G:  rezensionen


Zu Peter Waterhouse: Die Geheimnislosigkeit. Ein Spazier- und Lesebuch. Residenz-Verlag, Salzburg und Wien 1996. 256 Seiten

"Das 'ich' ist keine Granitsubstanz, sondern schaut immer in eine Landschaft" - diesen Satz ziemlich am Anfang von Peter Waterhouses Buch muß man ganz wörtlich nehmen, so wörtlich, wie man einen literarischen Satz halt nehmen kann. Granit befindet sich fest an einer Stelle und ist in sich fest, Waterhouse aber will sich eher durchlässig machen und im übrigen sowohl literarische Landschaften mustern wie auch in wirkliche Landschaften blicken. Ein Spazierbuch ist Die Geheimnislosigkeit also, weil Waterhouse hin und her geht zwischen Texten und Texten, zwischen Texten und Landschaften, und ein Lesebuch ist es, weil die Spaziergänge ja nur ("nur") im Buch, in Worten erfolgen. Er schlendert nachdenklich, er hält bei Zitaten wie bei Funden und Aussichtsstellen inne und erlegt sich nie - weder im Duktus noch in der Konsequenz - die Verpflichtung auf, irgendwo anzukommen, und mit ihm gehend lernt man viele, auch sehr entlegene Stücke Literatur kennen, meist> aus der Gegenwart übrigens. So malt sich also die Landschaft der jetzigen Literatur im Kopf des Lesers, Übersetzers und Sprachdenkers Waterhouse. Befremden mag mehr das Titel-Stichwort der "Geheimnislosigkeit". Die wird aber nicht beklagt, à la "die Welt ist leider gänzlich entzaubert"; vielmehr ist Waterhouse eher darauf aus, die Poesie eben nicht zu einem Geheimnis zu verklären, sondern alle die Gedichte und Prosatexte, die er anführt, ganz ruhig mit einem scharfen Umriß vor einen hellgrauen Hintergrund zu stellen. Wir haben hier elf Wanderungen oder Streifzüge, besprochen im Ton einer halb heiteren, halb vergrübelten Plauderei. Gänge in die Umgebung von Wien und im Böhmerwald in die Richtung von Adalbert Stifters Oberplan sind, wie gesagt, auch ganz real mitgemeint und strukturbildend, und die Notate Gerard Manley Hopkins' zu seinen Spaziergängen in die Umgebung von Oxford in seinem - 1993 in deutscher Übersetzung von Waterhouse erschienenen - Journal werden immer wieder Gegenstand von Waterhouses Sinnieren, Ausgang und Anlaufpunkt seiner diskontinuierlichen, unsystematischen Poetik. Diese Poetik verpflichtet sich nicht auf Vollständigkeit und Lehre, aber sie hat doch ihre Konstanten, und im Aufbau des ganzen Buches gibt es Ostinatos und Echos. Eine dieser Konstanten ist, daß der Autor sich "der Gewalt des Satzes, dem Starksein widersetzt", und das heißt: Geurteilt, rezensiert, abgetan wird hier nicht und nichts, es wird nirgends dogmatisch, geharnischt und rechthaberisch gesprochen, eher erzählend, vom Umgang mit Texten berichtend, Texte anarchisch-freundlich für sich bedenkend und dem Leser unterbreitend. Wäre das Wort nicht schon so modisch und hätte das, was es bezeichnet, noch ein Ethos, mußte man Waterhouses Texte "Meditationen" nennen, auch "Studien", in dem festen, ruhigen Sinn Adalbert Stifters. Vor allem aber wird hier ein Angebot gemacht, nämlich mit dem Autor zusammen mit Texten zu leben, in Texten zu denken, nicht begriffslos, aber ohne literaturwissenschaftliche oder kunstrichterliche Terminologie und Attitüde. Es sind Angebote von zurückhaltender Dringlichkeit. Am Anfang nimmt Waterhouse Bezug auf Adalbert Stifters Erzählung Der beschriebene Tännling, und das bringt einen - da paradoxe Nuancierungen - durch Ausnutzen von Wortspielmöglichkeiten zu den Verknüpfungs- und (könnte man fast sagen:) Erkenntnistechniken Waterhouses gehören, in Versuchung zu sagen: Die Geheimnislosigkeit handelt davon, daß in der Literatur nur "beschriebene" Tännlinge vorkommen, daß Welt nur in Kunst-Sprache erscheint und nie die Sachen selbst (also ist Literatur eigentlich nie "authentisch"...) - und was heißt das dann für alle möglichen Themen und Gegenstände und Wörter? Übrigens ist ein Buch mit Haikus des Japanars Bashô immer dabei, und daraus werden immer wieder Beispiele hergesetzt:

Köstlicher Reisährenduft!
Unsere Schritte zerteilen ihn - und
rechts leuchtet das Meer

Der Hinweis auf diesen Dichter, den japanischen Dichter schlechthin, Matsuo Bashô (1643 - 1694), ist schon Gold wert (und weil Waterhouse noch nicht einmal genaue bibliographische Daten dafür gibt, seien sie hergesetzt: Matsuo Bashô: Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland. Aus dem Japanischen und mit einer Einführung und Annotationen von G. Drombady. Mainz 1985); es geht aber nicht um feinsinnige poetische Japonica, es geht um Poetik, auch und vor allem um zeitgenössische, und es geht vor allem nicht um ungebremstes Lob vergangener Zeiten und angeblich einstmals noch vorhandener Nichtentfremdetheiten und Eigentlichkeiten à la Peter Handke; ganz unvermittelt erscheint ein Haiku - von Waterhouse? - auf das von Oberplan nicht allzu weit entfernte Mauthausen:

In der Augustluft
Gerader Lagerweg - und
laut sind die Toten

Es folgt bei Waterhouse nun keine Erörterung, ob die poetische Form des Haikus auch das Thema KZ bewältigen könne, es wird dieser kleine kommentarlose Versuch eines Haikus auf Mauthausen oder die bei einem Gang durch die dortige Landschaft plötzlich aufsteigende Erinnerung an das KZ nur ganz beiläufig hingestellt, aber nicht gründlich und grundsuppig darauf bestanden, daß dies nun "ausdiskutiert" werden müsse, geschweigen denn: könne. Oder: "Tankstelle", "Dachterrasse" oder "Grillparty" sind nach Waterhouse keine Worte, sondern Bezeichnungen, und er fragt nicht die Linguisten, ob er da begrifflich rechthabe - die Linguisten, die ja auf wissenschaftliche Weise von der Sprache der Poesie nichts verstehen -, sondern er wartet, sagt er, auf den poetischen Erweis des Gegenteils: Vielleicht gibt es ja demnächst ein Gedicht, in dem alle drei Bezeichnungen zu Worten geadelt werden? Bei Gottfried Benn kommen ja auch "Banane" und "Bartwichse" im Gedicht vor - und in was für einem (nämlich eben dem Gedicht "Banane" aus den zwanziger Jahren)! "Atombombe" - was für ein Gedicht! Aber das gibt es auch schon in einem Gedicht, sogar einem Gedicht im emphatischen Sinne, nämlich bei der Dänin Inger Christensen in ihrem Gedichtband alfabet (Kopenhagen 1981; dt. Münster 1988, übersetzt von Hanns Grössel) - es geht also doch, ebenso wie es bei Inger Christensen auch "Jagdflugzeuge" im Gedicht gibt; bei Waterhouse wird aus diesem Gedichtband zitiert.

Man muß sich bei Peter Waterhouse an Sätze gewohnen wie: "Die Quitte duftet und der Dichter dichtet. Warum duftet die Quitte? Um an Quitten zu erinnern. Warum dichtet der Dichter? Um an Menschen zu erinnern; an die Welt zu erinnern; an alles zu erinnern." Ein bißchen Metaphysik, ad hoc und in defence of poesie erdacht, darf ja wohl sein in einem Buch über Dichtung. Liest man obendrein den Anlaß, der solche flüchtigen poetologischen Dicta hervorbringt, nämlich ein Gedicht von Biagio Marin auf den Tod Pasolinis, erkennt man Waterhouses Sätze als wunderbar emphatischen Kommentar: nicht begrifflich, aber adäquat.

So ohne schneidend-sonderndes oder hinrichtendes Messer, auch ohne gefällige Paraphrase begleitet Waterhouse die Texte, dringt unmerklich in sie ein, entlockt ihnen ihr Merkwürdiges. Oft sind schon die puren Funde, die Leichtigkeit, mit der er Zitiertes beistellt, ein Akt leiser und trockener, nonchalanter Überrumpelung: man beneidet ihn um die Funde, mehr aber noch um die Fähigkeit, Zitate nicht als "Belege", geschweige denn "Beweise" herzusetzen, sondern sie gewissermaßen eifrig herbeizuschleppen und - hier läßt er Goethe sprechen - als "zarte Erscheinung" wirken zu lassen. Hopkins, Hölderlin, Andrea Zanzotto, Olof Darlin, Oskar Pastior, Carl von Linné werden angeführt, ihre Poetik bedacht, und manchmal sagt Waterhouse gar nicht, von wem der angeführte Texte ist, bisweilen ist er auch von ihm selbst - aber warum auch nicht? Gerade bei zu Tode zitierten Goethe führt Waterhouse atemberaubende Zitate aus dem Tagebuch der italienischen Reise an; was soll man denn von dieser Merkwürdigkeit halten, in der der ganzen Alpenlandschaft eine Art Herzschlag angedichtet wird (und die prompt in der überarbeiteten Fassung, der späteren Italienischen Reise, gar nicht mehr erscheint):

Betrachten wir die Gebirge näher oder ferner und sehen wir ihre Gipfel bald im Sonnenscheine glänzen, bald vom Nebel umzogen, von stürmenden Wolken umsaust, von Regenstrichen gepeitscht, mit Schnee bedeckt, so schreiben wir das alles der Atmosphäre zu, da wir mit Augen ihre Bewegungen und Veränderungen gar wohl sehen und fassen. Die Gebirge hingegen liegen vor unserm äußeren Sinn in ihrer herkömmlichen Gestalt unbeweglich da. Wir halten sie für tot, weil sie erstarrt sind, wir glauben sie untätig, weil sie ruhen. Ich aber kann mich schon seit längerer Zeit nicht entbrechen, einer innern, stillen, geheimen Wirkung derselben die Veränderungen, die sich in der Atmosphäre zeigen, zum großen Teile zuzuschreiben. Ich glaube nämlich, daß die Masse der Erde überhaupt, und folglich auch besonders ihre hervorragenden Grundfesten, nicht eine beständige, immer gleiche Anziehungskraft ausüben, sondern daß diese Anziehungskraft sich in einem gewissen Pulsieren äußert, so daß sie sich durch innere notwendige, vielleicht auch äußere zufällige Ursachen bald vermehrt, bald vermindert. Mögen alle anderen Versuche, diese Oszillation darzustellen, zu beschränkt und roh sein, die Atmosphäre ist zart und weit genug, um uns von jenen stillen Wirkungen zu unterrichten.

Was soll man denn davon halten? Ist das wissenschaftlicher Dilettantismus? Ist das ein poetisch-spekulativer Tagtraum? Jedenfalls ist es unvergleichliche, irgendwie fast rührende Prosa. - Aus der Farbenlehre finden sich ähnlich befremdliche Zitate - man kann auch sagen: poetische Bilder -, so daß ich doch wieder der Idee nähertrete, man müsse einmal ein Buch zusammenstellen mit ganz unheimlichen, verstörenden, rätselhaften Zitaten aus dem Werk Goethes, daß den Lesern einer solchen Anthologie angst und bange würde ob der krausen und manchmal tief pessimistischen, ja nihilistischen Gedanken des Olympiers ... Eines der überraschendsten Gedichte, die Waterhouse präsentiert - fast muß man sagen: im Laufe seiner poetischen Conference anläuft -, ist ein Stück von dem mir bisher unbekannten Carl Rakosi: "Midnight Bus" ist ein Gedicht in englischer Sprache, woran zu zeigen wäre, was ein Gedicht in freien Rhythmen sein kann, wenn es nicht einfach ein sorgloses Parlando darstellt mit ein bißchen Zeilenbruch; witzig und präzise merkt Waterhouse an, der Bus in dem Gedicht sei gar kein Bus, sondern ein "poetischer Impuls", der das Gedicht vorantreibt (womit er recht hat: Oskar Matzerat in der Blechtrommel ist ja eigentlich auch nicht vorrangig eine Figur, sondern eine Erzähltechnik, eine Perspektive, ein Medium, das durch eine Zeit geschickt wird, damit aus seiner Perspektive davon erzählt werden kann). Und unter der Hand, und wenn er voll geprüfter Zustimmung ist, unterläuft Waterhouse dann doch so etwas wie eine Rezension, oder eher eine Vorstellung: 14 Seiten lang beschreibt er höflich und angelegentlich Thomas Klings Gedichtband brennstabm - ich kenne bis jetzt keine angemessenere Besprechung dieses Bandes.

Es gibt auch leise Verstiegenheiten in diesem Buch, und die sind jener leichten Gespreitztheit verwandt, an der bisweilen auch Peter Waterhouses meist so ausgezeichnete Übersetzung der Gedichte Michael Hamburgers leidet (Michael Hamburger: Traumgedichte. Zweisprachige Ausgabe. Wien und Bozen 1996). Wo Hamburger eine ganz entspannte und kolloquilae englische Ausdruckweise benutzt, hebt Waterhouse den Stil ins Feinere, Kostbarere an und verfälscht die Sache damit leicht ins Preziöse. Heißt es bei Hamburger in einer Schlußzeile: "The trees are bare", so macht Waterhouse daraus: "Die Bäume sind bar"; es muß aber einfach nur heißen: "Die Bäume sind kahl." Die Beispiele wären zu vermehren. Kehren wir zur Geheimnislosigkeit zurück: Wenn böse Schärfe und Monumentalität in Waterhouses Studiengängen gleichermaßen ausgeschlossen werden, dann sollte er eigentlich die kleine säuselnde Monumentalität von Sätzen vermieden wie: "Die Funktion des Autors ist es, eine Möglichkeit von Frieden wahrzunehmen." Das ist preisterlich-dekretorisch und könnte in seinem säuselnden Von-oben-herab von Peter Handke stammen, ähnlich wie dies: "Erinnern ist wahrnehmen, daß es keine Dinge gibt, sondern Strömen, Fluß, Duft, ein allgemeines Friedens-Medium." Das ist so allgemein, daß es sich in nichts auflöst. Da gefällt es mir schon besser, wenn bei Erörterung der Metapher - wo ja eine Sache auf eine andere durchsichtig gemacht wird, könnte man sagen - es als Aufgabe des Autors bezeichnet wird, "das Durchschimmern zu erlernen". Den Titel eines Gedichtes von Andrea Zanzotto, (SPUREN VON BÜRGERKRIEGEN), liest Waterhouse so, daß dies Wort "Bürgerkrieg" einen Bürgerkrieg der "Vokabularsprache" meint, und das Lexikon erklärt dieser Sprache, "wohin jedes Wort soll: Haus, das meint Haus, Straße, das meint Straße, peng." Wenn aber in der Lyrik die Morgenhelle zu einem weiße Segel und der blaue Himmel zum Meer werden kann, wenn Gegenstände auf andere Gegenstände durchsichtig werden: dann ist jene "Vielsprachigkeit" erreicht, die die Wörter nicht barsch fest-stellt, sondern ihnen Möglichkeiten freiläßt und ihnen nicht bloß Absichten aufzwingt; noch einmal: "Die Funktion des Autors ist es, das Durchschimmern zu erlernen." Und die Leser und Übersetzer sind, sagt Waterhouse, am ehesten "Jägern und Schleichhändlern" zu vergleichen, denn sie müssen sich im Gelände der Poesie intimst auskennen (von Jägern und Schmugglern stammen auch - wie bei Stifter nachzulesen - die bildhaftesten Geländenamen!), und wie Schleichhändler tauschen, was sie eigentlich nicht tauschen dürfen, so setzen Übersetzer Worte und Bilder aus einer Sprache in eine andere - ein eigentlich ("eigentlich") ebenfalls unerlaubtes Unterfangen. Kann fortgesetzt werden, will sagen, daß es einem bei der Waterhouse-Lektüre so geht, wie es Lichtenberg notiert hat (für eine andere Profession bzw. Tätigkeit): Bei planlosen Streifzügen stöbert man oft das beste Wild auf. Mit absichtslosem Herumstöbern und Hereinschnuffeln kommt man jedenfalls bei Waterhouse zu reichstem Ertrag: zur Bekanntschaft mit den wunderlichsten Texten, diffizilsten Fragestellungen und feinsten Einsichten.

Das ist doch eines der merkwürdigsten Bücher, die ich in letzter Zeit gelesen habe! Und es ist dies auch nicht nur eine Spezialität für Lyrik-Buffs oder für Feinschmecker entlegener Prosasorten, sondern dies Buch handelt eigentlich von einem möglichen Umgang mit Literatur. Es belegt Waterhouses Art des Umgangs mit Literatur, und der treibt einen dann um, weil hier die Nichtabschließbarkeit des intensiven Umgangs mit dem Phänomen Literatur deutlich und gepriesen wird, jenem Phänomen, das einfach nicht - um eine scheußliche neudeutsche Wendung zu gebrauchen - "in den Griff zu kriegen" ist. Wie lebt man eigentlich mit Literatur, jenseits dessen, daß sie für uns Universitätsleute natürlich Lehrgegenstand oder wissenschaftliches Objekt ist? Aber doch eben nicht nur das! Ich kehre noch einmal zu zwei literarhistorischen Vergleichen zurück, weil ich damit vielleicht Gattung und Geist von Peter Waterhouses Buch noch ein wenig genauer charakterisieren kann. Carl von Linné erfand nicht nur die berühmte Pflanzenklassifikation, sondern er schrieb auch den Iter laponicum und vor allem die bizarre Geschichten- und Exempla-Sammlung Nemesis divina von 1765, und vierzig Jahre später übersetzte Goethe den berühmten Dialog Le neveu de Rameau ins Deutsche. In der Nähe dieser Bücher würde ich Waterhouses Spazier- und Lesebuch ansiedeln; auch er darf vom Hölzchen aufs Stöckchen kommen, milde anarchisch und die wilden Erzähl- und Dialoggesten Linnés und Diderot/Goethes verschämt sänftigend, ein bißchen in Richtung Brevier. Na, Brevier ist wieder zu fromm. Man merkt, ich höre das Buch immer noch ab. Peter Waterhouse: "Spazierengehen = das Ohr anlegen."


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