G:  rezensionen


Zur autobiographischen Erzählung IN THE SHADOW OF PRAGUE  von Olly Komenda Soentgerath

Im Jahre 1990 erschien die deutsche Originalversion dieser autobiographischen Erzählung der deutschen Lyrikerin Olly Komenda Soentegrath, die in Deutschland in den letzten Jahren mit zahlreichen renommierten Literaturpreisen ausgezeichnet wurde. 1923 in Prag geboren und in dieser Stadt vollkommen zweisprachig aufgewachsen, sah sie bereits 1941 ihre deutschen Gedichte ins Tschechische übersetzt und in der Prager Tageszeitung gedruckt. Der Übersetzer war ihr tschechischer Landsmann Jaroslav Seifert, der Jahrzehnte später für sein eigenes lyrisches Werk den Nobelpreis gewinnen sollte. In the Shadow of Prague, (Exeter: Forest Books, 1996, 98 pp) von dem Biermann-Übersetzer Tom Beck nun auch ins Englische übertragen, erzählt die biographische und historische Schicksalsgeschichte der Heimatvertreibung, wie sie Millionen Menschen am Ende des Zweiten Weltkrieges erleben mußten. Mit dem Zusammenbruch des Dritten Reiches fanden sich alle tschechischen Staatsbürger deutscher Abstammung derselben gnadenlosen Diskriminierung ausgesetzt, mit der zwölf Jahre lang das Dritte Reich seine eigenen Minderheiten, vor allem aber das jüdische Volk, verfolgt, vertrieben und schließlich vernichtet hatte. "Alle Deutsche sind schuldig, alle", mit diesem Racheruf der tschechischen Revolutionären Garden wird die Zweiundzwanzigjährige mit den übrigen Deutschen ihrer Heimatstadt zusammengetrieben. Zwei tschechische Gardisten brandmarken in grüner Farbe ihre Stirn mit einem Hakenkreuz, und damit beginnt ihre eineinhalbjährige Irrfahrt durch zahlreiche Internierungslager. Es ist die Odyssee durch eine Welt aus Angst und Terror, in welcher rings um sie herum Vergewaltigungen und Selbstmorde an der Tagesordnung sind. Die Alptraumwelt des größten deutsch-tschechischen Dichters, des Prager Juden Franz Kafkas, war nun auch für die Volksdeutschen der Tschechoslowakei furchtbare Wirklichkeit geworden. Komenda gelingt es schließlich, für sich und ihre Mutter Ausreisevisa zu bekommen und damit, wenn auch schweren Herzens, ihre geliebte Heimatstadt zu verlassen. Zusammen mit ihrem Verlobten erreichen sie nach fünftägiger Reise im Viehwagon ohne jegliche sanitäre Einrichtung ihren Bestimmungsort in Deutschland.

Diese Menschentransporte kreuz und quer durch den Kontinent, das sind die emblematischen Alptraumreisen eines zum Untergang verdammten Abendlandes, der Viehwagon das bevorzugte und bezeichnende Verkehrsmittel seiner entmenschlicht "verkehrten Welt". Diese multinationalen Deportationen, sie sind die Wiederkehr der mythischen Völkerwanderung als moderne Völkervertreibung, wenn nicht gar Völkervernichtung. Millionen Juden und schließlich Millionen Deutsche reisten so zusammengepfercht ins Ungewisse-Ungeheure — es war auch das Schicksal meiner jungen sudetendeutschen Mutter.

Konfiguriert dieser erzwungene Exodus mutatis mutandis eine Art deutsch-jüdische Schicksalsgemeinschaft? Die Gemeinsamkeiten sind wohl so offenkundig wie ihre Unterschiede. So grausam für alle die gnadenlose Enteignung und Vertreibung war, als die Züge schließlich hielten, lauteten die Endstationen für die einen München und Augsburg, für die anderen Mauthausen und Auschwitz: jene Totenstädte jenseits aller geschichtlichen Vergleiche und dichterischen Gleichnisse. Hier wurde Ereignis, was jeglichem Fortschrittsglauben der deutschen Kulturgeschichte höhnt und spottet.

Einst war es die Hegelsche Geschichtsphilosophie, die der Welt ihre fortschreitende Verbesserung und Vervollkommnung verheißen hatte. Auch das seit der Aufklärung im 18. Jahrhundert sich anbahnende deutsch-jüdische Zusammenleben und Zusammendenken schien integraler Teil dieser Hegelschen Heilsgeschichte zu sein. Es waren zahlreiche deutsche und jüdische Philosophen und Schriftsteller von Hegel bis Heine, von Marx bis Brecht, die sich leidenschaftlich dieser Dialektik der Aufklärung verschrieben hatten — bis sie schließlich gewalttätig in ihr Gegenteil umschlug. Im Rückblick gibt sich dieses deutsch-jüdische Emanzipationsprojekt als die größte Glanz- und Fehlleistung der Hegelschen Geschichtsutopie zu erkennen. Um in ihrer Bildersprache zu sprechen, um das auszusprechen, was sich letztendlich jeglicher Weltvernunft entzieht: Das Dritte Reich, das ist der Hegelsche Weltgeist als Hitlerscher Weltwahn, eine schmierige Verwechslungskomödie — und Volkstragödie — der Dichter und Denker als Richter und Henker. "Poetic injustice", das wäre wohl das passende Schlüsselwort für diese Schauer- und Schreckensgeschichte, denn es chiffriert nicht nur Deutschlands unheimliche Dichter-Henker-Metamorphose, sondern auch das vollständige Versagen der deutsch-jüdischen Kultursymbiose — und ihre perverse Verkehrung in die Geschichtsgroteske des Holocaust.

Der deutschen Dichterin aus Prag sind die kafkaesken Kontrafakturen dieser geschichtlichen Dialektik aus (Un-)Glück und (Un-) Gerechtigkeit nicht entgangen. Ihre Aufzeichnungen tragen deren Widersprüchen auf bemerkenswerte Weise Rechnung. Immer wieder heben sie das Glück im Unglück, das Gerechte im Unrecht hervor. In diesem Sinne charakterisiert die Erzählerin mehrere Male die Tschechen nicht nur als willige Vollstrecker ihrer Geschichte, sondern auch als Retter aus ihrer schlimmsten Not. So beschreibt sie zum Beispiel, wie sie von einem tschechischen Soldaten im letzten Moment von der Vergewaltigung durch einen russischen Offizier bewahrt wurde. Als sie später in einem Prager Haushalt als Putzfrau ein Unterkommen findet, läßt sie sich beim Abstauben des Klaviers zu ein paar Schubert-Passagen hinreißen. Dabei wird sie von zwei Offizieren ertappt, von denen einer sie allerdings wider Erwarten zum Weiterspielen ermutigt. Diesem Offizier verdankt sie dann auch bald ihre Haftentlassung und letztendlich die Wiedervereinigung mit ihrer Mutter. Als sie schließlich ein Ausreisevisum beantragt, gibt der tschechische Beamte darüber sein aufrichtiges Bedauern zum Ausdruck: Prag sei doch ihre Geburts- und Heimatstadt. In einer spontanen Geste der Großzügigkeit versieht er ihren Ausreisepass mit einer Klausel, die es ihr ermöglicht, jederzeit wieder in die Tschechoslowakei zurückzukehren.

Die jüngste Geschichte hat diese großzügige Geste auf überraschende Weise aktualisiert. Die tschechische und deutsche Regierung stehen unmitelbar vor der Ratifizierung ihrer Versöhnungserklärungen. Und noch ein weiteres jüngstes Ereignis ist in diesem Zusammenhang von symbolischer Signifikanz. Die Ernennung Madeleine Albrights zur neuen Außenministerin der Vereinigten Staaten enthüllte sowohl ihr wie auch der ganzen Welt ihre wahre Identität. Es ist eine Offenbarung von mehrfacher sinnbildlicher Bedeutung. In ihrer neuen Personalunion als Christin und Jüdin gemahnt sie noch einmal an das zutiefst aberwitzige Schicksal der Verfolgten und Vertriebenen Mitteleuropas und verkörpert kraft ihrer politischen Prominenz die persönliche Verantwortung gegenüber der Vergangenheit. Zudem bringt sie als eine der letzten Zeugen dieser zerrissenen Zeit geradezu ideale Voraussetzungen mit für die zukünftige Verständigung zwischen den Völkern. Und auch die Stationen ihrer Biographie entbehren nicht der sinnbildlichen Bedeutung. Repräsentiert Washington als Hauptstadt der Vereinigten Staaten den glänzenden Höhepunkt ihrer politischen Karriere, so konturiert Prag, die Hauptstadt ihres Vaterlandes, die Anfänge ihrer schon früh von Flucht und Exil gezeichneten Kindheit. Das einst Goldene Prag, zur Zeit von Olly Komenda und Madeleine Albright nur noch ein grauer Schatten seiner selbst, prunkt heute erneut, und zwar als leuchtendes Beispiel der kulturellen Regeneration, als politische Hochburg der Samtenen Revolution -- mit einem Dichter als Präsidenten. All das sind sicherlich Anzeichen für die Rückkehr des Weltgeistes in die Geschichte: poetic justice ... after all ... freilich um welchen Preis.

Frederick A. Lubich, Rutgers University



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