G:  aufsatz



Die Suche nach dem "Wenderoman" - zu einigen Aspekten der literarischen Reaktionen auf Mauerfall und deutsche Einheit in den Jahren 1995 und 1996

Susanne Ledanff

Von Hans Christoph Buch stammt eine anekdotenhaft vorgetragene Antwort auf die Frage, "wann der große Roman (erscheint) über den Tag, an dem die Mauer fiel". Dies war eine Frage, die dem Westberliner Autor an jenem Schicksalstag, an dem er sich zufällig an einer amerikanischen Universität aufhielt, gestellt wurde. "Haben Sie das fertige Manuskript schon in der Tasche?" Buch muß solche Erwartungen enttäuschen, auch fünf Jahre danach.1 "Der große Roman über die Berliner Mauer ist bis heute nicht geschrieben worden, genauso wenig wie der große Roman über die Französische Revolution oder die Studentenrevolte von 1968", sagte der Autor. Auch andere Autoren haben sich gegen die Zumutungen einer Chronistenrolle zur Wehr gesetzt wie z.B. Heiner Müller und Christoph Hein.

Solche Skepsis einem deutschen Geschichtsroman gegenüber, der sich auf die "Verarbeitung" der "Wende" spezialisiert, ist, wie ich meine, angebracht. Doch was meint der Begriff des "Wenderomans" genau? Auffälligerweise gibt es im deutschen Feuilleton seit dem fünfjährigen Einheitsjubiläum eine besonders lautstarke Einforderung eines fälligen deutschen Geschichtsromans zum Thema "Wende". Erstmals, so schien es, war in der Frühjahrsproduktion 1995 ein literarischer "Wendeboom" zu verzeichnen. Die Wogen von Erwartung - und Enttäuschung - schlugen dann noch einmal hoch in der Kritik an der Behandlung des Themas durch den Autor Günter Grass. Wir hatten, folgt man Volker Hages Résumé bereits im Frühjahr 1995, "eine Reihe deutscher, meist junger Autoren, (die sich) an das epochemachende Thema (wagen) - mit in der Regel kläglichem Erfolg" 2. Gemeint sind vor allem drei Autoren und Prosawerke aus ganz unterschiedlichen literarischen Herkunftsbedingungen: Thomas Hettches Nox  - ein auffallend provokativer Text, der in der Tat eine schockierende Metaphorik über die in der Nacht des Mauerfalls aufbrechende "Wunde Deutschland" verbreitet. Genannt werden zwei weitere Frühjahrserscheinungen: Abschied von den Feinden  von Reinhard Jirgl und Der Wendehals  von Volker Braun. Zur Abrundung: Kaum eine Literaturkritik läßt sich die zu dechiffrierende Ost-West-Konfrontation in Christa Wolfs neuem Roman Medea. Stimmen  vom Jahresanfang 1996 entgehen. Nach Ansicht von Christoph Dieckmann (und anderer Kritiker) hat der junge Autor Thomas Brussig mit seinem Schelmenroman Helden wie wir  den heißersehnten Wenderoman geschrieben"3.

Offenkundig ist der "Wenderoman" eine Wunschvorstellung, die in der Literaturkritik umhergeistert. So ist es angebracht, der Frage nach dem Sinn oder Unsinn solcher Erwartungen kurz nachzugehen. Volker Hages Klage darüber, daß "die Wende den deutschen Schriftstellern die Sprache verschlagen (habe)", erinnert an Buchs Amerikaerlebnis. Die Form einer literarischen Chronik, eines aktualistischen Zeitromans, eine Gattung, wie sie sich aus der Klage über ihr Mißlingen abzeichnet, ist jedoch ein seltsam antiquierter Auftrag an die Literatur. Tritt hier nicht eine überraschend konservative Erwartung zutage, mehr noch, eine offenkundige Kurzsichtigkeit in Hinblick auf die Modi der "Verarbeitung" von Zeitgeschichte. Völlig unklar ist, welche politischen Fragen und Stoffe denn in so umfassender Weise dem Lesepublikum präsentiert werden sollen. Soll es eine literarische Umsetzung der jetzt schon als seltsam ferne Historie erscheinenden Maueröffungszeiten sein? Sollen die Umbruchszeiten nur im vom Zusammenbruch des Sozialismus nachhaltig erschütterten Ostteil des Landes sichtbar werden - und verengt sich hier, im Osten, die Erwartung auf die Erhellung "unseres Lebens", den "Erfahrungsraum" der untergegangenen DDR (Dieckmann über Brussig)? Oder ist einfach jede Art von Literatur willkommen, die "Stellung" nimmt zu den gesellschaftlichen Folgen der Vereinigung?

Angesichts dieser widersprüchlichen Erwartungen an den "fälligen" deutschen Zeitroman ist darauf zu verweisen, daß Literatur ja nicht echohaft auf politische Fragen und Stoffe antwortet, sondern im allgemeinen und in der inzwischen eingetretenen zeitlichen Distanz zum Mauerfall wiederum auf Literatur, auf das in der Zwischenzeit Gesagte. Die diesbezügliche Wortflut, so muß den Behauptungen einer übermäßig langen "Sprachlosigkeit" in Sachen Grenzöffnung entgegengehalten werden, ist gerade in der Debatte der Deutschlandfragen in den Medien beträchtlich. In dem vorliegenden Artikel will ich einige Tendenzen in der zum Teil kontrovers diskutierten "Wendeliteratur" des Zeitraums von 1995 bis 1996 vorstellen, Tendenzen solcher Romane also, die bereits in einiger Distanz zum Mauerfall publiziert wurden.4 Es ist zu fragen, inwieweit die einzelnen Bücher von der ideologischen Diskussion der deutschen Vereinigung beeinflußt wurden. Zunächst daher ein kurzer Ausblick auf die Veränderungen des literarischen Klimas im vereinten Deutschland.

Der Intellektuellenstreit im vereinten Deutschland. Schreibprobleme der älteren DDR-Schriftstellerelite

Man wird sich an die ersten Jahre der Nachwendezeit als eine "Blütezeit der Essayistik" erinnern, sagte der Züricher Kritiker Isenschmidt Juni 1993 auf dem Symposium der deutschen Literaturkonferenz in Leipzig. Im übrigen stellt er auch die Inkongruenz des Medienthemas mit den nicht sprachlosen, sondern vom Thema geradezu gelangweilten Autoren fest. Daneben ist eine weitere Einschätzung Isenschmidts zu zitieren: "Im Westen", schreibt er, " ist die Wende kein literarisches Datum, jedenfalls keins, das an die tiefliegenden Schichten rührt, aus denen Literatur hervorgeht"5. In dem Paradox einer zu diesem Zeitpunkt nicht nur im Westen, sondern auch im Osten eher gehemmten literarischen Produktion, ist vor dem Hintergrund der unermüdlichen essayistischen Bearbeitung des Themas in den Medien genauer nachzufragen, wie es zu solcher zeitweiligen Abstinenz im Literarischen bei den doch in andere "Schichten" der Betroffenheit verstrickten Autoren aus der ehemaligen DDR gekommen ist. Sind es nachvollziehbare Vorbehalte gegenüber dem aktualistischen Thema — nachvollziehbar etwa in dem Mißmut Christoph Heins, der das Thema lieber späteren Historikern überlassen will6? Bedarf es einer "Besinnungspause", von der Christa Wolf in ihrem Essayband Auf dem Weg nach Tabou spricht?7 Andererseits ist, was die ehemalige Elite der linken DDR-Utopisten, zu denen auch Christa Wolf und Volker Braun gehören, betrifft, vor allem ein Ereignis der essayistisch-feuilletonistischen Wendeverarbeitung nicht unwichtig, um Schreibhemmungen dieser Zeit zu benennen: Gemeint ist der deutsch-deutsche Literaturstreit als Reaktion auf Christa Wolfs Publikation des Bands Was bleibt und weitere Lagerbildungen der gerade aus ihren Einengungen entlassenen ehemaligen DDR-Autoren. Der Literaturstreit um Christa Wolf zeigte, wie schon bald nach der Wende die vormals bewunderte kritisch-linksutopische Literaturtradition des Ostens in einer polemisch geführten Mediendiskussion mit den "Realitäten" des wiedervereinigten Deutschland konfrontiert wurde.

Christa Wolf hatte 1990 eine Episode der Vergangenheit hervorgeholt und in Was bleibt  die inneren Folgen einer Bespitzelung durch die Staatssicherheit beschrieben, d.h. den älteren Text nun nach dem Mauerfall publiziert. In dem im Juni 1990 ausbrechenden Literaturstreit fallen solche späten Offenbarungen als Bumerang auf die Verfasserin zurück, die nun in ihrer Systemkritik als allzu vorsichtig, ja in ihrem reformerischen Utopismus als staatserhaltend eingeschätzt wird. Jedenfalls war dies die (nicht ganz einhellige, aber überwiegende) Auffassung des westdeutschen Feuilletons. "Es geht nicht um Christa Wolf" heißt der Sammelband, der von Thomas Anz zum "Literaturstreit im vereinten Deutschland" herausgegeben wurde.8 Die Abrechnung mit der Erzählung wurde schnell verlassen und weitete sich zum Großangriff auf die Selbstgerechtigkeit aller DDR-Utopisten, ihre moralisierende "Gesinnungsästhetik" und die auf die Erhaltung von Werten und ihren eigenen Privilegien in der DDR bedachte Passivität der DDR-"Priester Schriftsteller". Im Jahre 1990 sind die wiederum gewaltig moralisierenden Kritiker namentlich im Westen (Greiner, Schirrmacher, Reich-Ranicki, Bohrer, etc.) mit einer gewichtigen Polemik befaßt, die allerdings auch eine notwendige Klärung darstellte. Sollte die DDR als "Kulturschutzgebiet" (Bohrer, Merkur 1990, Heft 10/11) betrachtet werden? Wie ging man mit dem Typus des Intellektuellen als Fürsprecher des Volkes um, der die Utopie des menschlichen Sozialismus selbst angesichts der Unterdrückung durch das Regime aufrechterhielt? — das waren die respektlosen Fragen, denen sich die DDR-Utopisten stellen mußten. Freilich erweckte dieser Abschied von der respektvollen Sonderbehandlung der namhaften Ostkollegen im Westfeuilleton den Eindruck, als hätte es sich bei dieser Klärung um einen Akt kolonialer Überheblichkeit gehandelt, den man auch im sonstigen Vereinigungsprozeß feststellte9. Die Entsockelung der alten Schriftstellervorbilder wurde andererseits allerdings auch von den jüngeren-"dissidentischen" Ostautoren (Hans Noll) betrieben 10. Es war auch ein Generationsstreit , bei dem die längst vorhandene Distanz zum Weltbild der Wolf und ihrem Glauben an ein besseres Deutschland von den Jüngeren noch einmal formuliert wurde. In den neueren "Wenderomanen" wird sich die innerostdeutsche Polemik der jüngeren Generation der ehemaligen DDR gegen das moralisierende ehemalige Leitbild noch einmal wiederholen, genauer in Brussigs Roman Helden wie wir.

Die aus der moralisierenden Säuberungsaktion letztlich hergeleitete Polarisierung von Konservatismus und linker Kulturkritik im vereinten Deutschland wird 1993 im Rückblick offenkundig, als sich die Feuilletons mit der konservativen, ästhetizistischen Standpunktnahme, geboren aus den Verunsicherungen der deutschen Identität, befassen, dem zweiten Intellektuellenstreit nach der Vereinigung, ein Streit, zu dem Botho Strauss mit seinem Anschwellenden Bocksgesang provoziert hatte. Weitere Einbrüche in die Glaubhaftigkeit der linken DDR-Dissidenz brachten im Jahr 1993 die Enthüllungen der IM-Vergangenheit um Christa Wolf und Heiner Müller (die Liste der Enthüllungen wurde in der Folgezeit dann noch durch die Fälle Monika Maron und Fritz Rudolf Fries erweitert). Im Bereich der essayistischen Deutschlanddebatte sei hier nur bemerkt, wie — neben der Demonstration westlicher Vorherrschaft im Medienland gegenüber den eingemeindeten Kollegen — der Abschied von den (linken)Utopien, spätestens nach vollzogener politischer Einheit, die ungleichen "Brüder" und "Schwestern" in weitere Lagerbildungen treibt, und zwar über die alten Grenzen hinweg: Linke Utopisten in Ost und auch in West (wie Grass und linke Avantgarde der Gruppe 47) — sie verteidigen öffentlich ihre Negativversionen der politischen Vereinigung gegen die neuen "Realisten". Die "Rechten" und "Realisten" mag man verstehen als ein uneinheitliches Lager, das durch ein "Ja" zu den Fakten der DM-Einheit und zum Volkswillen, der Revision des Linksutopismus, bis hin zu einer Besinnung aufs Nationale überhaupt gebildet wird. Dieses Lager beherbergt so unterschiedliche Denker wie Martin Walser und Karl-Heinz Bohrer und, in der liberalen Spielart, Enzensberger und Peter Schneider, dazu aus dem Osten Monika Maron und Rolf Schneider, die mit der linken Anti-Vereinigungsrhetorik nichts im Sinn haben.11 Im Herbst 1995, anläßlich der "Halbzeit im ersten Jahrzehnt der Wiedervereinigung" wurde im Feuilleton diesen (ja auch im Zwist von Ost-und West-Pen deutlichen ) innerdeutschen Feindseligkeiten zwischen "Rechts-links-Intellektuellen" der berechtigte Vorwurf der überheblichen, moralistischen "Volksferne"12 gemacht. Dem linken Flügel, wie der Mehrheit der deutschen Denker und Literaten, wird gar die "Unfähigkeit zu feiern"13 attestiert.

Zu den hervorstechendsten Kontroversen der Nachwendepublizistik gehörte sicherlich die Polemik gegen Christa Wolf. Aber die Autorin publizierte weiter, zunächst ihren Essayband Unterwegs nach Tabou mit Essays von 1990 bis 1994, erschienen 1994, dann den Roman Medea.Stimmen vom Frühjahr 199614. Die entmutigenden Folgen des "Literaturstreits" und der Angriffe des Jahres 1990 sind in dem Essayband nachlesbar. Eine ganze Funktion von Literatur scheint in die Defensive getrieben. Allerdings hält sie hier auch "Klage und Selbstmitleid" für "verfehlt" und vermerkt: "...angebracht finde ich die Frage, ob wir nun etwa aus der Verantwortung entlassen sind oder wofür wir in Zukunft gebraucht werden — wenn auch sicherlich stärker marginalisiert als bisher."(S. 21) Gewiß hinterließ die Art der Auseinandersetzung einen üblen Nachgeschmack. Die Schärfe und die Polemik der Angriffe wurden, auch wenn als summarische Kehrtwendung gegen linke engagierte Literatur intendiert, im Falle von Christa Wolf auch als persönliche Kampfansage (und exemplarische Entmachtung einer "weiblichen DDR-Literaturkönigin" 15) interpretiert und haben gewiß das lange Ausbleiben von Texten der linken DDR-Literaturprominenz mitverursacht.

Der literarische "Wendeboom" im Frühjahr 1995 - eine kritische Einordnung

Die im ersten "Wendeboom" des Frühjahrs 1995 sich zu Wort meldenden Autoren, mit Thomas Hettche auch ein junger Westautor , bleiben offenkundig weniger im bescheidenen Rahmen eines Zeitromans im Umbruch 16, sondern versuchen eine mythische oder ideologische Deutung des politischen Großereignisses, weswegen es Unsinn wäre, sie an den Wahrheitskriterien einer Zeitchronik zu messen. Warum einige Politromane nach einer gewissen Distanz zum Mauerfall so schrill und provokatorisch geschrieben sind, ja geradezu eine Lust an einer fatalen, negativen Geschichtsauslegung verraten, läßt sich auf keinen einheitlichen Nenner bringen, zu unterschiedlich sind auch die Herkunfstbedingungen der Autoren. Meines Erachtens nach zeigen die drei zufällig im gleichen Zeitraum erschienenen Romane der Autoren Hettche, Jirgl und Braun auf unterschiedliche Weise, wie sehr das in den Medien ideologisch hochbefrachtete Thema der deutschen Vereinigung zu subjektiven, zugespitzten Deutungsansätzen im Literarischen anreizt bzw. auf die literarischen Lagerbildungen im vereinten Deutschland verweist.

Thomas Hettches Mauerfallroman NOX 17 ist in seiner Metaphorik aus Obszönität, Sadokitsch und Wundensymbolik schnell ein beliebtes Angriffsziel der Literaturkritik geworden. Auch die "verschraubt-verschrobene" Ausdehnung (Volker Hage) der tragischen Brüdergeschichte Jirgls, Jirgls experimentelle "Privatorthographie", nicht nur die bewußt eingebauten Kalauer in Volker Brauns Bissigkeit, alle diese artifiziellen Schreibweisen des neuen Wenderomans wollen immerhin auf die neue Ära eines recht willkürlichen Umgangs mit dem politischen Thema hinweisen. Auch läßt sich das Auftauchen von experimentellen Schreibweisen zumindest als Anti-Haltung gegenüber dem aktualistischen Zeitroman deuten .18

Betrachten wir die ästhetische Ost-West-Begegnung zwischen dem 1953 in der DDR geborenen Reinhard Jirgl und dem 1964 geborenen Westautor Hettche, der das Jahr 1989 in Berlin verbrachte. Innerhalb des postmodernen Duktus der beiden Romane sind natürlich Unterschiede festzustellen: bei Jirgl ein ungleich weit ausholendes Panorama deutscher Verwesungslandschaften und eine monströs-apokalyptische Deutung deutscher Geschichte, die in Hettches von der Nacht des 9. November inspiriertem Roman zutage tritt. Wenn es eine durchgehende Metaphorik der geschichtlichen Erschütterung gibt, so suggeriert sie eine postmoderne Reduktion von Zwischenmenschlichkeit und Liebe auf die gewaltgeprägte Allgegenwart des Geschlechterkampfs. Da Gewalt und Obszönität sind nun nicht gerade originelle Ingredienzen in der modernen Literatur (gerade Hettche hat sich gründlich an Sade und Bataille geschult)sind, fragt sich, worin der Schock ihrer Anwendung auf die Beschreibung des epochalen Ereignisses der deutschen Geschichte besteht? Bei Hettche scheint das Ärgernis schnell gefunden: Wie entweiht er doch schon in der aufwühlenden Nacht des Mauerfalls das Gefühl, wenigstens am Anfang der Vereinigung einen Moment der Befreiung zu verspüren! Auf diese Sicht eines Anfangs des Schreckens sind alle Metaphernstränge bezogen. Die Mauer fällt, und der Schrecken bricht aus: "Am lebendigen Leib, verstehen Sie? Sie reißen die Narbe auf, die so gut verheilt schien. In dieser Nacht, verstehen Sie? Man muß neu begrenzen, ins Wuchernde schneiden, tief ins Lebendige hinein" (S. 128). Dies wird in der ganzen Prosa weidlich getan, am Anfang, als dem Autor von einer Zufallsliebe die Kehle durchschnitten wird— mit "durchschnittener" Kehle und zunehmend verwesendem Körper erzählt er dann alles folgende weiter, seltsamerweise aus dem Kopf der orgiastisch-masochistischen Mörderin heraus, die besonders von einem verstümmelten Mann aus dem Osten namens David fasziniert zu sein scheint. Konsequent sind die diversen Körperöffnungen qua Skalpell, Messer oder Penetration immer auf die Verletzung der Stadt durch die unheilvolle Maueröffnung bezogen. Bevor man hier einen Antiroman feststellt — dies wäre immerhin möglich angesichts einer polemischen Entweihung deutscher Feiergefühle im Beginn der ganzen Historie —ist im Blick auf die nihilistische Brechung des Wendethemas zu fragen, wie ernstgemeint die Hiobsbotschaften in den neueren Romanen sind.

Folgende Beweggründe für die Schreckensmeldung in Hettches NOX mag es geben: 1. Die Beliebigkeit des Diskurses über den Wegfall der Grenzen und der rasche Griff zu einer mythischen Deutungsfigur (zu der etliche Stilmittel des Romans, besonders die an Döblin gemahnende Großstadtbelebung und Montagetechnik passen würden). 2. Der Autor hat wirklich ein Trauma zu beschreiben versucht, gar etwa reflektiert, wie im Unbewußten des deutschen Kollektivs die bösen Triebe erwachen. Entläßt man die jeweiligen Kollektive aus ihren Lagern, dann schleichen die Monstren, aber auch der gute Hund aus dem Märchen, über die offenen Grenzen. 3. Der Autor ist weniger von der Gewalt der Geschichte erschrocken — am Schluß des Romans sieht man ihn ja wieder lebendig in die Gegenwart schreiten — als von der Heillosigkeit der Kluft zwischen den Geschlechtern. Letzterer Interpretation möchte ich aus verschiedenen Gründen, vor allem aufgrund des märchenhaften Endes des Romans, zuneigen und damit auch eine wichtige Unterscheidung zwischen Hettches subjektivistischem Zwischenruf in der Nachwendegeschichte und Jirgls düsterer epischer Botschaft treffen.19

Genauer zu erläutern wären die jeweils unterschiedlichen Verankerungen der postmodernen Kassandragebärde — bei beiden Autoren mischen die Väter der Postmoderne mit in der Besichtigung von Verwesung, Todeskälte und reiterativen Verfehlungen der Objekte. Da sie es mit der poststrukturalen Psychoanalyse aufnehmen, muß der Ernst im Spiel bedacht werden. Der Grund für das epische Ausufern der Geschichte der feindlichen Brüder, deren räumliche Trennung durch den Mauerfall bedroht ist (im Ursprung nicht nur durch die Sozialisation im Osten, sondern auch in einem Kindheitstrauma vereint, dem Abtransport der Mutter durch die Stasi), beruht in Jirgls Roman auf einer komplexen Konstruktion. Sehr viel mehr angewandter Lacan ist im Spiel als in der undeutlichen Quasitraumatik Hettches. Volker Hages Kritik an einem überflüssigen "Aufschrauben" eines einfachen Plots jedenfalls ist nicht berechtigt, im übrigen auch nicht seine Kritik an den ausgefeilten experimentellen Techniken des Romans einschließlich der an Arno Schmidt gemahnenden "Privatorthographie".20 Die Wiederholungen in den platzvertauschenden obsessiven Umkreisungen der Brüder des gleichen Liebesobjekts haben ihren Grund. Die unaufhebbare Differenz zum Anderen hat mit einer verletzten Ursprungserfahrung aus der Steinzeit des Stalinismus zu tun — soviel zur Ladung Psychoanalyse in diesem deutschen Drama. Halten wir fest, daß es ein innerostdeutsches Drama ist, daß der familiäre Bruch im Osten seinen Ausgang nahm und die alten Grenzen nach Westen zu auch kaum überschritten werden, nur gelegentlich in Berlin. Im allgemeinen aber ist der Schauplatz die ostdeutsche Provinz; eine Metapher für ein durch die Einheit nur größer gewordenes deutsches Land, in dem der "Aasgeruch" in alle Fernen weht. Jirgls Ursprungsepos deutscher Misere zeigt in dieser Mischung von psychoanalytischen und politischen Metaphern wiederum die Problematik des quasi-mythischen, subjektiven Sprechens. Von den geheimen Quellen der Wut auf eine unendlich negative Geistesverfassung in deutschen Landen erfährt man nichts Genaues. Es sei denn, die traumatische Verletzung, die in allen Figuren zu erraten ist, ist für diesen hoffnungslosen Deutschlandspiegel verantwortlich.

Psychoanalyse ersetzt nun aber keine politische Stellungnahme, auf die sich der Autor Jirgl doch eingelassen hat. Ein ebenfalls obsessiv wiederholtes politisches Fazit will auch dieser Roman bieten. Es scheint, daß die beiden feindlichen Brüder, in wechselseitigem Diskurs den anderen mit Worten "verfolgend", sich überbieten in ihrer Wahrnehmung einer Art von mythischer, allgegenwärtiger "Feindschaft, freigelassen wie ein Rudel bösartiger Hunde" 21. Nicht nur, daß mit diesem Motivstrom des menschlichen mörderischen Monsters an Hettches Warnung vor dem deutsch-deutschen Kollektiv erinnert wird. Auch in Abschied von den Feinden werden Schlüsse gezogen, daß nämlich "im erhitzten Plastikkampf dieses Neuen die uralte Feindschaft aufgebrochen (ist)."(ibid.) Gleichzeitig ist diese "Feindschaft, wie nur ein Leben dem anderen feind sein kann", (ibid.) etwas, was wiederum universell, archaisch begriffen werden kann, was die Mord-und Todesrituale in dem Lieblingsbuch der Brüder vom spanischen Conquistador belegen sollen. Die an die Wende anknüpfende Deutung von der Gefährlichkeit des deutschen Wesen, das Medienthema deutschen Fremdenhasses in der Provinz, die Paarformel von "den Mengeles und Mauerschützen" und ähnliche Thesen mehr zeigen, daß Jirgl bei aller Virtuosität der Komposition und einer durchaus nicht oberflächlichen sprachlichen Verfremdungsarbeit auf den aktualistischen Anreiz des Mauerfalls antwortet, in einer Weise, die manchmal bis an die Grenzen des Haßausbruchs heranreicht. Über die Kleinstadtarmut zum Beispiel heißt es einmal: "Weshalb hatten Die-Behörden gerade solchem Leben das Über-Leben gestattet, ?diesem krank dahinwuchernden Da-sein, das unmerklich noch zu Lebzeiten bereits alle Stufungen des Verfallens, Sterbens, Verwesens vorführte." (S.63).

Man ahnt bei solchen Stellen, daß es sich, im Gegensatz zu Hettches Geschichtspessimismus, um einen von der Vergangenheit anders betroffenen Autor handeln muß, der sich zu solchen verachtungsvollen Visionen hinreißen läßt. Den positiven Besprechungen und Analysen des Romans ist insofern zuzustimmen, als Jirgl nicht nur eine schon früher entwickelte nihilistische Erzählmoderne in dem neuen "Wenderoman" fortsetzt. Vielmehr belädt er ihn bewußt mit einer an Kurt Drawerts "Spiegelland" gemahnenden traumatischen Vergangenheitsperspektive.22 Die im Zeitabschnitt der Ablösung der "Gesinnungsästhetik" durch einen grausam und mythisch darherkommenden Ästhetizismus nun auftretende Schockästhetik in der neueren Wendeliteratur ist in Jirgls Visionen kein "trendiger" Abgesang auf das vereinigte Deutschland (wie im Falle Hettches). Dennoch scheint mir der Anschluß an die zeittypischen düsteren Spekulationen über das in der Vereinigung hervortretende Dämonische der deutsche Seele (wie sie zum Beispiel durch Strauß' Anschwellenden Bocksgesang angeregt wurden) überflüssig selbst in einer nihilistisch intendierten Zeitchronik. Erst diese Verallgemeinerungen tragen zum Eindruck eines mythisch überhöhten Deutschlandportraits bei.

Ein weiterer Romanbeitrag des Frühjahrs 1995 zur Einheitsproblematik, Volker Brauns Der Wendehals 23, steht in der Tradition der politisch ausgerichteten Schreibweise, eben jener unter dem Etikett "Gesinnungsästhetik" angegriffenen Tradition des "Gewissens der Nation". Die literarische Produktion Volker Brauns nach der Wende und die Satire Der Wendehals verdienen zwar eine eigene Analyse, die Kontroverse um Brauns neuerliche Schreibproblematik mag aber in einem kurzen Blick auf den Text und die kontroversen Einordnungen vorgeführt werden. Wenn im Falle Brauns von einer anhaltenden Orientierungskrise in seiner Schriftstellerrolle zu sprechen ist, dann hängt dies damit zusammen, daß diese Nation für den dialektisch verfahrenden Schriftsteller nun nicht mehr DDR, sondern Deutschland heißt. Brauns Dialogstück zur Einheitsmisere, die "Unterhaltung" Der Wendehals, erweist sich auf den ersten Blick als eine wahre Ödnis eines kalauernden Schlagabtauschs zwischen dem "ICH" eines arbeitslosen Intellektuellen und einem "ER ", dem "Wendehals", dem abgewickelten und ins Kaufmännische übergewechselten "Chef".

Man sollte zum Nachvollzug der Stoßrichtung der Satire Volker Brauns Etappen des "Abschieds von den Utopien" durchlaufen: Beim Ringen um kreatives, gegen das Bestehende imaginierende "andere Ich" im Staatsmechanismus der DDR hielt der Autor dann - als die Mauer fiel - am Selbstverständnis der kritischen-utopischen Fürsprecherrolle des linken Schriftstellers fest, erlebte also, verdrossener noch, möchte man meinen, als Christa Wolf, wie dem linken Träumer das Volk davonlief. Fast unfreiwillig komisch — wiewohl das Dilemma, in das diese DDR-Schreibweise hineingeriet, prägnant auf den Punkt bringend — hat er die Misere des Verlusts der "Traumzeit des DDR-Reformsozialismus" formuliert. Ein Gekränkter spricht im Einheitsjahr vom Volk: "Es wirft sich weg[...]" "Und ich kann bleiben/wo der Pfeffer wächst./Und unverständlich wird mein ganzer Text" (Das Eigentum, 1990)24. Daß Braun schon in diesem Text wie "ein Lehrer "spricht, "dem seine Klasse weggelaufen ist", stellte Frauke Meyer-Gosau in der in diesem Zusammenhang wichtigen Betrachtung der Folgen aus dem sich auflösenden solidarischen Selbstverständnis der kritischen DDR-Schriftsteller fest.25 Zu fragen ist, ob die literarische Gegenwehr Brauns in der Lyrik, dann in kurzen Dramen und Lehrstücken (Böhmen am Meer , 1992 und Iphigenie in Freiheit , 1992) und schließlich in seinem Wendehals das geeignete Mittel ist, der Identitätskrise beizukommen.

Zwei Lesarten bieten sich für den Wendehals an: Es handelt sich um eine in den Denkkategorien der linken Kaptalismuskritik hervorgebrachte satirische Inspektion der "Errungenschaften" der westlichen Welt, eine drastisch formulierte Negativbilanz der Entwicklung nach der Volksabstimmung im Osten für die wohlstandverheißende BRD. Es werden also bei diesen Wanderungen der beiden Dialogpartner durch ein recht trostloses Berlin, in den Fußgängerzonen und an den neu aufgestellten Bankcontainern vorbei, die also auf die erste Wendezeit verweisen, der "Erlebnishunger" des Westsystems und andere Negativentwicklungen in den "blühenden Landschaften" entlarvt. Zeichen des Konsumrauschs und der Erlebnisideologie sind allerorten. Der permanente Einsatz des Kalauers dient hier u.a. der Karikatur: "Wir sind in der Oranienburger Straße, eben noch eine Verlagsadresse, jetzt stehen hier die jungen Firmen an der Bordsteinkante." (S. 51). Die Satire geht aber in den sprachlichen Mitteln ins Leere, was nicht nur mit den sich über die hundert Seiten der "Unterhaltung" ergießenden kalauernden Stichworten des Gesprächswechsels zu tun hat. Das Neue wird im oft nur beliebigen Kalauer angegriffen. Die Kernbegriffe des Kapitalismus werden durchgereimt: "Werbung" ist "- was man sich erwirbt". Und man erwirbt sich "Den Unterhalt....die Unterhaltung" (S. 18). Die Berliner Regierung ist in den Worten des "ER: "diese Besetzung", des "ICH": "Besitzung....", dann wieder des "ER": "Diese Besatzung - "(S. 31). Der autoritätshörige "ER" redet übrigens das "ICH" mit allerlei Titeln an, Herr Intendant, Herr Aufsichtsrat, Herr Kommandant, etc., was die jeweiligen Wortspiele mitzubestimmen scheint, aber auch eine nun schon kunstvollere ironische Konstruktion bedeutet, die darauf hinweist, daß es sich in dem Gespräch des "ICH" mit dem "Wendehals" nicht um ein gänzlich konträres Gespann handelt. So hat diese Braunsche Dialektik, wie in zustimmenden Kritiken zu lesen, einen ironischen "Abbau des Ich" zur Folge.26 Eine zweite Lesart der Satire, dies hebt Christine Cosentino hervor, ist die Art und Weise, wie Braun dem "Wendehalsbegriff neue Dimensionen abgewinnt". Dies betrifft nun das vorrangige Thema der Selbstanalyse in der dialektischen "Unterhaltung". Anhand der "sich biegenden Denkfigur des ER" ergreife das "ICH" für sich selbst die positiven Möglichkeiten der Nachwendezeit, sei also ansatzweise bereit, dem "Trotzdestonichts" in seiner clownhaften Kunst des "Changierens" ansatzweise zu folgen.27

Die Frage ist dennoch, ob diese Andeutungen und Reflexionen zur "Rolle des Autors in der saturierten Wohlstandgesellschaft, zum Verlust von Bedeutsamkeit im Nicht-mehr-beachtet-Werden von der Macht" (ibid., S. 180) die Schreibproblematik Brauns tatsächlich zu lösen vermögen. Die Analyse Cosentinos deckt sicherlich unterschwellige Schichten in den anspielungsreichen Dialogen auf. Die "Leser der alten Bundesländer", so meint Cosentino, mögen die "ironisierten Ideologieschablonen" in Brauns Dialogen nicht verstehen.(ibd., S. 183) Die Irritationen einiger Kritiker, dies zur Ergänzung der Kontroverse, bestehen aber zu Recht. Gerade das Insiderhafte und in den Kunstgriffen so Vergangenheitsfixierte der Rollenprosa und das zitatenreiche Spiel mit "den Zerfallsprodukten der historisch-materialistischen Dialektik" machen den Dialog für andere Interpreten zu einer "Inkarnation von Ratlosigkeit"28. Die in den einzelnen Angriffszielen häufig so blaß erscheinende Ziellosigkeit der Sprachspiele hat doch in weiten Strecken wiederum ein tradiertes Feindbild und zeugt vom Braunschen "Credo: Kapitalismus führt zum Faschismus"29, ein Credo, das in dem Bühnenstück "Iphigenie" zu einer geradezu schauerlichen Ausschmückung der Geschichtsallegorie der siegreich heimgeholten DDR führt. Ob nun die Dialogsatire Der Wendehals den Eindruck einer "besessenen Trauerarbeit", einer "Art Gegenwehr" 30 vermittelt oder den eines anhaltenden "Sinnverlusts", ob sie wiederum kunstvoll "ironisierte Ideologieschablonen" zur Überwindung der Isolation enthält, alle diese Einordnungen heben schließlich die bei Braun besonders deutlich zu erkennende Verlustproblematik hervor. Ein gleichsam chiffrierter Text einer Selbstanalyse, eine Satire auf den Kapitalismus, der aber der in sich gebrochene Kalauerton die Schärfe nimmt und schließlich doch noch ein Hadern mit dem "Volk, das betrogen sein will" (S.71), dies sind nach meiner Lektüre doch eher bittere Verlautbarungen des Autors Volker Braun.

Wer bin ich? (Stimmen Ost). Neuere Tendenzen im politischen Aufklärungsroman

Es zeigte sich, daß in den betrachteten Beispielen literarischer Wendeverarbeitungen keine große "Fähigkeit zum Feiern" vorliegt. Noch im Jahr 1995 will sich aber doch die "Fähigkeit zum Lachen" zurückmelden, jedenfalls ein Lachen über die tragikkomische Wahrheit der Seele des Ostlers (in Brussigs Roman) oder die in dem Roman von Jens Sparschuh Der Zimmerspringbrunnen 31 geschilderten Erlebnisse eines Zimmerbrunnenverkäufers, der wiederum das Seelenleben seiner Landsleute gut kennt und damit sensationelle Geschäftserfolge erzielt.

Sparschuhs Vertreterroman, den ich nicht als "Aufklärungsroman" bezeichnen würde, bezieht seine Heiterkeitswirkung aus einer pointierten Typenzeichnung, und zwar von "Wendeschicksalen" in Ost und West gleichermaßen. Der zukünftige Starverkäufer (Ost) lernt auf einer Schulung die strammsten Exemplare der Vertreterspezies (West) kennen und paukt die realkapitalistische Verkäuferstrategie für seinen Einsatz in der Heimat Ostberlin. Anstatt daß nun die naiven Ostler von den westlichen Verkaufsstrategen übers Ohr gehauen werden, ist der Sieger der Geschichte der Ostberliner Neuling im Gewerbe. Die Moral: das mit Grips und Herz verkaufte Stück Zimmerspringbrunnen ist im ostdeutschen Wohnzimmer ein Altar der Nostalgie. Dies "know how", die Kenntnis der inzwischen nostalgischen Psyche im Osten, hat eben nur der Einheimische, der im übrigen von der Gattung her gesehen, d.h. in der Unschuld und Naivität, mit der er seine Karriere erlebt, ein echter Pikaro ist.

Der Aufstieg des Ostbürgers zum Pikaro deutet das neue Selbstbewußtsein in der Literatur aus dem Osten an. Von ihm profitiert auch ausgiebig Brussigs Helden wie wir 32, allerdings ohne das in Sparschuhs Erzählung für eine zeitgemäße Würze sorgende Thema der Ost-West-Begegnung. Hier sind wir also bei der eigentümlichen Tendenz der Abkapselung in den Themen der Herkunft und Identitätsproblematik des ehemaligen DDR-Bürgers. Die Westler kommen überhaupt nicht mehr vor. Wenn sie dennoch zu Lesern werden, so dürfen sie, wie die Kritik vermerkt, herzlich lachen und etwas lernen über eine Jugend im bieder-prüden Realsozialismus. Das ostdeutsche Publikum — hier gehen die Meinungen der Kritiker auseinander — ist nur teilweise bereit, schon über Brussigs Selbstverspottung oder seine simplicissimushafte DDR-Biographik mitsamt den Ingredienzen der DDR-Normalität der letzten zwanzig Jahre wahre Freude zu empfinden.33 Biermann empfiehlt das Buch, das "vom Wichsen" handelt, und prophezeit, daß es im Osten ein Kultbuch werden könnte.34 Auch Christoph Dieckmann ist dem jungen Autor, Vertreter der in jeder Hinsicht ungläubigen Spätlingsgeneration der DDR, dankbar, daß er die Detailwahrheit der kollektiven Erfahrung "unseres Lebens" vor dem Vergessen bewahrt.35

Anstelle einer weiteren Zusammenfassung der "zum Schreien komischen" Lebensgeschichte des kleinen Klaus Uhltzsch mit seinen injizierten Minderwertigkeitskomplexen und einer Schilderung der diversen Experimente, die er anstellt, um sich zu wahrem Größenwahn zu erheben, vor allem durch den permanenten, meist onanistischen Einsatz des viel zu kleinen Pimmels, aber auch durch seinen hoffnungsvollen Antritt bei der Stasi, sei nur nach dem Beitragswert des originellen Lehrstücks zum "Wenderoman" gefragt. Liegt dieser im befreiend verzerrten dokumentarischen Gehalt und in den möglichen kathartischen Wirkungen auf das östliche Lesepublikum bzw. in den zwangsläufig voyeuristischen Gefühlen, die die westlichen Leser/innen beim Lesen und Lachen verspüren? Dies natürlich nicht wegen der Beobachtung von Klaus' Triebleben, sondern wegen des Staunens über eine eigenwillige DDR-Verklemmtheit, die den Jungen von allen Seiten umzingelt: in Schule, Elternhaus und der eher bieder-gemütlichen Stasiwohngemeinschaft. Das Aufklärungsanliegen Brussigs ist ein geteiltes, geteilt für die Wirkung auf die jeweilige Leserschaft in Ost und West. Der "wahre" Wenderoman ist er mit diesen Wirkungen natürlich nicht. Überhaupt entpuppt sich dieser im Laufe der Wandlungen der literarischen Themen, die sich mit den deutschen, wie gesehen, meist ostdeutschen Gefühlen nach Mauerfall und Verschwinden der DDR beschäftigen, als stofflich gar nicht festlegbares Gebilde. Jedes einzelne Buch, jede einzelne Perspektive stellt Verlust, Umbruch, Folgen, Fragen nach der Vergangenheit anders dar. Gibt es eine Tendenz, wenn auch keine auch nur ansatzweise gemeinsame Ästhetik wie in der Nach-Fünfundvierziger-Situation, dann höchstens eine neuerliche Bereitschaft, für die Brussigs Roman ein Indiz ist: die Selbstbespiegelung einer sich immer mehr zusammengehörig fühlenden Ex-DDR-Lebensgemeinschaft. Ausgerechnet dieser aber wirft Brussig mit eben seiner Herkunft aus einer Protestgeneration gegen elterlichen Konformismus ihre komplette politische Handlungsunfähigkeit vor: "Sehen Sie sich die Ostdeutschen an, vor und nach dem Fall der Mauer. Vorher passiv - nachher passiv - wie sollen die die Mauer umgeschmissen haben?" (S.319/320). Auch mit dieser Schelte hat das westliche Lesepublikum nichts zu tun. Darf es denn, unfeinerweise, zustimmen? Was der amerikanische Reporter dem jungen Helden, der in Wahrheit die historische Tat mit offenen Hosen vollbrachte, antwortet, wird nicht berichtet. Im Westen angekommen, dürfte sich Brussigs Geschichtsumdeutung als kecke Schlagzeile entpuppen. Die eigenen Landsleute bekommen das ernüchternde Fazit von Brussigs Version der DDR-Mentalität verabreicht. Und wenn sie ein bißchen durch Brussigs Selbstveralberung entspannt und auch geschmeichelt durch die Aufmerksamkeit, die den immerhin perversionsgefährdeten Sexualpraktiken in ihrer damaligen Republik zukommt, die Pille schlucken, wenn also das Buch zu einem Kultbuch werden sollte, dann ist Helden wie wir eines der wichtigeren Dokumente der Nachwendeliteratur.

Ein anderes Thema aber ist die Frage der Qualität des Romans, die insgesamt wichtiger ist als eine Klassifizierung als erfolgreicher "Wenderoman". Hierbei ist das Hervortreten des Schelmenromans, ja schon ab Fries' Die Nonnen von Bratislava, eine einleuchtende Form für die sich aufdrängenden Politthemen, die sicherlich gesondert betrachtet werden müßte. Bei den bisherigen Grenzen dieser Gattung in der Nachwendezeit stellt sich leicht der Vergleich mit der Formel ein, die Grass' Blechtrommel für Rückblick und Neuanfang in der deutschen Geschichte seinerzeit anbot. Der Grund, warum der onanierende, eben nicht trommelnde kleine Klaus weniger zertrümmert ist in einem diktatorischen Betrieb, ist natürlich die Tatsache, daß die DDR wohl keine "kommode", aber in aller Menschenfeindlichkeit biedere Diktatur war. Das weiß Brussig, er beschränkt sich aber eben auf diese Alltagsneurosen und verharmlost subtilere und bösartigere Bereiche politischer Unterdrückung, vor allem in der Schilderung der Stasi.36 Es ist eben diese Beschränkung auf die Alltäglichkeit der Perversion, die die Wiederholung der Sexualvokabeln nach einer Weile so monoton werden läßt. Im Grunde ist der Mechanismus, warum der junge Mann eine solch verklemmte sexuelle Erfindungslust an den Tag legt und es ihn zum Koitus mal zu einer fetten Wurstverkäuferin, ein andermal zu Broilern zieht, recht simpel und auch dem Laien verständlich auf die Lädierungen der Psyche im Spießbürgerstaat und Elternhaus bezogen. Die Würze dieser einseitigen psychopolitischen Botschaft sind dann allemal Brussigs weiter ausholende Bissigkeiten in der Charakterisierung des erinnerten DDR-Alltags und seiner Landsleute.

Nach all den witzigen Lockerungsübungen in den Rückblicken auf das "wahre" Leben in der sozialistischen Republik und in der Präsentation der pikarischen Elemente auch im späteren Nachwendealltag erscheint nun zu Beginn des Jahres 1996 der neue Roman Christa Wolfs, ihr Beitrag nach langer "Besinnungspause" zum politischen Systemvergleich, der, wie schon bemerkt, in der antiken Einkleidung sehr einfach aufzufinden ist, so daß die Kritik von einer "DDR aus der Schlüsselloch-Perspektive" spricht. (Frauke Meyer-Gosau)37. Gewiß antwortet keiner der Wenderomane auf den anderen, und nur das Nebeneinander der Bücher auf den Verkaufstischen enthüllt das schon sehr merkwürdige Duo der Stimmen, nämlich des O-Tons von Christa Wolfs Alexanderplatzrede am Schluß von Brussigs Roman, wo der Autor "unserer Christa" arg zusetzt, dann der Stimme, die dieselbe Christa Wolf ihrer Medea leiht. Eines steht sicher fest: Auf die mediale Deutschlanddebatte antworten alle späteren Romane, die zum Thema Wiedervereinigung Stellung nehmen. Hier beziehen sich z.B. die letzterwähnten Bücher, die die Begabung des Ostbürgers zum Pikaro vorführen, nicht zufällig auf die Tendenz zur nostalgischen Vergangenheitsvergewisserung in den Landschaften des Ostens. In einer bestimmten Weise tut dies auch Christa Wolfs Medea-Roman. Und noch eine auffällige Parallele in der Geschichtsdeutung im neueren "Wende-Roman" ist das dringende Bedürfnis, Geschichte entgegen den verbreiteten Ansichten umzudeuten. In dem Sinne ist Wolfs antikes Stimmengeflecht auch ein "Aufklärungsroman". Was überrascht, ist nicht die exakt nach dem Kassandra-Modell funktionierende Umdeutung der "wilden Frau" in der Antike zur letzten Bastion von Humanität im patriarchalischen Zeitalter, es ist der Umweg, den Christa Wolf geht, um über die Ehrenrettung der Furie Medea in die Gegenwart zu gelangen. Die "Flucht der sich verjüngenden Strukturen" (Lenk38) läßt also "durch die Zeitwände" Paralleles aufscheinen. Transparent genug scheint hinter dem frauenfreundlichen, gleichwohl schon teilweise frühpatriarchalischen Kolchis ein bekanntes verlorenes Utopia auf ("Kolchos", wie Meyer-Gosau ironisch die Anspielung auf die noch vom Gleichheitsglauben beseelten Kolcher entziffert). Das prunksüchtig-machtgierige Hoftreiben im "glänzenden" Korinth ist die neue Heimat der manchmal heimwehkranken, manchmal geschickt mitintrigierenden Kolcher, die Medea in den Westen folgten. An dem (mit Ausnahmeerscheinungen) kaltherzigen Männerclan in der Machtzentrale der Korinther Klassengesellschaft scheitert Medea, und zwar mit Hilfe von Verrätern aus eigenen Reihen.

Die leidenschaftliche Umdeutung des antiken Medea-Stoffes im Sinne der Aufklärung über die Folgen der Unterwerfung unter die moderne Klassengesellschaft, kurz das Feminismusthema, und die ungebrochene politische Moral Christa Wolfs, sorgen für eine seltsame Irritation. Welche Rolle im Drama der unschuldigen Medea der unheldenhafte Jason spielt, ist klar. Er ist nicht Mann genug, um eine eifersüchtige Raserei zu erwecken. Wer aber ist er im Personal der Ost-Westkonfrontation? Ein in die DDR aufgebrochener westlicher Abenteurer? Was war das Goldene Flies? Reiste Jason mit seinen Argonauten nicht nach Kolchis, weil das Widderfell, magische Macht und Reichtum verheißend, ihm zur Thronfolge in der Heimat verhelfen sollte? Noch im magisch-kultischen Gewand sind die mythischen Motive der späteren Ost-Westkonfrontation der Menschheitsgeschichte zumindest vage zuordbar: Wie gleichgültig sind die Kolcher doch solchem Gold-und Macht versprechenden Fetischglauben gegenüber! Solche wertenden Gegensätze sind nun in Christa Wolfs mythischem Roman nicht fortlaufend ausgesprochen. Im Gegenteil, man kann sagen, daß die Kunstfertigkeit dieses Erzählens im Andeuten beruht und komplexe Intrigen und Beweggründe die "Stimmen" in der autorlosen Prosa vordergründig bestimmen. Nichtsdestoweniger sind die aktualistischen Bezüge in den Kommentaren, Haltungen und Taten der insgesamt sechs "Stimmen" des Romans immer wieder zu erkennen, nicht zuletzt in der am häufigsten erklingenden Stimme Medeas und ihres Schauderns vor den Praktiken im "grausam-schönen" Korinth. Überdeutlich wird ja auch immer wiederholt, daß das Erzählen die Entlarvung einer böswilligen Legende der Korinther Machthaber vollzieht, die sich der Warnerin Medeas entledigen mußten. Doppelt motiviert ist daher Christa Wolfs Umdeutung der Furie Medea: Die humane Medea ist die Wahrheit hinter der patriarchalischen Lüge. Sie spielt zudem in ihrer klugen Menschlichkeit eine sehr aktuelle Rolle im Überschauen der Folgen der Flucht aus dem Osten. In feministischer Hinsicht nun läßt die Entzauberung der abendländischen Mythengeschichte, auch dies wurde in der Kritik anhand der ersatzlosen Streichung aller symbolischen Faszination der "wilden Frau" angemerkt39, wenn gerade einer Medea alles Rasende (bis auf eine gewisse Trotzköpfigkeit ihres besseren Menschheitsglaubens) genommen wird, nur noch eine wenig bewegende weibliche Identifikationsfigur übrig. Die uminterpretierte Medea hat, da attraktiv, erotisch keine Probleme. Sie ist emanzipiert in der Wahl ihrer Liebesobjekte: nur progressive Männer kommen für sie in Frage. Sie ist mit ihren strengen moralischen Prinzipien natürlich auch vor Leidenschaft und vor allem Eifersucht gefeit. Die Tragik ereilt diese Figur in Form einer Intrige, allenfalls mitverschuldet durch die Naivität der Systemkritikerin und Warnerin. "Wohin mit mir. Ist eine Welt zu denken, eine Zeit, in die ich passen würde?"(S. 236). Mit den letzten Sätzen bringt sich unüberhörbar die Autorin mit ihrer Identitätsproblematik ins Spiel.40 Daß Christa Wolf sich selbst "durch die Zeitwände" in die Antike katapultiert und dort ihre Problematik als unzeitgemäße Kritikerin in der Figur der unbescholtenen Medea bespiegelt, ist, ähnlich wie im Fall Volker Brauns, ein Zeichen von neuerlicher Unflexibilität des linken Selbstverständnisses. So ist zu fragen, ob die kritischen Punkte in diesem Roman die aufrechterhaltene linksutopische Intention im Nachwendeerzählen einmal mehr unter den Vorwurf des Anachronismus fallen lassen, wobei sich der Utopismus in eher resignative Tönen ausdrückt.

Ich will zum Schluß nur auf die durchaus in sich geschlossene Konstruktion des Romans hinweisen, die, wie schon angedeutet wurde, auf einem weiblichen Nein zum Kapitalismus beruht. Gerade aber die durchdachte theoretische Basis des Erzählens bringt die Autorin in die Gefahr anachronistischer Abgehobenheit. Das "missing link" der feministischen Legende und der Geschichte vom Auszug in die "glänzende" Klassengesellschaft ist natürlich der kulturhistorische Ansatz der feministischen Wissenschaftsstandpunkte. Wie in der Kassandra ist der Sieg des Patriarchats der matriarchalischen Gleichheitsutopie gegenübergestellt. Der bei Wolf in klassischen Tönen beschworenen unentfremdeten Gemeinschaft der Menschen, ihrer Naturnähe, ihrer Einheit aus Kopf und Gefühl, diesem matriarchalischen Frühsozialismus, macht der Aufstieg der Männerherrschaft ein Ende. Nur schrieb Wolf ihre Kassandra nicht nur in den Zeiten der vollen Seminare über die Themen des Matriarchats; auch sollte das Patriarchat noch auf eine hochrüstende, technologisierte Gesellschaft hinweisen. Der neue Feind der Frauen ist aber nun überall da zu erspähen, wo er sozialistisches Denken im Keim erstickt, schon in dem von dem "starrsinnigen" Aietes regierten Ostreich, erst recht in dem weiter zu den modernen entfremdeten Gesellschaftsformen entwickelten "Westen".

Die Formel von der Gleichheit von Patriarchat und Bundesrepublik stimmt natürlich hinten und vorne nicht, wenn die Kolcherinnen wehmütig denken, daß sie ihre gewohnten matriarchalischen Rechte hier endgültig begraben müssen. Ein Satz Medeas "Immer muß die Frau dafür zahlen, wenn sie in Korinth einen Mann schwach sieht." (S. 29) vor dem Hintergrund des nostalgischen Heimwehs nach der diesbezüglich doch besseren Heimat wirkt ziemlich unrealistisch. Und all die Machos in der DDR? Medea, wie so häufig in ihren Reden, sucht Ausgewogenheit im Vergleich: "Und zu Hause? In Kolchis? Täusche ich mich selbst, wenn ich innerlich darauf bestehe, da ist es anders gewesen?" (ebd.) Dennoch, die grübelnde Medea beobachtet weiterhin ein ideologisches Kontrastprogramm. Wenn dann noch in Korinth vermutet wird, daß die heimtückische Intrige um die Herrschaftsfolge, die - man staune - eine noch gültige weibliche Thronfolge ausschließen soll, mit Rücksicht auf die ringsum schon vollpatriarchalisierten Königreiche und Verbündeten durchgeführt wird, dann erinnert das doch sehr an Brussigs farbige Weltkarten der Ausbreitung des Kommunismus und seiner Gegenlager. Am Schluß zerfleischen die aufbegehrenden Kolcherinnen den Phallus, der einem besonders arroganten Korinthischen Jüngling gehört. Ob sie damit das Übel an der Wurzel austilgen, sei angezweifelt, denn die Hervorhebung der brutalen weiblichen Unterdrückung in einem westlichen Staat (vorgeführt in der folgenden Bestrafung der Korintherinnen durch ihre Ehemänner) übersieht diverse andere Mechanismen der Gewalt gegen Frauen. So alltagsbezogen wollte Christa Wolf das Frauenthema in ihrem Angriff auf die Negativerscheinungen der Vereinigung aus der Bastion des Feminismus heraus vielleicht gar nicht präsentieren. Es scheint eher, daß sie eine zeitlos gültige, emotionsgeladene Perspektive suchte, die ihr das erzählerische Ausbreiten und Verteidigen der linksutopischen Tradition nach der Wende erlaubt. Es zeigt sich, daß die feministische Perspektive, so zielgerichtet eingesetzt zumal, keineswegs zeitlos ist und erst dieser Anachronismus in der Begründung der Wendekritik den Wolfschen Beitrag zu jener enthobenen Märchenwelt macht. Dazu paßt die unantike gleichbleibende Vernünftigkeit und Versponnenheit der Wolfschen Medea. Eine "Rasende" hätte nicht so ausgewogen erzählt, nicht mit so viel Bedacht ihre verstehenden Blicke auf gute und böse Menschen geworfen. Und wohl gar nicht mehr zurück zum Erzählen gefunden.

Schreibprobleme der linksutopistischen Schreibtradition der ehemaligen DDR haben sich bislang in literarischen Beispielen gezeigt, die von Desorientierung und Unflexibilität zeugen, d.h. lange nach dem Schock der Globalkritik an der alten DDR-Autorenelite. Diese Desorientierung ist bei Christa Wolf zwar anders als bei Volker Braun nicht als eine bittere Standpunktsuche zu lesen, doch gelingt ihre Rückkehr zum Erzählen, so prononciert sie sich auch wieder zu den politischen Themen äußert , nur um den Preis anachronistischer und schematischer Stilmittel. Das "rechte" bzw. "unlinke", "realistische" Lager mitsamt seiner jugendlichen Ungläubigkeit scheint dagegen einen satirisch formulierten Anschluß an die Gegebenheiten zu vollziehen und mithilfe der Nostalgiewelle in der ehemaligen DDR die Wendethematik auf die besonderen psychischen Umstände dieser Herkunft zu konzentrieren. Insgesamt zeigte sich, daß es einen universalen "Wenderoman", der Vergangenheitsbewältigung, kritischen Systemvergleich und Zeitgeschichte der letzten Jahre seit dem Mauerfall, etc. einschlösse, verständlicherweise nicht gegeben hat, was einerseits mit den Besetzungsproblemen der Rolle des zeitkritischen objektiven Erzählers zu tun hat. Andererseits erwies sich, daß analog der ideologischen Befrachtetheit des Deutschlandthemas und der uneinheitlichen rechts-linken Lagerbildungen eine nicht minder kontroverse Vielfalt der erzählerischen Deutungen der "Wende" in den einzelnen Zeitromanen zu besichtigen ist. Innerhalb dieser widersprüchlichen Bespiegelungen ist das Überwiegen der Beiträge von Autoren und Autorinnen aus der ehemaligen DDR ein weiteres Indiz der getrennnten Wege der erzählerischen Reaktionen auf Mauerfall und deutsche Einheit. Die westlichen Beobachtungen der geschichtlichen Ereignisse nehmen vielleicht in weiterer Distanz zum Mauerfall und in der medial vermittelten "Beliebigkeitskultur" zu.

Endnotes


1 Zitate aus: Hans Christoph Buch: An alle! Reden, Essays und Briefe zur Lage der Nation. (Frankfurt am Main: edition suhrkamp, 1994), S. 11
2 Volker Hage, "Nacht mit Folgen", Der Spiegel Nr. 15, 10. April 1995, S. 200
3 Christoph Dieckmann, "Klaus und wie er die Welt sah", Die Zeit Nr. 37, 8. September 1995
4 Von Karl-Rudolf Korte wurde unlängst festgestellt, daß es den Epochenroman zwischen Wende und Einheit ...wohl noch nicht geben (kann) - und wenn, dann zumindest zwei: nämlich einen aus West- und einen aus Ostsicht". K./R. Korte, "Demokratie braucht Literatur. Vom deutschen Umgang mit erzählender Literatur", Politik und Zeitgeschichte B 13-14 (1996), S. 27. Günter Grass' Geschichtsroman "aus westlicher Sicht" , Ein weites Feld , wurde nicht in diesen ¨Überblick aufgenommen. Weitere Sekundärliteratur siehe vor allem die Monographie von Volker Wehdeking, Die deutsche Einheit und die Schriftsteller. Literarische Verarbeitungen der Wende seit 1989. (Stuttgart, Köln, Berlin: Kohlhammer, 1995), der ein kritischer Blick auf die Gattung der "Wendeliteratur" völlig fehlt. Wehdeking vertritt insgesamt einen viel zu ausgedehnten Begriff von "literarischen Verarbeitungen der Wende" und schließt zeitkritische Literatur zum Thema des geteilten Deutschlands und der "Vorankündigungen" der Überwindung der Teilung mit ein. Ein wichtiger Artikel, der Detailanalysen von zwei auch hier aufgeführten Romanen ehemaliger DDR-Schriftsteller bietet, ist hingegen der von Christine Cosentino, "Ostdeutsche Autoren Mitte der neunziger Jahre: Volker Braun, Brigitte Burmeister und Reinhard Jirgl", The Germanic Review  Vol. 1. No 3 (1996), S. 177-194
5 In: Symposium der deutschen Literaturkonferenz Leipzig, 4. Juni 1993, zum Thema "Wachsende Verstörung - florierender Betrieb", ndl  41.Jg. 488. Heft ( August 1993), S. 175
6 Zit. nach: Roper, "Imagining the German Capital", in: 1870/71-1989/90. German Unifications and the Change of Literary Discourse. Ed. by Walter Pape (Berlin/ New York: De Gruyter, 1993), S. 192
7 Christa Wolf, Auf dem Weg nach Tabou. Texte 1990-1994. (Köln: Kiepenheuer&Witsch, 1994), S. 295
8 "Es geht nicht um Christa Wolf. Der Literaturstreit im vereinten Deutschland. Hg. von Thomas Anz (München: Edition spangenberg, 1991). Vgl.: Der deutsch-deutsche Literaturstreit oder "Freunde, es spricht sich schlecht mit gebundener Zunge. Analysen und Materialien. Hg. von Karl Deiritz und Hannes Krauss. (Sammlung Luchterhand, 1991.
9 Siehe z.B. Helga Königsdorfs Essay: Mittelpunktentsorgung: "Warum nun aber "Literaturstreit"? Ich würde es lieber Mittelpunktentsorgung nennen. Wie auch immer, stellt man sich die Frage, wem nutzt es, muß man klar sagen: uns den Neubundesautoren. Wir bekamen exemplarisch schnell und konzentriert vorgeführt, wie nun die wahre Sachlage ist." In: Der deutsch-deutsche Literaturstreit, S. 15 f.
10 siehe Anz, S. 13 ff
11 Enzensberger, "Gangarten. Wenn der Alltag anbricht, der ohne Propheten auskommt". Zitiert nach: Helmut Peitsch, "West German reflections on the role of the Writer in the light of reactions to 9 November 1989", in: German Literature at a Time of Change. German Unity and German Identity in Literary Perspective. Ed. by A.Williams, S. Parkes and R. Smith (Berlin Frankfurt/M. New York Paris Wien: Peter Lang 1991), S.155-182
12 Reinhard Baumgart, "Wir sind das Volk - nicht. Halbzeit im ersten Jahrzehnt der Wiederver(un)einigung. Eine Fastenpredigt für Rechts-links-Intellektuelle", Die Zeit  Nr. 41, 13.Oktober 1995
13 Henrik M. Broder:"Mit Ausnahme von Martin Walser schüttelten sich so gut wie alle Großdenker vor Entsetzen bei der Vorstellung, die DDR könnte von der politischen Landkarte verschwinden: und als es dann tatsächlich so weit war, zogen sie ihre letzte Triumphkarte aus dem Ärmel: Auschwitz. Wegen Auschwitz sollte die DDR bestehenbleiben, als Mahnmal und als Vorsorge-Maßnahme, damit sich die Geschichte nicht wiederhole." (H. M. Broder, "Die Unfähigkeit zu feiern", Der Spiegel , Nr. 40, 2. Oktober 1995, S.238 f.)
14 Christa Wolf, Christa, Medea Stimmen. Roman  (Frankfurt am Main: Luchterhand, 1996)
15 Anna K. Kuhn, "'Eine Königin köpfen ist effektiver als einen König köpfen': Gender Politics of the Christa Wolf Controversy", in: Women and the Wende. Social Effects and Cultural Reflections of the German Unification Process. Ed. by Elizabeth Boa/Janet Wharton (Amsterdam-Atlanta: Editions Rodopi B.V., 1994), S. 200-215
16 Abgesehen von der überwiegenden dokumentarischen und essayistischen "Wendeliteratur" der ersten Vereinigungsjahre sind hier unmittelbarere psychologisch reflektierende Zeitromane vor allem aus der Tradition weiblicher Zeitkritik der ehemaligen DDR zu nennen: Helga Königsdorf, Im Schatten des Regenbogen, 1993; Marion Titze, Unbekannter Verlust , 1994; Brigitte Burmeister, Unter dem Namen Norma , 1994.
17 Hettche, Thomas, NOX. Roman  (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1995)
18 Solches deutet sich an in einigen Rezensionen, z.B Thomas E. Schmidt, Frankfurter-Rundschau  vom 21. März 1995, Hettche habe sich dem Ereignis ausgeliefert: "diese eine, absurde Nacht in Berlin, sie hat die poetologischen Vorstellungen vor-und zerstört, sie war - ästhetisch betrachtet - ein großes Schwarzes Loch, das binnen weniger Stunden Erzählhaltungen und historischen Deutungssinn von Jahrhunderten verschlang." Gelobt wird in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Nr. 86 vom 11. April 1995, von Harald Jähner Hettches Spiel mit dem "Tod des Subjekts", doch stellt er neben der "fast genialischen Konstruktion" das "Hohle und Trendige" in Hettches Prosa heraus. Das "neue Talent" Hettche, hervorgetreten mit Experimentaltexte (Ludwig muß sterben, 1989; Inkubation,1992) wird allerdings in der überwiegenden Zahl der Kritiken in seinem Mauerfallroman im Sinne von Volker Hages Verriß der sadomasochistischen Symbolik kritisiert.
19 Andere Rezensionen zu Jirgls Roman fallen - im Gegensatz zu Volker Hages Kritik - weit anerkennender aus: z.B. Verena Auffermann, Süddeutsche Zeitung , Nr. 80, 5. April 1995, Jirgl sei "ein gesamtdeutsches Panoptikum, ein großes Abschieds-und ein böses mit offenen Rechnungen aus 50 Jahren Trennung gefülltes Alptraumbuch geglückt."; Helmut Böttiger, Frankfurter Rundschau  Nr. 66, 18.März 1995, nennt den Roman ein "literarisches Ereignis". Auch werden Hinweise auf die Moderne der DDR gegeben, der Jirgl durch seine früheren, wenn auch erst nach dem Mauerfall publizierten Texte angehört (Mutter Vater Roman, 1990; Überich , Protokollkomödie in den Tod , 1990; Im offenen Meer, Schichtungsroman, 1991; Das obszöne Gebet. Totenbuch , 1993).
20 Siehe Christine Cosentinos ausführlichere Analyse des Romans, S. 189 (vgl. Anm. 4). Sie würdigt die nihilistische Perspektive im Zusammenhang mit den experimentellen Erzähltechniken und verweist auf Joyce, Döblin, Becket und Arno Schmidt (zu ergänzen wäre der Lacansche Ansatz in der Brüder-und Liebesproblematik).
21 Jirgl, Reinhard, Abschied von den Feinden. Roman  (München: Hanser, 1995), S. 93
22 Kurt Drawert: Spiegelland. Ein deutscher Monolog (1992) Vgl. Cosentino, S. 187. Siehe Wolfgang Emmerich zum Beispiel Drawerts Spiegelland. Nach der Wende bleibt die DDR in Rückblicken auf ein "geraubtes Leben" weiterhin Thema der Rückblicke auf traumatische Kindheitserinnerungen. W. Emmerich, "Rückblicke auf die Literatur der DDR", Aus Politik und Zeitgeschichte  B 13-14/1996), S. 20f.
23 Braun, Volker, Der Wendehals. Eine Unterhaltung  (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1995)
24 Volker Braun, Die Zickzackbrücke. Ein Abrißkalender ( Halle: Mitteldeutscher Verlag. 1. Aufl. 1992), S.84 . Ich schließe mich in der Beurteilung hier Frauke-Meyer Gosau (vgl. Anm. 25) an, erwähne aber andere Stellungnahmen: Karl Heinz Götze zu dem neuen Band: Lustgarten. Preußen. Ausgewählte Gedichte  (1996) und dem hier auf der hinteren Umschlagseite abgedruckten Gedicht 'Das Eigentum': das "beste Gedicht über das Scheitern der DDR, das mir bekannt ist" (Frankfurter Rundschau , 20. Juli 1996).
25 Frauke Meyer-Gosau, "'Linksherum nach Indien'", in: Text und Kritik . Sonderband Literatur der DDR. Rückblicke. Hg von H.L. Arnold und F. Meyer-Gosau (München: Edition text und Kritik, 1991), S. 272
26 Dieter Hildebrandt in seiner positiven Besprechung, "Letzte Lockerungen des Wendehalses. Volker Braun wandert noch einmal zwischen Ost und West und zeigt seine Wende-Wunden", Die Zeit , 24. März 1995
27 Cosentino, Vgl. Anm. 4, S. 180 f. Der Titel des ersten Teils, darauf wird hier verwiesen, heißt Der Wendehals oder Trotzdestonichts .
28 Siehe Reinhard Mohr zu Volker Brauns Der Wendehals, die taz  (literaturtaz)  vom 15. April 1995. Vgl. auch Siehe auch Heinrich Vormweg "Ziellos in der Fußgängerzone", Beilage Süddeutsche Zeitung Nr 80, 5. April 1995: "Schwer zu sagen, was eigentlich man mit diesem Text vor Augen hat, und schon gar nicht erkennbar ist, wohin der Autor sich und die Leser lenken möchte. Die Gestik der Wegweisung oder doch zumindest der Sinnsuche hat Volker Braun sich nicht ganz austreiben können, nur daß der ehedem so zupackende didaktische Unterton nun hilflos klingt und daß er als geradezu gegenstandslos erscheint. In wenigen Momenten kommen Haß und Verachtung auf, Haß auf 'das Geschmeiß', die Sieger."
29 Horst Domdey, "Manchmal blitzt etwas auf", Der Tagesspiegel  vom 23. März 1995: Sogar im Vergleich zu "Iphigenie" habe die Sprache an Schärfe verloren. "Das eigentliche Credo Brauns aber lautet nach wie vor, Kapitalismus führt zum Faschismus — die langjährige Rechtfertigung, an der DDR festzuhalten."
30 Dieter Hildebrandt, vgl. Anm. 26
31Jens Sparschuh, Der Zimmerspringbrunnen. Ein Heimatroman  (Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1995)
32 Thomas Brussig, Helden wie wir. Roman  (Berlin: Verlag Volk und Welt, 1995)
33 Konrad Franke, "Der Sieger der Geschichte", Beilage der Süddeutschen Zeitung Nr. 234, 11.Oktober 1995
34 Wolf Biermann, "Wenig Wahrheit und viel Witz", Der Spiegel Nr. 5, 29.Januar 1996, S. 186 f.
35 Die Zeit , Nr. 37, 8. September 1995, vgl. Anm. 3: "Wir etwas Älteren werden noch dankbar sein, wenn Spätgeborene wie Brussig sich überhaupt auf den Erfahrungsraum DDR beziehen; id est: auf unser Leben."
36 Seltsamerweise nimmt Biermann Brussig diese "Schwäche" des Romans nicht übel, daß "nämlich die Staatssicherheit in diesem Roman stark verharmlost (wird)." (vgl. Anm. 34)
37 Frauke Meyer-Gosau, "Kassiber von drüben. Die DDR aus der Schlüsselloch-Perspektive: Der Roman Medea  von Christa Wolf lädt zum Dechiffrieren und Spekulieren ein", Die Woche  33. Dagegen Manfred Fuhrmann, "Honecker heißt jetzt Aietes. Aber Medea wird verteufelt human: Christa Wolf schreibt den Mythos neu", Frankfurter Allgemeine Zeitung , Nr. 53, 2. März 1996. Fuhrmann wendet ein bei der Frage der politischen Verschlüsselung, daß der Roman keine Allegorie ist "Bezüge auf Faktisches haben, aufs Ganze gesehen, kein großes Gewicht". Ja, Christa Wolf habe sogar mit diesem Verzicht aufs Zeigen auf wünschbare Zustände, "noble" Gelassenheit und Resignation" gezeigt. Dieser Sicht eines Verzichts auf Hinweise auf die Gegenwart, die immerhin an zahlreicher Stellen an Transparenz nichts zu wünschen lassen, ist schwerlich zuzustimmen. Äußerst kritische Besprechungen dagegen: u.a. Volker Hage, "Kein Mord, nirgends. Ein Angriff auf die Macht und die Männer": Christa Wolfs Schlüsselroman Medea , Der Spiegel Nr. 9, 26.2.1996, sowie Jens Balzer. "Tobt nicht, rast nicht, flucht nicht. Die Königin ist nicht Täterin, sondern reines Opfer: Christa Wolf gibt Medea Stimmen", Die Zeit  Nr. 9, 23. Februar 1996.
38 siehe das Zitatmotto von Elisabeth Lenk im Romaneingang
39 cf. z.B. Volker Hage, vgl. Anm.37
40 z.B. Elmar Krekeler, "Der Mythenstammtisch im Frauencafé. Christa Wolfs krampfhafter Versuch, sich in Medea   selbst zu spiegeln, Die Welt  Nr. 53, 2.März 1996, sowie weitere Rezensionen, Anm 37.



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