einer Vielzahl von Menschen verursacht Abstumpfung. "Schwankungen der Lust" (69) und ein wachsendes Übersättigungsgefühl und treiben die weibliche Erzählerin mindestens einmal im Jahr auf die Flucht in den Tierpark, den sie als Refugium zum ungestörten Schauen und Nachdenken über ihre Verständnislosigkeit gegenüber gesellschaftlichen Zusammenhängen und die entleerten Werte der Konsumgesellschaft sieht. Hier bietet sich die Möglichkeit, über ihren Verlust von Neugier an den Weltereignissen und menschliche Entfremdung zu reflektieren. Vor dem Käfig eines Tieres werden alle Menschen zu Fremden, wie die Protagonistin entdeckt, aber im Gegensatz zur Warenwelt der Menschen will das Tier nichts von den Beobachtern, was sie als etwas sehr Wohltuendes empfindet: "Es [das Tier] hat mich in meinem Fremdsein einbalsamiert wie eine Mumie. Es will nichts von mir. Aber es wartet auf mich" (25).

In meiner Analyse der drei Texte von Angela Krauß sollen das skizzierte Amerikabild und der parodierte westliche Mikrokosmos des Lokals "Sweetie" in Weggeküßt als Ort kultureller und sozialer Produktion kritisch untersucht werden. Zu erfragen ist, welche anregenden und abstoßenden Eigenschaften der amerikanischen Kulturszene und der westlichen Welt sich den nach Ganzheit und Selbsterneuerung suchenden Protagonistinnen als nachahmenswerte und richtungs- und zukunftsweisende Orientierungspunkte für neue Lebensformen offenbaren --- und welche sie ablehnen.

Wie von Jack Zipes in seinem Essay "Das Bild der Vereinigten Staaten von Amerika in der Literatur der DDR" aus dem Jahr 1975 dargelegt wurde, war der Begriff "Freiheit" lange Zeit synonym mit dem "Paradies Amerika" in Europa. Zipes' Standpunkt ist, dass "traditionelle europäische Faszination von Amerika als einem Paradies auf Erden" heute nicht mehr einem Land der unbegrenzten Freiheit gelte, sondern einem Land, in dem die "Freiheit Handschellen trägt...nachdem die Tyrannei in das Land der Freien gekommen ist."[5] Krauß überdenkt und problematisiert die ehemals oktroyierte politische Haltung gegen Kapitalismus und Dekadenz in den Reiseerlebnissen und zwischenmenschlichen Begegnungen ihrer Protagonistinnen. Sie führt ihre Leser an Orte in der amerikanischen Gesellschaft und im westlichen Konsumparadies, an denen sich Sinnenfreude und der Warencharakter zwischenmenschlicher Beziehungen mit Entscheidungs- und Redefreiheit und gesellschaftlicher Vielfalt und Buntheit überschneiden.

Angela Krauß geht es um die sichtbaren und unsichtbaren Widersprüche der Gesellschaft, um das Zusammensetzen von Einzelteilen, von alten und neuen Sichtweisen und Erfahrungen, zu einem Ganzen. Sie zeigt auf Stellen in der amerikanischen Gesellschaft, an denen Überwindung von Anpassungszwang und von repressiven Machtstrukturen im Denken und in Verhaltensmustern sich vollzogen haben und die innere Freiheit der Personen zu Tage gelegt wird, sei es bei den Transvestiten im Secondhand-Shop in San Francisco in Die Überfliegerin oder im bunten Straßenverkehr von New York in Milliarden neuer Sterne, wo sich ein chinesische Meditationskunst praktizierender Schwarzer im schwarz und gelb gestreiften Nylonanzug nicht im Verkehr von der Stelle bewegt, während seine Hände "feinste Gesten" dieser Kunst ausüben.[6] In Krauß' Texten erschließt sich das Amerikabild aus kontrastiven Gegenüberstellungen von Eindrücken im pulsierenden amerikanischen Alltag mit eingeblendeten Rückbesinnungen auf Gesellschaftsstrukturen in der alten DDR und auf persönliche Familiengeschichten von Müttern und Großmüttern der reisenden Protagonistinnen.

Seit dem Bau der Mauer hatte das Reisemotiv immer wieder eine große Rolle in der Literatur der DDR gespielt, besonders in der Lyrik. Mit dem Begriff "Wunsch nach Welt" charakterisierte beispielsweise Adolf Endler das gemeinsame Programm der Lyrikergeneration von Sarah und Rainer Kirsch, Volker Braun, Karl Mickel und Bernd Jentzsch aus den 60er und 70er Jahren. Als "Das Unterwegssein nach Utopia" bezeichnete Gerhard Wolf die gesellschaftskritischen Reisegedichte dieser Generation, aus denen die Sehnsucht nach einem Leben außerhalb beengender Grenzen sprach und nach Versuchen, die verkrusteten Gesellschaftsstrukturen aufzulösen.[7] Dieser auf die Zukunft gerichtete Blick des reisenden Ichs verstärkt sich dann in der Postwendeliteratur, wo es um neue Sichtweisen und Neudefinitionen und gleichzeitig um Rückschau geht. So konstatiert die Ich-Erzählerin rückblickend in Die Überfliegerin während eines Einkaufbummels in San Francisco, dass ihre DDR-geprägten gesellschaftlichen Konzepte und Lebensmuster auf einem "übersichtlichen Bauplan" und einer "faßbaren Art von Ordnung" basierten (85). Das Fazit der reflektierenden Heldin: "Das Leben war so zugerichtet worden, daß es keine Verwirrung stiftete" (85). In einem Kleiderhaufen aus zweiter Hand und umgeben von zwei Transvestiten findet die Heldin eine Art Erlösung und innere Befreiung, was zur Verflüssigung und zum Aufbrechen innerer Verhärtungen fester Bestandteile führt und Neues ins Rollen bringt: "Wie wenn man ein Kaleidoskop schüttelt, plötzlich ist ein neues Muster da, ein vollkommen neues Ornament aus den alten Bausteinen" (87-88).

Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft überschneiden sich ständig in den Texten von Krauß. In Milliarden neuer Sterne durchläuft die reflektierende Heldin auf ihrem Straßenbummel in New York einen Einsichtsprozess zur Relativität ihres Zeitbegriffes: "Ich erinnere mich an die letzten Stunden vor meinem Abflug nicht, sie sind wie aus meinem Bewusstsein gelöscht. So bedeutungslos war mir die Zeit dort drüben geworden, die nichts als Vergangenheit hervorzubringen schien, seitdem alle vom Jagdfieber auf die Zukunft erfasst worden waren."(29) Dieser Text mündet in das Wort Zukunft, in den Zustand des Noch-nicht-angekommen-seins als die einsame, sich noch als Fremde fühlende Erzählerin am Silvesterabend der Jahrtausendwende in New York auf dem Nachhauseweg vom Feuerwerk das Wesentliche ihres Zukunftsbegriffes wahrnimmt; "abwesend und hellwach zugleich und mit allen Gedanken das Ungreifbare umfangend: Zukunft"(50). Zukunftsbezüge ziehen sich auch wie ein Leitmotiv durch Die Überfliegerin, deren rastlose und ziellose Heldin sich vor ihrem Flug nach Amerika eingesteht: "Meine Zukunft irrt durch die weite Welt."(31)

In der Erzählung Die Überfliegerin vollzieht sich die Rekonstruktion der Heldin in drei Stufen, die durch die Aufteilung in drei verschiedene Abschnitte explizit im Text gekennzeichnet wird: ein Mietshaus in der Nähe des Leipziger Hauptbahnhofs; eine Reise nach Amerika und dann nach Russland im letzten Teil. Jörg Magenau sieht zu Recht das Fliegen der "Überfliegerin als bewusstes "Draufblicken"[8] auf die ihr fremden gesellschaftlichen Lebensformen, denn die Ich-Erzählerin nimmt eine kritisch-distanzierte und unverbindlich-offene Haltung gegenüber der neuen westlichen und östlichen Gesellschaft in diesem Band ein. Zunächst wird das Mietshaus Schauplatz innerer Stagnation und eingefahrener Denkmuster. Das Bahnhofsgelände und die Züge fungieren als Gegenpol zum Fliegen der Heldin nach Amerika, wo sie die ethnische und kulturelle Buntheit der Gesellschaft kennen lernt und im Weiterfliegen nach Rußland weitere Impulse für neue Denkmuster erfährt. Die sich nur schwer an die neuen Zustände der Postwende gewöhnende Protagonistin befindet sich zunächst in einem Stadium des Verharrens und Wartens, bis sie allmählich wahrnehmen muss, dass ihre Nachbarn im Wohnhaus längst mit Veränderungsprozessen begonnen haben. So zersägt sie mit einer neu entdeckten Entschlossenheit ihr altes Sofa aus der Kindheit, an dem noch lebendige Erinnerungen an die Familie hängen. Entschlossen beginnt sie den Vollzug eines gleichsam symbolischen Tapetenwechsels, der parallel zu gesellschaftspolitischen und psychischen Veränderungen verläuft. Von den vielen Schichten der Tapeten und der Schwere des 80jährigen Hauses am Bahnhofsgelände in Leipzig endlich befreit, werden neue Kräfte in ihr freigelegt für einen Aufbruch zu neuen Ufern und Wahrnehmungen, auch für eine Loslösung von ihrem Geliebten und seinen Sonntagsbesuchen: "Ich kann ihn für den Moment nirgends unterbringen. Und auch mich selbst, nirgends" (30.

Die Reise in die Vereinigten Staaten aktiviert und intensiviert nicht nur ihren Unternehmungsgeist und ihr Urteilsvermögen, sondern erzeugt auch eine innere Offenheit für das Angebot der Vielfalt Amerikas und die Auswirkungen dieser multikulturellen Gesellschaft auf die Psyche des Menschen und auf die Formation selbstgesteuerter Lebensformen. Eine Schlüsselstelle dieses Textes ist ihre direkte Anrede an die zwei Transvestiten bei ihrer Begegnung im Secondhand-Shop in San Francisco: "Eure Wahrheit liegt in der Mitte...und da möchte ich auch gerne bleiben"(89). Hier im Haufen der Kleider prallt Altes und Neues aufeinander und entfacht in ihr geradezu eine Bewunderung für den freien Umgang der zwei Mädchen miteinander jenseits von jeglicher Norm und Reglementierung. In dieser unkonventionellen Umgebung lösen sich innere Zwänge, findet sie "ins Freie" (89). Im übermütigen Herunterreißen von Krawatten von einer Stange nimmt sie sich das Recht auf einen in sich verkümmerten Wahlanspruch: "...ach, in welcher Welt wollte ich wer sein, wenn man schon die Wahl hat?"(90) Ihr Wunschtraum ist von kurzer Dauer. Sie bleibt die distanzierte Beobachterin geradezu aus Skepsis und innerem Widerstand. Sie befürchtet, sich zu schnell eine neue westliche Brille aufzusetzen und sich geistig anzusiedeln. Später "beim unerschrockenen" Fliegen zu Freunden in Russland erkennt sie erneut die Möglichkeiten einer ungeahnten Vielheit des Lebens und der "unendlich vielfältige[n] Formen im Menschen...sobald er aufgehört hat, nach einer einzigen Bedeutung zu suchen" (112). Sie will sich offen halten, will vergleichen und respektvoll zurückblicken können auf das schwere Arbeitsleben ihrer Mutter und Großmutter.

Das erste Quartier auf der mehrwöchigen Amerikareise liegt ungefähr zwanzig Kilometer südlich von "Minneapolis Twincity" und ist ein alternativer, sportfreudiger Haushalt in einem abseits gelegenen Waldhaus bei David und Julie, einem "freundlichen Paar" (59), das unter Germanisten als Julie Klassen vom Carleton College in Minnesota und ihr akademischer Partner identifiziert worden ist. Einen starken Kontrast zu den farbenfreudigen und zehnmal am Tag Hüte wechselnden Amerikanerinnen (wie Amy im zweiten Privatquartier in Wisconsin, 77) bilden Krauß' häufige, fast leitmotivisch gestaltete Einblendungen von Erinnerungsfetzen an die verstorbene Großmutter in ihrer farblosen Arbeiterkleidung, deren zerfallener Körper "zwei Meter tief in der Erde" (23) lag. In bewusst weiblicher Ausdrucksweise und in expliziter Verweisung auf weibliche Körperteile verknüpft Krauß' persönliche Familiengeschichte mit kollektiver Geschichte. Der physische Verfall des DDR-Staates mit seinen unrestaurierten grauen, bröckelnden Häusern wird auf den eingeschobenen Erinnerungsreisen der Protagonistin von Teilen des menschlichen Verfalls überlagert: "Ich denke manchmal an ihre großen Augenhöhlen mit den erwartungsvollen Augen. An diese lustvollen Seufzer der Qual, wenn sie beim Dielescheuern auf den Knien lag. An ihre energischen Waschungen am Ausguss im Morgengrauen vor Schichtbeginn" (23). Die DDR-Geschichte passiert Revue an der Wanne der Grossmutter: "Aus der Zinkbadewanne heraus fragte sie mich die Geschichtsepoche ab bis zum Sozialismus als relativ eigenständiger Formation [....] Ein Handtuch um die Hüften, scheuerte sie die Wanne, und ich entwickelte den Satz vom Proletariat und den nichtzuverlierenden Ketten. Sie kam mit dem Kopf hoch und staunte, sie glühte am ganzen Körper. Sie stand da, nackt, staunte wie ein Kind, und lachte irgendwo mit den Fußzehen(35-36)."

Nach mehrmaligem Herumreichen an Bekannte in Wisconsin und San Francisco fliegt die rastlose Überfliegerin weiter nach Russland zur sibirischen Brieffreundin Toma, die ihr in den 60er Jahren ein rotes Pionierhalstuch geschickt hat. Die Reise der "[D]raufschauenden" endet jedoch nicht in gemeinsamer Arbeit an gesellschaftlicher Umstrukturierung und Neuformationen bei Freunden in Russland, sondern in einer fantastischen Weiterflucht mit offenem Ende. Ein Chauffeur namens Semjon bringt die Heldin in rasendem Tempo zum Flugplatz und scheint die Kontrolle über das Auto verloren zu haben wenn er im Schlusssatz brüllt "Achtung...wir landen!" (123). Krauß wählt jedoch nicht den Tod der Heldin, denn diese hatte sich emphatisch schon im Wohnhaus in Leipzig trotz aller Anfechtungen zum Leben bekannt: "Aber ich werde es zu Ende bringen! Es heißt, es dauert sieben Jahre. Wie die Erneuerung aller Zellen des menschlichen Organismus" (36)[9]. Die sich der Todesgefahr bewusste Heldin kann gerade noch ihre Lebenskraft und optimistischen Zukunftsträume in Bewegung setzen: "Alles zog vor mir vorüber in der letzten Minute vor meinem Tod. Ich will nicht sterben! schrie ich da mit glasklarem, beobachtendem Geist, mit einer ganz neuen Art von Begeisterung" (124).

Auch im nächsten Band Milliarden neuer Sterne gestaltet Krauß eine Fülle von Begegnungen mit Menschen verschiedener Kulturen, die die lang geübte Existenz der Amerikaner als Schmelztiegel ethnischer Vielfalt und einer daraus hervorgegangen Gastfreundschaft aufzeigen. Da wird eine Einladung an die Heldin zu einem Weihnachtsessen in einer russischen Familie erteilt, obwohl sie gerade erst ein Familienmitglied kennen gelernt hat. Am Silvesterabend in Manhattan ist es eine fremde Stimme auf der Straße, die die in Tränen ausgebrochene Protagonistin mit dem wiederholten Ausruf "Komm mit!" (49) ins Licht des Feuermeers und in menschliche Gemeinschaft integriert. Die Aufbruchsstimmung zu neuen Ufern wird in diesem Band weiter ausgeführt. Hier kommt die Heldin nicht von dem Wunsch los, die Stadt New York in den letzten Wochen des Millenniums zu besuchen. Ihr Wunschtraum geht in Erfüllung und unermüdlich erforscht sie die Stadt und registriert ihre Wahrnehmungen. Zunächst macht sie ihre Beobachtungen aus der Distanz und als Fremde: Jogger auf den Dächern von Manhattan, kaufsüchtige Weihnachtseinkäufer und Radfahrer in Schaufenstern von Fitneßzentren rufen in ihr ein Gefühl des Ausgeschlossenseins hervor und eine Art von Einsamkeit in der Fremde. Erinnerungen an vorweihnachtliche Aktivitäten in der Heimat steigen auf, die aber wieder verdrängt werden von der ansteckenden Lebendigkeit der Menschen. Sie erfährt in vielen Begegnungen mit Fremden, dass die Amerikaner verstehen, das Glück der Gegenwart zu genießen, ein Charakteristikum, das schon in Goethes Werken stark betont wird.[10] Sie versucht, sich mit allen Mitteln in der Fremde beliebt zu machen, das Leben und den Augenblick zu genießen. Neue Freunde zu gewinnen und mitzumachen, wird ihr ein Bedürfnis: "I like you, I love you! rief ich nach rechts und nach links winkend, bis ich zu Hause war" (26). Die Heldin ist hier nicht Beobachterin wie in Die Überfliegerin, sondern sie schwimmt in dem Strom der Menschen unkritisch mit. Nach den Entbehrungen in DDR-Zeiten genießt sie es, "Schokolade auf der Zungenspitze" und "das Geld in [ihrer] Manteltasche" zu haben, und "den Unbesorgten" zuzuschauen und "die eigene Hand...versichernd auf dem ausreichenden Budget" ruhen zu lassen (28). Ihr wird deutlich, was für Eigenschaften sie zu entwickeln und zur Schau zu stellen hat, um maximale Anpassung und Beliebtheit unter den Menschen in New York zu erreichen: "Wie anregend ihre Eigenarten sind, wenn ich nichts von ihnen will. Dagegen sein nimmt alle Sinnenfreude. Wie liebenswert ihr Gerede, wenn ich ihnen ihre Ansichten lasse. Wie unterhaltsam die ganze Welt, wenn ich keine Forderungen an sie habe." (28)

Die Protagonistin fühlt sich in einen Sog des Mitmachens und Mitdenkens gezogen. Mit einem neuen, attraktiven Hut der letzten Mode ausgerüstet, wagt sie das Experiment der Integration und des Aufbruchs zu neuen Ufern. Aus der Fremden wird eine Frau, die Offenheit und Wärme ausstrahlt, sich einen neuen Freundeskreis geschaffen und neue Facetten in alte Lebensmuster integriert hat. Zuversichtlich geht sie dem neuen Jahrtausend im berauschten Glückstaumel der Nacht und einem Bewusstsein der Zugehörigkeit entgegen. Dass sie weiß, dass die Gefühle dieser Nacht nicht anhalten werden, offenbart sich in ihrem Wunsch, "ich wollte ewig gehen, solange die Straßen nicht endeten" (51). Aus ihrem Unterbewusstsein steigt der Vergleich des Fingerschleifens an harten Buchsbaumhecken auf dem Nachhauseweg aus der Kindheit auf. Der Nachtspaziergang führt sie einerseits zu der Geborgenheit der Kindheit zurück und zum anderen in die offene Zukunft der westlichen Welt. New York wird am Ende der Erzählung für das Ich zum überschaubaren, verrückten und aufregenden Mikrokosmos des Westens, den sie leicht ironisch für sich nach der Silvesternacht definiert. Die Stadt war "klein, vertraut, ziemlich schäbig, vom Größenwahn erschöpft und sehr tröstlich" 50-51). Für eine kurze Weile ist die Erzählerin hier in den Schoß der Stadt aufgenommen worden, aber das "Ungreifbare" einer unbestimmten Zukunft lauert schon wie ein Tiger am Horizont der alten Heimat.

In den drei als Zyklus angelegten Texten von Krauß können sich die jeweiligen Protagonistinnen zeitweilig aus den alten Häuten der anerzogenen Konformität und des Anpassungszwanges lösen und sich in bedenkenloser Offenheit an der naiv-kindlichen Art der Freude und Spontaneität der Amerikaner und deren Optimismus ergötzen. In Die Überfliegerin erfindet die unbenannte Protagonistin bereits im Flugzeug auf der ersten Amerikareise eine kleine weisse Lüge bezüglich des gemeinsamen Wohnsitzes der beiden Reisenden. Sie erklärt einfach in Erwartung einer unbeschreiblichen Freude ihrer Nachbarin, dass Oberschöneweide in Berlin auch ihre Heimat sei: "Da hörte ich es zum ersten Mal, das Unwiderstehliche an den Amerikanern: die Freudenrufe, die sie im Moment des Staunens ausstoßen. Als entdeckten sie Land. And? sie war vor Aufregung in ihre Alltagssprache verfallen" (58). Diese Überschwänglichkeit und spontane Zuwendung gleich beim ersten Kennenlernen werden in allen drei Werken an verschiedenen Beispielen aus dem Alltagsleben dargestellt und auch durch Bewusstseinsströme kommentiert und teilweise als Oberflächlichkeit kritisiert.

Auch in der Beschreibung der ersten Gastgeberin wird der Optimismus in Die Überfliegerin hervorgehoben: "Draußen lief Julie durch den Herbstwald von Minnesota, eine schöne, optimistische Amerikanerin, sie umkreiste das Haus an der Grundstücksgrenze, mit ihren trainierten Beinen markierte sie die Binnenfläche, das selbstgezimmerte Haus, das verrottete Auto, dessen Blech zu Humus werden sollte...(74)." Die im Vergleich zum deutschen Geschmack sehr farbenfreudige Kleidung der Amerikaner ist für die Ich-Erzählerin ein Ausdruck von Optimismus und Lebensfreude, was aber wegen der Andersartigkeit des Geschmacks auch zu spöttischen oder humorvollen Urteilen führt, wenn Julie beispielsweise "in ihrem pinkfarben leuchtenden Watteanzug wie eine Puppe zum Aufziehen" beschrieben wird, "deren winziger Schlüssel im Rücken sich unmerklich langsamer dreht" (74). Assoziationen zu Offenbachs Uhrwerkspuppe in Hoffmanns Erzählungen sind unverkennbar. Krauß zeigt in diesem spielerischen Porträt kultureller Unterschiede, dass die Protagonistin ihre Urteilskraft durchaus selbstbewusst einzusetzen vermag. Christine Cosentino hat diese selbstbewusste Haltung von DDR-AutorInnen als charakteristisches Merkmal bei Reisetexten herausgearbeitet und konstatiert dies in ihrem Artikel, "Das Reisemotiv als Spiegel der Identitätsstabilisierung": "Der in der Literatur porträtierte selbstbewußte Ostdeutsche definiert sich keineswegs als zweitklassig, sondern als ungezwungen, abwartend, weltoffen und als westdeutschen Werten gegenüber weitgehend unangepaßt."[11]

In Milliarden neuer Sterne ist die Protagonistin geradezu besessen davon, in den Kreis der Optimisten, der Sportler, der sich im Kaufrausch befindenden Menschen im bunten Stadtgewimmel auf den Straßen oder in Kaufhäusern aufgenommen zu werden. Der spontane, die amerikanische Lebensweise nachahmende Ton der Heldin in den Worten "I like you, I love you" (26) beim Nachhauseweg vom abendlichen Einkaufsbummel ist charakteristisch für die begeisterte Haltung und lauten "Jubelschreie" der Protagonistin in diesem Werk.[12] Sie betastet in den Kaufhäusern ihre Dollarscheine, nimmt sie demonstrativ aus der Tasche und zieht mit einer inneren Genugtuung gleich die Blicke der Leute auf sich und ihre Scheine: "Ich war gemeint." [...]. Herrlich dieser Sonnabend, vor mir unbekanntes Gebiet, neues Theater, anderes Leben: grob, grell, gegenwärtig"(26) . Mit Alliteration der Adjektivreihe wird in poetischer Sprache die Geste des Mitmachens und Theaterspielens beleuchtet. Gegenwärtiges, pulsierendes Leben verdrängt die alten Denk- und Lebensmuster dieser auf Anpassung konstruierten Protagonistin auf ihrem Amerikabesuch.

In Weggeküßt problematisiert Krauß die Spannungen zwischen Anpassung und Entfremdung in zwischenmenschlichen Beziehungen. Westliche Reizüberflutung in einer instrumentalisierten Warengesellschaft der schnelllebigen Postwendezeit hat eine Art Schlaraffenlandgesellschaft geschaffen, in der die Menschen wie der junge Mann Anatol in Schnitzlers gleichnamigem Drama die Bewunderung und Anerkennung der Umwelt brauchen. Spielerische Erotik und unverbindliches Kommunizieren mit sinnentleerter Sprache haben zu Gefühlsverarmung, Ziellosigkeit und Desinteresse am Weltgeschehen geführt. Bezeichnenderweise ist es der geschäftstüchtige Amerikaner Mark, dessen lebendiges, waches Gesicht die Protagonistin faszinierend findet: "Es gehört in die Zeit der Neugierde" (86). In Weggeküßt vollzieht sich ein deutlicher Bruch im Zyklus der drei Bände, denn eine höchst kritische Haltung gegenüber gesellschaftlichen Entwicklungen im Westen tritt zu Tage. Mit kafkaesker Vermischung von Angst und Schrecken wie auf den ersten Seiten von Franz Kafkas Novelle Die Verwandlung, wacht die Protagonistin eines Morgens auf und findet sich nicht mehr zurecht in ihrer über Nacht verwandelten Umgebung. Alles offenbart sich ihr in neuer Perspektive, sogar die einzelnen Möbelstücke ihrer vertrauten Welt. Die linguistischen und semantischen Parallelen zu Kafkas Eröffnungsszene seiner Erzählung sind ebenso ersichtlich wie die thematischen Verbindungen in der literarischen Gestaltung von menschlicher Entfremdung, Instrumentalisierung und Ausgrenzung alles Fremden in der modernen Welt. Ähnlich wie bei Kafka suchen die Augen der Erzählerin zunächst Familiäres in den räumlichen Dimensionen des privaten Zimmers:

Kürzlich wachte ich auf und merkte, noch im Liegen, daß etwas geschehen war. Vorsichtig, ohne mich zu rühren, tastete ich mit halbgeschlossenen Augen meine Umgebung ab. Sie war verändert. Allerdings befand sich alles noch am selben Platz, so wie ich es gegen Mitternacht verlassen hatte. Vertiko, Spiegel, der Stuhl mit den Kleidern standen wie gewohnt um mein Bett herum. Nur schaute keines mich mehr an. Solange ich denken kann, erwache ich morgens in eine Welt, die auf mich wartet. Die Tiere rufen und schreien. Der Schrank, verschlossen und beherrscht, wartet auf mich [....]. Ich setzte mich lange diesem unvertrauten Zustand aus. Ohne Ergebnis (10).

Das Gefühl, soziale Verknüpfung mit Mikrokosmos und Makrokosmos verloren zu haben, überkommt die erzählerische Persona bei Krauß und bei Kafka. Jegliches Zugehörigkeitsgefühl ist beim Erwachen des Käfers Gregor und der unbenannten Protagonistin entschwunden und entfacht Selbstzweifel. Während sich bei Kafka eine körperliche Verwandlung nach einem Angsttraum einstellt, ist es bei Krauß eine Verwandlung der Sichtweise nach dem Fall der Mauer und der auf dem Fuße folgenden Wiedervereinigung der beiden Teile Deutschlands. Im Tempus der Vergangenheit signalisiert Krauß die bereits vollzogene Verwandlung der sozial-politischen Realität und den abrupten Bruch in der Lebensgeschichte der Persona. Gegenwart und Vergangenheit überkreuzen sich in diesem Text, der zum großen Teil aus Bewusstseinsströmen, Kommentaren zur gegenwärtigen Gesellschaft und Erinnerungen an DDR-Zeiten aus der Sichtweise der Protagonistin besteht. Der Entwicklungsprozeß gegenwärtiger gesellschaftlicher Begebenheiten und persönlicher Geschichte wird im Laufe der Erzählung wie in einem Film abgerollt. Das Subjekt geht dabei mit sich selbst und ihrer technologisierten, gefühlskalten und ernüchterten Gesellschaft ins Gericht, in der "der ganze Luxus des Herzens" (96) im vereinigten Deutschland als Satire beleuchtet wird.

Im Lokal "Sweetie," einer modernen Cafébar der Postwendezeit, die als ehrwürdige Konditorei Goldschmitter der DDR-Zeit umgebaut wurde, entwickelt die Protagonistin "Liebesbeziehungen jeglicher Art" (70) mit anderen ziellosen, gelangweilten Menschen. In losen Gesprächssträngen sprechen sie über Lebensformen, Geschäftskonzepte, Reisen, Geld, Computer und technologische Entwicklungen, oder die Heldin hört nur zu, während sie ihre Gedanken wandern lässt. Der symbolische Name dient als Kennzeichen der versüßten Örtlichkeit, denn schon als Sweetie noch auf DDR-Boden angesiedelt war, war es auf Genusskonsum ausgerichtet. In den Worten der Meisterin des Lokals: "Die Konditorei Goldschmitter hat ein Jahrhundert versüßt, meine Dame, [...]. Wir haben getröstet, beruhigt, ermutigt, ohne zu wissen was. Eine Konditorei spendet bedingungslose Liebe in ihrer kristallinen Form. Alles übrige ist Biochemie" (71) Als Sozialisierungsort der Protagonistin wird es zum Schauplatz von Männereroberungen. "An Freunden herrscht kein Mangel, es sind immer mehr geworden" (12), gesteht sie sich ein. Wie eine Süchtige sucht sie hier täglich die Nähe von Menschen und die Betäubung innerer Leere. Hauptsächlich verkehren in diesem Stadtlokal bindungsgehemmte, Abenteuer suchende Menschen mit narzistischem Verhalten und süchtigen Verhaltensmustern. Für die Erzählerin wird das Café zum Umschlagplatz von Ideen, Konsumverbrauch und oberflächlichen Beziehungen, in denen einer den anderen ausstechen will. Im Erzählprozess entsteht die Karikatur einer modernen Warengesellschaft, vergleichbar mit dem amerikanischen Ort der Erfindungen und des Experimentierens, Silicon Valley. Die Erzählerin lässt sich auf Gespräche mit verschiedensten Männern, über deren neue Erfindungen und Berufspläne ein und denkt dabei selbst sehnsüchtig an ihren Amerikaaufenthalt zurück, wo sie in Geschäften in Boston zu jeder Tages- und Nachtzeit ihre Einkaufsbedürfnisse befriedigen konnte.

Krauß macht mit diesem Prosatext einen Angriff auf gesellschaftliche Entwicklungen in kapitalistischen Gesellschaften, in denen ständige Reize den Menschen überflutet haben und sie nur noch oberflächlichen Kontakt zu anderen, häufig vernetzten Menschen aufnehmen. Die losen, unverbindlichen Männerbekanntschaften der Erzählerin mit dem Franzosen Jean, dem Amerikaner Mark, Kay und diversen anderen Männern, die bei "Sweetie" verkehren, münden in eine Leere, die die Erzählerin überkommt. Sie beobachtet den zunehmenden Wahn der Gesprächspartner, ihren Glauben, dass sich komplizierte Gedankengänge einfach „wegküssen" lassen. Die Möglichkeiten für Genuss scheinen in der geschilderten Gesellschaft unbegrenzt zu sein. Hier weiß niemand etwas über das vorherige Leben, nur die Gegenwart und die Zukunft gelten. Niemandem erzählt die Protagonistin von ihrer Ehe und dem Leben mit dem Polen Jerzy, dessen Selbstmordversuche und Kirchenbesuche sie über Jahre hinweg wie in einem anderen Leben miterlebt hat und mit dem sie an viele Orte in Polen gereist ist.

Gespräche im Lokal Sweetie kreisen vielfach um die Welt der Technik und der Computer. Um Eindruck zu machen, erklärt die Erzählerin dem Amerikaner Mark, dass sie einen Computerkurs nimmt und sogar erwägt, als Kommunikationswissenschaftlerin eines Tages wieder "einzusteigen" und einen neuen Wirkungskreis zu suchen, nachdem "der kurz schlingernde Zug der Zeit [sie] ausgeworfen hatte" (41). Ironie und leichter Spott verbinden sich hier mit Trauer bei Krauß angesichts der erlittenen "Abwicklungen" vieler Menschen. Mark bleibt ihr einziger Vertrauter von Dauer und sie begegnet ihm später wieder, als er sie zu einem Pep-Talk zu seinem Geschäftskonzept der weitreichenden Vernetzung in ein Hotel einlädt. Die Parodie auf nationale Geschäftstreffen von amerikanischen Organisationen wie Amway, Reliv oder Mary Kay sind unübersehbar.

Im Brustton der Überzeugung vermittelt Mark der lauschenden und faszinierten Protagonistin seine Gedanken über die vernetzte Zukunft der Menschenmenge:

Jeder kommuniziert mit jedem, erklärte er leichthin, das ist die Zukunft. Ganz einfach: Das Netz ist überall. [....] Die Zeit der Ideologien war also zu Ende, die modernen Menschen, also wir, hatten Gefühl und Verwirrung hinter sich gelassen. Unser Dasein würde von nun an fließend, chaotisch, lebendig und frei sein und nicht mehr an Orte gebunden. Vernetzung durch Kommunikation ist jetzt alles. Sie wird überall sein. Keiner kann der Vernetzung entgehen. Wer sich entzieht, nimmt an der Welt nicht mehr teil (42-43).

Die Protagonistin sieht sich oftmals überwältigt von den neuesten technischen und gesellschaftlichen Entwicklungen. Nur im Zoo unter eingesperrten Tieren und unbekannten Menschenmengen kann sie eine Art Gleichgewicht und Entspannung finden und Entfremdungsgefühle abstreifen. Aber selten geht sie der Suche nach, denn sie hat inzwischen eine Abhängigkeit von Männern entwickelt, die ihre Bedenken und Zweifel, ihr zielloses Streben nach Neuorientierungen mit süßem Gerede und Gehabe wie Schutz bietende Pflaster einfach wegküssen.

In den drei thematisch verbundenen Texten stimmen die Protagonistinnen geradezu wie in einen Chor mit der Ich-Erzählerin in Die Überfliegerin ein: "Ich flog auf und davon in Richtung Westen" (53). Krauß' poetische Texte lassen sich als Warnung an die gesamtdeutsche Postwende-Gesellschaft und den Westen lesen, das Mitmenschliche nicht in Selbstbespiegelungen, Konsum und unverbindlichen Vernetzungen verkommen zu lassen, sondern Eigenständigkeit und innere Stärke zu entwickeln. Machtkämpfe in einer Ellenbogengesellschaft, welche die Löwen in ihrer "Löwenanlage" im Zoo in Weggeküßt am Ende des Textes repräsentieren, können nur zu einer instrumentalisierten Warenwelt führen. Der Zoo fungiert als Metapher für ostentative Zurschaustellung von Angeboten in Warenauslagen, die in einer freien Marktwirtschaft die Menschen mit Dingen oder Tieren vertauschen können, wie in der Kommunikation mit Gegenständen und Tieren im Zoo in Weggeküßt aufgezeigt wird. . So enthalten Krauß’ Texte implizit den Appell, sich wie die Protagonistin im Tiergarten in Weggeküßt wieder auf das Kontemplative des Lebens zu besinnen und eine Verschmelzung von vita activa und vita contemplativa anzustreben und in gegenseitigem Vertrauen miteinander zu kommunizieren. Nicht eine vernetzte Nachricht, sondern einen symbolischen Brief mit der Beschreibung einer sehr persönlichen Botschaft der Protagonistin hält der Amerikaner Mark am Textende bei einem Zoobesuch der beiden in seinen Händen. Mit ihren Bewusstseinsströmen gibt Krauß kritischem, differenziertem Denkvermögen des Menschen neue Impulse.

Amerika ist in Krauß' poetischem Ouevre eine Werkstatt für neue Lebensformen und kreative Lebensmuster. Die poetischen und philosophischen Texte sind Erinnerungs-und Zeitdokumente, die Berührungsversuche der östlichen mit der westlichen Welt festhalten. Krauß' Texte wollen nichts aus der DDR-Vergangenheit zerstören und Altes durch Neues ersetzen. Krauß ermutigt dazu, sich eigene Gedanken über die Zukunft der Menschheit zu machen und sich mit ihren Protagonistinnen auf fantastische Flüge einzulassen, bei denen die distanzierte Sicht die Analyse und Bewertung alter und neuer Lebensformen ermöglicht, so wie es die "Überfliegerin" exemplarisch vorführt:

Im Unterrichtstag in der Produktion lehrte man mich mit Bügelsägen und Blattsägen umzugehen. Für mich ist die Welt kein Bild und Widerbild. Jederzeit erinnere ich mich, dass man sie anfassen kann. Sie besteht aus Körpern und geladenen Zwischenräumen. Die Grundlagen sind mir bekannt durch Berührung. Ich fange noch einmal an. Ich fange von vorne an. Ich zerlege alles bis auf das Skelett. Und dann setze ich es fehlerlos wieder zusammen! (40)

Krauß will zum Nachdenken über gesellschaftliche Entwicklungen in der Postwendezeit und in technologisierten und vernetzten westlichen Ländern anregen. Eine Mischung von Angst, Erwartung, Vorsicht und Rückschau überschneiden sich auf Krauß' Reisen in poetische Landschaften unbegrenzter Möglichkeiten. Das Fließende und Chaotische der offenen Postmoderne mündet für Angela Krauß in das Labor Amerika, wo unsichtbare Schilder mit "Big Brother is Watching You" aus Computerdateien und Silicon Valley überall hervorlugen. Die Erzählerin in Weggeküßt ist skeptisch geworden und kann nicht mehr der verlockenden Graffiti "Change the Game" zustimmen, welche die Protagonistin in Milliarden neuer Sterne noch als Motto beeindruckte und inspirierte:

Change the game. Deshalb bin ich hergekommen. Deshalb habe ich hergewollt. Deshalb wollen sie alle her. Aber wir müssen uns beeilen! [....] Man muss das Rad anhalten. Absteigen. Die Ursache des Zwischenfalls suchen. Das Weltbild korrigieren. Nachdenkliche Fortsetzung der Fahrt. Das ist die alte Welt. Nichts wie weg!" (12)

Die "Inszenierung [des] neuen Lebens" in Weggeküßt (31) ist ein fortlaufender Prozess bei allen drei Protagonistinnen, die den locus America aus verschiedenen Perspektiven beleuchten. In der Doppelbedeutung des Wortes "Überfliegerin" ist die implizite Herausforderung an die Leser enthalten, nicht flüchtig an der Oberfläche vorbeizurauschen, sondern Widersprüchliches aufzudecken und zu überprüfen. Die zunehmende Entfremdung im zwischenmenschlichen Bereich und der Entzug der Freiheit und Individualität durch Werbung, Vernetzung und Massenmedien verweisen auf Gefahrenzonen, denen Krauß kontinuierlich in ihren Amerikaporträts nachspürt. Für Krauß ist das Weltbild immer wieder neu zu interpretieren und zu korrigieren, um Widerstandsstrategien gegen Status-Quo Mentalität zu entfalten. Kritisch beleuchtet sie auf das unbekümmerte Einstimmen in den Jubelgesang, wenn die Protagonistin in Milliarden neuer Sterne der Vergangenheit im Osten den Rücken kehrt. Mit solchem Verhalten wird das Erlebte unterdrückt und verdrängt und der Schmerz nicht ausgetragen, den die Protagonistin in Weggeküßt in Erinnerungsströmen und Kontemplationen anvisiert und verarbeitet: "Wir sagten: Die Mauer. Wie: Die Mutter. Der Vater" (80). Das Amerikabild bei Krauß ist differenziert und zeigt auf Licht- und Schattenseiten von West und Ost. Die Lebensmuster der westlichen Welt werden nicht poetisch "vergoldet", wie ein "Sternenhimmel", sondern auf ihr Potenzial für eine bessere Zukunft untersucht.

Anmerkungen

1 Jörg Magenau, "Die Realität zum Schweben bringen. Gespräch mit der Leipziger Autorin Angela Krauß über die DDR, die Wende, und die Wendeliteratur, über Bahnhöfe Flugzeuge und Reisen, das Sichtbare, das Unveränderliche, das Politische und das Poetische", Freitag 13.10. 1995.

2 Angela Krauß, Die Überfliegerin (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1995) 31.

3 Norbert Otto Eke, "Das Schweben und die Form: Angela Krauß' Erzählkunst," Neue deutsche Literatur 2 (2002): 129-137; hier 129.

4 Krauß, Weggeküßt (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002) 10.

5 Jack Zipes, "Die Freiheit trägt Handschellen im Land der Freiheit. Das Bild der Vereinigten Staaten von Amerika in der Literatur der DDR," Amerika in der deutschen Literatur. Neue Welt-Nordamerika-USA, hg. von Sigrid Bauschinger, Horst Denkler und Wilfried Malsch (Stuttgart: Philipp Reclam jun., 1975) 335.

6 Krauß, Milliarden neuer Sterne (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1999) 24.

7 Gerhard Wolf, "Das Gedicht unterwegs nach Utopia - Lyrik aus der DDR", Die Horen, 4. 26 (1981): 11-59. Vgl. auch Barbara Mabee, Die Poetik von Sarah Kirsch: Erinnerungsarbeit und Geschichtsbewusstsein (Amsterdam/Atlanta: Rodopi, 1989) 83.

8 Magenau; vgl. Endnote 1.

9 Wolfgang Hädecke sieht den Tod im Zerschmettern des Flugzeuges als Endstation der Heldin. Hädecke, "Ende eines Ikarusfluges. Angela Krauß' Erzählung Die Überfliegerin," Frankfurter Rundschau 13.11.1995. Er übersieht dabei den strukturell von Krauß angelegten Bezug zur früheren und von mir zitierten Textstelle (36) und Krauß' Anwendung des Stilmittels der Fantastik, welches von Irmtraud Morgner und zahlreichen anderen DDR-Autorinnen gerade in bezug auf Fliegen vielfach verwendet wurde. Vgl. Barbara Mabee, "The Witch as Double: Feminist Doubles in German Literature and Irmtraud Morgner's Amanda,"Journal of the Fatastic in the Arts (Winter,1995): 166-190.

10 Vgl. Johannes Urzidil, Das Glück der Gegenwart: Goethes Amerikabild (Stuttgart: Artemis, 1958).

11 Christine Cosentino, "Das Reisemotiv als Spiegel der Identitäts-stabilisierung," GDR Bulletin 26 (1999): 1-9; hier 9.

12 Mit dem Wort "Jubelschreie" lehne ich mich an den Titel von Günter de Bruyns Text an. Vgl. Günter de Bruyn, Jubelschreie, Trauergesänge, 'Deutsche Befindlichkeiten' (Frankfurt am Main: Fischer, 1991). Auf die "Jubelschreie " in Krauß' Text Milliarden neuer Sterne folgen dann in Weggeküßt die "Trauergesänge", mit denen die Autorin auf die Schattenseiten des unreflektierten Mitmachens und angepassten Einstimmens in westliche Töne verweist.