Glossen Sonderausgabe/Special Issue: 19/2004

Wie Amerika der DDR die Freiheit gab: Thomas Brussigs Helden wie wir und Sonnenallee
Reinhard Zachau

Es gab in der DDR immer eine unkritische Neugier auf den großen Bruder im Westen, die sich wegen der offiziellen anti-amerikanischen Propaganda als subversiv empfinden durfte. Doch schon an den elementarsten Kenntnissen über die USA mangelte es, Kenntnissen der Sprache, der Musik oder der Kultur. Diese Unkenntnis wirkte auf Westler komisch, etwa wenn Brathähnchen als Broiler bezeichnet wurden, konnte aber auch als erfrischend naiv empfunden werden, da sich für den Ostler oft große Hoffnungen mit den USA verknüpften. Die Arroganz der Achtundsechziger fehlte völlig.

Kaum ein Autor eignet sich für eine Darstellung dieser Situation besser als Thomas Brussig. Brussig betrat die Literaturszene 1995 mit seinem respektlos pornographischen Roman Helden wie wir, der in Ost und West mit Riesenvergnügen gelesen wurde. Endlich, so glaubte man, war der Wenderoman da, auf den man so lange warten musste. Helden wie wir zeigt einen neuen satirischen Ton für die deutsche Geschichte, der die Vereinigung nicht auf die Höhen weihevoller Literatur hob, sondern sie verkleinerte. Es gelang ihm, den Ton der penetrant spätaufklärerischen Schreibe der Böll-Grass-Literatur zu überwinden, den moralischen Zeigefinder, der sich auch in der DDR als „sozialistischer Realismus" eingenistest hatte. Damit wurde Brussig zum literarischen Star und auch sein vorher unter Pseudonym veröffentlichter Roman Wasserfarben konnte nun unter dem Namen des Autors erscheinen. Es folgte der Film Am kürzeren Ende der Sonnenallee (1999), der Roman Am kürzeren Ende der Sonnenallee, weiterhin das Theaterstück Heimat (2000), und 2003 das satirische Fußballbuch Leben bis Männer. Zur Zeit arbeitet Brussig mit Edgar Reitz an einer Fortsetzung der monumentalen Heimat-Trilogie der deutschen Geschichte, an der Reitz jetzt schon dreißig Jahre arbeitet. Seit seinem fulminanten Beginn mit Helden wie wir mutierte Brussig zum deutschen Nationalautor par excellence, der befugt ist, Auskunft über die Befindlichkeit der Nation zu geben. Auch in der Literaturwissenschaft wird Brussig zunehmend als Repräsentant einer neuen deutschen Nationalkultur gesehen.[1]

Dieser neue Ton wird von ostdeutschen Autoren dominiert, die anders als ihre westdeutschen Pendants größeres Interesse an einer nationalen Neubestimmung haben. Ein wichtiger Teil dieses Definitionsversuchs ist eine Reflexion der Beziehung zum Westen, insbesondere zu den USA. Wie auch in Westdeutschland oder dem „alten" Deutschland Autoren immer Elemente der amerikanischen Popkultur verwendeten (wie Benjamin Stuckrad-Barre in Blackbox oder Maxim Biller in Harlem Holocaust), so nimmt auch Brussig amerikanische Elemente in seine Texte auf.

Brussigs Roman Helden wie wir will wie Günter Grass' Wenderoman Ein weites Feld provozieren, doch nicht durch empörtes Moralisieren, sondern durch Einbringen und gleichzeitiges Zurücknehmen der eigenen Position in einer humorvoll-spielerisch postmodernen Erzählhaltung. Durch seine erfrischende "neue Unbefangenheit" (Manfred Jäger) hebt er sich von seinen verstaubt wirkenden Vorgängern ab. Diese Frischluftzufuhr kommt aus der anglo-amerikanischen Literatur, die Brussig mit großer Intensität aufgenommen hat, besonders den "Altmeister" der amerikanischen Protestliteratur, Jerome Salingers The Catcher in the Rye[2], ein Buch, das auch schon Heinrich Böll in den fünfziger Jahren geprägt hatte.[3] Neben Salinger nennt Brussig den Amerikaner Henry Miller als Modell, dessen Romane Tropic of Cancer und Tropic of Capricorn[4] die puritanische amerikanische Gesellschaft sexuell geöffnet hatten. Die wahren literarischen Helden des Wunderkinds Brussig sind jedoch die "Sexologen" Philip Roth (Portnoy's Complaint, The Anatomy Lesson und The Breast),[5] wo politischer Protest zu privatem sexuellem Aufbegehren reduziert wird. Dazu kommen Charles Bukowskis Lyrik [6] sowie die Romane des Medienstars John Irving mit seiner bizarren Sexkomödie The Hotel New Hampshire. Besonders Irvings grotesker Roman The World According to Garp[7] wirkte auf Brussigs Helden-Roman, wie in der forsch-fröhlichen Beschreibung der sexuellen Praktiken seines Helden Uhltzscht deutlich wird: „Unzucht mit Broilern sprengte das 9. Kapitel! Ich trieb's mit Tieren! Mit toten Tieren! Mit toten Jungtieren! Die keinen Kopf hatten. Also mit verstümmelten! Toten! Tieren! Vier Perversionen auf einmal!"[8] Diese amerikanische Untergrund- und Porno-Literatur wurde die wichtigste Quelle für Brussigs literarische Provokationen.

Klaus Uhltzscht erzählt in seinem fiktiven Interview mit einem New York Times-Reporter, "wie ich das mit der Berliner Mauer hingekriegt habe"[9]. Es ist bezeichnend wie hier die New York Times in der Rahmenerzählung die große Welt darstellt, das liberale westliche Ausland, auf das er als armes Würstchen der kleinen unbedeutenden DDR einwirken möchte. Der Name des New York Times-Reporters in Helden wie wir ist dabei schon Programm, ein Mr. Kitzelstein, ein Name, bei dem man kein psychologischer Experte zu ein braucht, um die sexuelle Symbolik zu erkennen. Uhltzscht ähnelt in diesem psychoanalytischen Gespräch dem braven Soldaten Schweijk, der einfach drauflosredet, weil zunächst alles nur eine "Sprechprobe" für den Reporter aus Amerika sein soll. Uhltzscht behauptet, er allein habe die Mauer beseitigt entgegen dem Irrglauben, das DDR-Volk habe die Mauer abgerissen. "Die Geschichte des Mauerfalls", so Uhltzscht, "ist die Geschichte meines Pinsels", d. h. seines Geschlechtsorgans[10], eine "brillante Verarschung" der deutschen Vereinigung, wie Roberto Simanowski schreibt.[11]

Uhltzscht meint, dass er den kleinbürgerlichen DDR-Sozialismus durch seine sexuelle Selbstbefreiung überwunden hat. Er glaubt, seine Selbstbefreiung ist das Ergebnis seines langen Bemühens, seine "abenteuerlichen" pubertären Verklemmungen mit Hilfe von westlichen Kultureinflüssen zu überwinden - besonders amerikanische Rockmusik wird erwähnt - Salingers Catcher in the Rye und Plenzdorfs Edgar Wibeau lassen grüßen.[12] Im Augenblick der sexuellen Selbsterfahrung glaubt Uhltzscht, dass er die Gesellschaft verändern kann, was sich in der lächerlichen Geste zeigt, er könne wie ein Cowboy "die Füße hochlegen und jedermann mit Hi begrüßen", und "die Türen ranziehen, ohne sie zu klinken!"[13] Der „befreite Held" revoltiert gegen die kleinbürgerliche Ordnungsliebe seiner Mutter und "die geheiligste Ordnung der Sofakissen" - und das alles in Jeans, dem Ausdruck des dekadenten westlichen Lebensstils.[14] Brussig beschreibt in seiner sarkastischen Selbstdarstellung von Uhltzschts Verhalten eine ganz normale DDR-Spießertype, für die sexuelle Repression zum alltäglichen Instrument gehörte.

Psychologie, Sexphantasien, Individualismus als „amerikanische" Elemente kristallisieren sich als Hauptbestandteile aus Brussigs Roman heraus, die dem Helden helfen, sich von der als spießig dargestellten DDR-Kultur zu emanzipieren. Diese Spießigkeit wird in der Person der Schriftstellerin Christa Wolf lokalisiert. Auf dem Höhepunkt des Buches konzentriert Uhltzscht sich auf Christa Wolfs Rede auf dem Alexanderplatz am 4. November 1989, eine "zuckersüsse Bombe", wie Wolf Biermann sie nannte. In seiner pikaresken Unschuld verwechselt Uhltzscht bewußt Christa Wolfs Rede mit der Rede der Eislauftrainerin Jutta Müller (Katharina Witts Trainerin) auf dem Alexanderplatz am 4. November 1989, das Idol von Uhltzschts Mutter. Er stellt damit diejenigen älteren Frauen in der DDR gleich, die in ihrer Jugend begeisterte FDJ-lerinnen waren und die "noch heute vom wahren Sozialismus schwärmen", doch damit eigentlich Lagerfeuerromantik meinten. Es fällt hier der Ausdruck vom "Mutti-Sozialismus"[15]; Christa Wolf gehöre in die vorderste Reihe dieser Mutti-Sozialisten, eine Schriftstellerin, die sich, so Brussig, politisch fast nie verbindlich geäußert habe. Christa Wolf ist nach Brussig/Uhltzscht (hier am Ende des Romans beginnen sich die Erzählperspektiven von Held und Autor zu vermischen) die richtige Schriftstellerin für "ein Volk, das ratlos vor ein paar Grenzsoldaten stehen bleibt, ein solches Volk hat einen zu kleinen Pimmel - in diesen Dingen kenne ich mich aus".[16] Mit der sarkastischen Überschrift des letzten Teils seines Romans, "Der geheilte Pimmel", nach Christa Wolfs Erzählung Der geteilte Himmel, möchte er mit dem Mauerfall Christa Wolfs Darstellung der deutschen Teilung umkehren und zu Ende führen. Brussig verurteilt Christa Wolfs angepasstes Verhalten, und damit das heimelige DDR-Leben, wenn er Uhltzschts Mutter zitiert: "'Ich weiß nicht, was das soll', erwiderte sie [die Mutter - RZ] kopfschüttelnd, 'Wir haben uns für die Menschen aufgeopfert, für ganz normale Menschen, deshalb sind wir Helden.' 'Helden', wiederholte ich betäubt. 'Natürlich', sagte sie, 'Helden wie wir haben nichts zu bereuen'".[17] Diese larmoyante Rechtfertigung des eigenen angepassten Verhaltens wird von Brussig als unberechtigt zurückgewiesen.

In der jüngeren deutschen Literatur wird Brussigs Haltung inzwischen uneingeschränkt akzeptiert. Als Beispiel zitiere ich aus Falko Hennigs 2002 erschienenen Roman Trabanten, in dem die Mutter des Protagonisten mit fast denselben Worten argumentiert: „Für unser Land! Hast du nicht Christa Wolf im Fernsehen gesehen? Und das ist eine Autorität, so eine mutige Frau..."[18] Und dem Helden wird bedeutet, dass er sich durch sein Abtauchen in die Berliner Szene der Verantwortung seinem Land gegenüber entziehe, einer Verantwortung, die sich in der Person der Christa Wolf modellhaft darstellt.

War Helden wie wir 1995 als Abrechnungsbuch mit der DDR ein politischer Roman, der seine Aggressivität hinter einem satirischen Mantel versteckte, so veränderte sich Brussigs Haltung im folgenden Roman Am kürzeren Ende der Sonnenallee, der zeitgleich mit dem Film Sonnenallee veröffentlicht wurde.[19] Sonnenallee ist die Geschichte der deutschen Teilung, die Geschichte einer durch die Mauer geteilte Berliner Straße, wobei das längere Ende der Sonnenallee im Westen, das kürzere im Osten liegt, was symbolisch gemeint ist, da die DDR-Bewohner sich als durch die deutsche Teilung zu kurz gekommen sahen. Film und Buch sind keine langweilige Dokumentation, sondern eine der unterhaltsamsten Geschichten der neunziger Jahre.

Leander Haußmann arbeitete zusammen mit Thomas Brussig an dem Film, der einer der größten Erfolge der neunziger Jahre werden sollte. Die Autoren fanden den angemessenen Ton, um über die jüngste Vergangenheit zu schreiben, nicht pathetisch, sondern sarkastisch und selbstironisch. Brussig und Haußmann wollten zeigen, wie viel Spaß sie als Jugendliche in der DDR gehabt hatten - sie waren verliebt und wollten auch erleben, was die Jugendlichen im Westen erlebten, die Hippiezeit. Der achtzehnjährige Micha ist der Erzähler. Micha hat eine ältere Schwester, die jede Woche mit einem neuen Freund nach Hause kommt; Micha hat einen Vater, der nur zu Hause herumsitzt und fernsieht; eine Mutter, die immer von Vorsicht und Anpassen spricht; einen Westonkel, der fast täglich kommt und Westware schmuggelt. Micha interessiert sich für Popmusik und die schöne Miriam, und er verbringt viel Zeit mit seinem Freund Wuschel, mit dem er Gitarrensolos imitiert und Rolling Stones Alben zu kaufen versucht. In dieser seltsamen Welt der siebziger Jahre werden Plattenalben heimlich von Straßenhändlern gekauft, die die geflüsterten Wünsche ihrer Kunden nach etwas "Psychedelischem" zu erfüllen versuchen, während Michas Vater endlich das ersehnte Telefon erhält mit Hilfe eines Attests, das ihm Epilepsie bescheinigt. Er hat das System erfolgreich unterlaufen, wie er jedem versichert, der es hören will. Michas bester Freund Mario veranstaltet eine Party, wo Kräuter als Ersatz für unerreichbare Drogen herhalten müssen.

Film und Buch wurden von der Kritik als zu leichtgewichtig und oberflächlich abgetan. Dabei übersehen die Kritiker, dass genau diese Oberflächlichkeit die Absicht des Autors war, der neben seinen psychisch gestörten Helden Uhltzscht jetzt eine weniger verkrampfte Person stellen wollte. Die wesentlichste Veränderung zum Helden-Buch liegt in der größeren Betonung des amerikanischen Einflusses, der jedoch nicht mehr aus der alternativ-pornographischen amerikanischen Literatur besteht, sondern aus Elementen der Popkultur. Hatten in Helden wie wir Psychoanalyse und Anerkennung durch die New York Times im Vordergrund gestanden, so scheint Sonnenallee nur noch aus Unterhaltung zu bestehen. Eine typische Szene findet zu Beginn statt, als der ABV (d. i. der Abschnittsbevollmächtigte) den Titel „Moscow" der Gruppe Wonderland verbietet, ihn dann aber für sich selbst kopiert. Damit wird die DDR-Praxis persifliert, moderne Rockmusik außer sogenannter „gepflegter Rockmusik" zu verbieten.[20] Im Buch Am kürzeren Ende der Sonnenallee überwiegen noch die verbotenen französischen Chansons wie "Je t'aime" (Jane Birkin) und "Je ne regrette rien" (Edith Piaf), mit denen das Interesse von Marios Freundin an Frankreich und dem Existenzialismus unterstrichen werden; im Film nun dominiert völlig die amerikanische Rockmusik, was mit der fast völligen Zurücknahme der romanhaften Handlung in episodenhafte kurze Szenen einhergeht, die oft unmotiviert auf einander folgen. Wie in einem amerikanischen Musikvideo der siebziger Jahre wie Grease oder Hair trägt die Musik die Geschichte von Sonnenallee, - die Musiktitel erzählen die Geschichte von Micha, Miriam und der DDR. Die Handlung ist dem Fluss der Musiktitel völlig untergeordnet. So wird Wuschels Suche nach dem Rolling Stones Doppelalbum Exile on Main Street mit Stones-Musik unterlegt, eines der erfolgreichsten Alben der Rockmusikgeschichte überhaupt. Die Verwirrungen der Handlung durch das Album, durch das Wuschel fast zu Tode kommt, bestimmen den größten Teil von Sonnenallee.

Der zweite Handlungsstrang, Michas Beziehung zu Miriam, wird musikalisch von Nina Hagens inzwischen legendärem Song "Du hast den Farbfilm vergessen" begleitet: „Du hast den Farbfilm vergessen mein Michael, nun glaubt uns kein Mensch wie schön's hier war, alles blau und weiß und grün und später nicht mehr wahr."[21] Mit diesem programmatischem Ostsong wird die Geschichte der DDR erzählt. Die Welt war wohl früher farbig gewesen, doch an ihrem Ende veränderte sie sich zu Schwarzweiß; und so erinnern wir uns an die DDR nur als an ein Schwarzweißbild. Was einst bunt und lebensprall war, erscheint nun grau und düster, ein Prozess, der dem normalen Nostalgieverlangen entgegengesetzt ist. Diesem Erinnerungsfehler möchten Brussig und Haußmann mit dem ersten erfolgreichen "Ostalgie"-Film Sonnenallee entgegenwirken, dem inzwischen eine Reihe ähnlicher Filme folgte.[22] Mit Michas und Miriams Geschichte wollen Haußmann und Brussig uns die ihrer Meinung nach „wahre" DDR zeigen, wenn auch nostalgisch aufbereitet, denn so eine DDR hat es in ihren „Hair"-Farben mit vollsoundiger amerikanischer Rockmusik niemals gegeben.

Christiane Kühl beschreibt diese Märchen-DDR: „Die jugendlichen Helden springen vom Balkon, sterben aber nicht, und das Arbeiter und Bauern Volk nimmt im Tanzschritt sanft die Grenze. So schön hätte das sein können."[23} Während im Buch Am kürzeren Ende der Sonnenallee Gorbatschow als Deus ex machina Marios Kind zur Welt gebracht hatte, und damit symbolisch eine neue DDR gründen half, verändert der Film diese politische Aussage zu einer Tanznummer aller Beteiligten auf die Mauer und die überraschten Grenzbeamten zu, die nicht mittanzen, mit der Sonne der Freiheit im Hintergrund. Wenn man nur gewollt hätte, so deutet Brussig in seinem forciert saloppen Musikfilm an, wenn man nur gewollt hätte, dann hätte die DDR mit Hilfe der amerikanischen Rockmusik schon früher verschwinden können.

Anders als der Pinsel des neurotischen Individualisten Uhltzscht, anders als der idealistische Gorbatschow ist es jetzt das Volk, das sich seine Freiheit selbst mit Hilfe von Rockmusik nach der Musik von "The Letter" der Memphiser Rockband Box Tops ertanzt [24], die Straße wird zur Disko, in Vorwegnahme der Love Parade, die die Mauer öffnen wird, „Friede, Freude, Eierkuchen".[25] Es wäre zu diskutieren, inwieweit diese Vision Realitätsbezüge über die angebotene Nostalgiefunktion hinaus hat, enthält sie doch Spuren mancher Programmentwürfe des Revolutionsjahres 1989. Es handelt sich bei dem Ideologieangebot von Sonnenallee nicht nur um eine Vorwegnahme der Verwestlichung der DDR, sondern auch um eine Suche nach Synthesemöglichkeiten, jetzt nicht mehr utopisch, sondern um den Versuch im Nachhinein etwas zu rekonstruieren. Der Ausdruck „nostalgisch" dürfte dafür zu leichtgewichtig sein.

Dass in Sonnenallee affirmative Tendenzen vorhanden sind, erkennt man schon an dem wiederholt eingeblendeten Themenlied, Woody Guthries Song aus der amerikanischen Hippieperiode, „This Land is My Land", mit dem die aufmüpfigen US-Hippies zurück in patriotischere Gefühle geleitet wurden. Das Sonnenallee-Themenlied wird in Alex Hackes Version zur nostalgischen Verklärung und zum Nationalsong für eine vergangene DDR: „This land is your land, this land is my land, From Karl Marx City, to Rugen Island, From Thuringia Forest to Frankfurt - Oder, This land was made for you and me."[26]

Wie die Hippiebewegung der USA und die Achtundsechziger-Bewegung der Bundesrepublik in einer Pseudohaltung stehenblieben, deren Teilnehmer sich entweder in Institutionen verschlissen oder in einem Trauergefühl der verpassten Chancen verharren, so übernehmen Brussig und Haußmann diese Geste für die DDR. Da es diese Aufmüpfigkeit in der DDR nicht gegeben hatte und nicht geben konnte, wird die DDR im Nachhinein zu einer revolutionären Spaß- und Märchenrepublik stilisiert, in der alles möglich gewesen wäre. So hätte es wohl sein können, so war es aber nicht.

Anmerkungen

1 Wie in Stefan Neuhaus' Arbeit Literatur und nationale Einheit in Deutschland (Tübingen u. Basel: Francke 2002).

2 Jerome D. Salinger, The Catcher in the Rye (Boston; Little, Brown, 1951). Deutsch (übersetzt von Annemarie und Heinrich Böll) Der Fänger im Roggen (Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1962).

3 Heinrich Boll, Ansichten eines Clowns (Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1963).

4 Henry Miller, Tropic of Cancer (New York: Grove, 1961). (Zuerst 1934 in Paris erschienen.) Tropic of Capricorn (New York: Grove, 1962). (Zuerst 1939 in Paris erschienen.) The World of Sex (New York: Greenleaf, 1965).

5 Philip Roth, The Anatomy Lesson (New York: Farrar, Straus, and Giroux, 1983). The Breast (New York: Vintage, 1994). Portnoy's Complaint (New York: Random House, 1969).

6 Charles Bukowski, At Terror Street and Agony Way (Los Angeles, Black Sparrow Press, 1968). You get so alone at times that it just makes sense (Santa Rosa: Black Sparrow Press, 1986).

7 John Irving, The world according to Garp: a novel (New York: Dutton, 1978). The Hotel New Hampshire (New York: Dutton, 1981).

8 Thomas Brussig, Helden wie wir (Berlin: Volk und Welt, 1995) 240.

9 Helden 6.

10 Helden 7.

11Roberto Simanowski, "Die DDR als Dauerwitz" http://www.thomasbrussig.de/helden/ndl.htm, 1996.

12 Ulrich Plenzdorf, Die neuen Leiden des jungen W.( Frankfurt: Suhrkamp, 1973).

13 Helden 132.

14 Helden 132.

15 Helden 288

16 Helden 315.

17 Helden 299.

18 Falko Hennig, Trabanten (München: Piper, 2002) 111.

19 Thomas Brussigs Homepage enthält wichtige Informationen über das Sonnenallee-Projekt, sowohl zum Film als auch zum Buch: http://www.thomasbrussig.de/. Die offizielle Homepage des Films ist http://www.sonnenallee.de/. Das Drehbuch ist enthalten in dem Arbeitsbuch Sonnenallee: das Buch zum Film, hrsg. von Leander Haußmann, Mitarb. Bettina Gries. Mit dem Drehbuch, einem Interview mit Leander Haußmann und Thomas Brussig sowie Beiträgen. von Alexander Osang u. a. (Berlin: Quadriga, 1999). Vergleiche auch meinen Beitrag zu Sonnenallee im 2004 erscheinenden Buch German Culture through Film: An Introduction to German Cinema (Focus Publ.).

20 Siehe Alexander Osangs Artikel zur Beatmusik in Sonnenallee, a.a.O., der auch eine Darstellung der beliebten DDR-Band Die Puhdys und ihre Rolle im Film gibt.

21 Die Musik befindet sich auf der CD Sonnenallee: EastWest Warner Music, 2002.

22 Goodbye Lenin. Video 2003. Als Drehbuch 2003 erschienen unter dem Titel Goodbye, Lenin bei Schwarzkopf.

23 Christiane Kühl, „Sex und Substitutionsdrogen", taz 7. Oktober 1999, S. 15.

24 Hier gespielt von den Dynamo 5.

25 Das Motto der Love Parade.

26 CD Sonnenallee: EastWest Warner Music, 2002.