a peer reviewed scholarly journal on literature and art in the German speaking countries after 1945

ISSN 1093-6025

published at

Dickinson College
Carlisle, PA

 
G l o s s e n: Gespräch

Carmen-Francesca Banciu im Gespräch

Es folgt die bearbeitete Transkription einer im Berliner Café „Sale e Tabacchi“ produzierten Videoaufzeichnung mit Carmen-Francesca Banciu. Die Fragen stellte Christel Blumensath, Bild- und Tongestaltung: Heinz Blumensath. Ergänzt wird das Gespräch durch den Proustschen Fragebogen und vier Filmen mit vier kurzen, von Frau Banciu gelesenen Texten:

1. "Mein Vater", aus: Vaterfluchten
2. "Berlin ist mein Paris", aus: Berlin ist mein Paris
3. "Milano auf der Insel", aus : Berlin ist mein Paris
4. "Mutter, ist das meine Sprache?", aus: Berlin ist mein Paris

Was bedeutet für dich „Ankunft“, in Deutschland, in Berlin?

Ich bin 35 Jahre lang nie über die Grenze meines Landes Rumänien hinausgekommen und nach der Revolution war die Welt plötzlich offen und es war möglich, auch für mich, rauszugehen in die Welt und die Welt kennen zu lernen. Und das erste, was ich getan habe, ist nach Deutschland zu kommen, nach Berlin und das war eine Erfahrung, die erst mal mit dem Gewinn der Freiheit etwas zu tun hatte, und ich war berauscht von diesem Gefühl und es war gar nicht wichtig, wo ich jetzt ankomme, sondern dass ich rauskomme. - Und erst später, als ich als Stipendiatin für ein Jahr nach Berlin gekommen bin, stellte sich die Frage, wo bin ich hier? - Na ja, ganz so ist es auch nicht, ich bin vorher schon für zwei Wochen hier gewesen und natürlich hatte ich Eindrücke, die sehr prägnant waren. Ich weiß noch, damals haben mich die Farben und die Blumen hier so sehr beeindruckt. Also nicht der Reichtum, nicht der Luxus, sondern einfach die Farben der Blumen. Das war überwältigend. Die Blumen, das war, was man mit Freiheit, Freude und Lebenslust verbindet!

In Stuttgart, wo es schon sehr frühlingshaft war, die Mandelbäume blühten, in den Wohnungen gab es so viele Blumen und diese Blumen machten dann das Leben so bunt und alles schien sehr lebendig zu sein und in Bewegung. Das kannte ich es so nicht. Ich kannte nur Bewegungen, die dramatisch waren oder tragisch, und das war aber eine andere Art von Lebendigsein, die mit Freude verbunden war. Ja, das war am Anfang.

Als ich dann hier als Stipendiatin war, war das etwas komplizierter geworden, weil ich plötzlich nicht mehr wusste, was meine Aufgabe, meine Pflicht ist. Ich glaubte, ich durfte meinen Wünschen nicht nachgeben und hier bleiben und auch nicht nach Paris gehen, sondern ich müsste zurück nach Rumänien. Und als sich das geklärt hatte, war da immer noch ein gespaltenes Verhältnis: Bin ich hier als ein Außensteher oder bin ich hier als jemand, der praktisch mit dieser Stadt oder mit diesem Land oder mit diesem Ort sich identifiziert – irgendwann?

Am Anfang stellt man sich so viele Fragen und dann kommt das Leben und man lebt einfach und dadurch, dass man einfach lebt, klärt sich so viel. Und man kann hinterher reflektieren. Ich weiß jetzt, dass ein wichtiger Moment war, als ich anfing, auf deutsch zu schreiben, damit hatte sich sehr, sehr viel für mich geklärt. Es hat sich geklärt, weil ich hier nicht im Ghetto sein wollte, ich wollte nicht isoliert sein, wie am Anfang, wo ich gedacht habe, ich isoliere mich, um an der rumänischen Sprache zu arbeiten. Als ich dann hier bleiben wollte, weil mir Berlin so wichtig wurde, da wusste ich, dass man sich nicht isolieren darf, wenn man etwas über eine Stadt und eine Welt erfahren will, sondern man muss sozusagen in das Wasser springen und schwimmen. Und schwimmen mit dem Strom und nicht gegen den Strom. Was ich eigentlich ja jahrelang tat, in Rumänien zum Beispiel. Mit dem Strom schwimmen, das hieß, sich der Sprache und den Menschen zu nähern. Das geht ja nur über die Sprache. Und ich wollte die Menschen verstehen, nicht nur auf einer einzigen Ebene, sondern ich wollte auch ihre Hintergründe, ihre Hintergedanken, ihre Witze, ihren Humor verstehen. Ich wollte auch die „Berliner Schnauze“ verstehen. Und das bedeutet eben, in der Sprache sich so wohl zu fühlen, dass man selbstverständlich in der Sprache ist. Das aber geh nur, wenn man sie im Alltag gebraucht, also Sprache nicht nur als gelegentliches Instrument, sondern als selbstverständlichen Teil des Lebens betrachtet und dann auch Teil der eigenen Literatur.

Es gab Stufungen, wie ich mich dem Leben in der Stadt und den Menschen näherte. Dabei hat die Sprache sicher eine sehr wichtige Rolle gespielt. Die wirkliche Annäherung kam erst über das Schreiben in der Sprache, über Träume in der Sprache, aber ich glaube, dass man erst in der Sprache ist und selbstverständlich lebt, wenn man seine Selbstgespräche in der Sprache führt. Also ich habe erst mein Tagebuch auf deutsch geführt und es kam immer ein Stück Selbstverständlichkeit dazu, bis es auch zum Selbstgespräch kam. Jetzt ist es einfach so - ich denke für mich und spreche zu mir auf deutsch. Das fällt mir gar nicht auf. Das ist einfach selbstverständlich geworden. Und mit der Sprache vollzieht sich die Annäherung an die Stadt, die Politik, an das, was das Land und die Leute bewegt. Und in dem Moment, wo man das Bedürfnis hat, darüber was zu wissen, hat man auch mit der Zeit das Bedürfnis, mitzuwirken und etwas zu verändern und je intensiver diese Entwicklung wird, desto mehr fühlt man sich dazu gehörig, zu Hause letztendlich.

Ich glaube, es war noch ein wichtiger Moment, als ich gespürt habe, ich bin ein Teil von hier, als meine Kinder zum Beispiel auf das Gymnasium gekommen sind oder in Momenten, wo meine kleinste Tochter an eine Jugendfeier teilgenommen hatte, an etwas, was ich sonst nicht kannte. Das ist etwas so ungewöhnliches! Ich hab das in Rumänien nie erlebt und plötzlich gab es etwas, was zu dieser Welt gehörte, wo meine Kinder mitmachten und bei dem ich das Gefühl hatte, das gehört dazu und es ist etwas neues, es hat eine gewisse Fremde, aber trotzdem macht man es, weil man Teil dieser Welt hier ist. - Das war ein Gefühl von Zugehörigkeit. Leider kann ich es nicht besser erklären.

Frage: Kannst du dein Verhältnis zu Berlin beschreiben?

Berlin ist mein Zwillingsbruder, denn wir waren beide gespalten. Von unserer inneren Geschichte. Ich lebte in Rumänien und lebte in einem Umfeld, mit dem ich nicht übereinstimmen konnte und schwamm gegen den Strom. Und dann kam ich hierher und war wieder gespalten, weil ich nicht wusste, ob ich mir erlauben darf, meinen Wünschen nachzugehen. Ich stand am Anfang von etwas neuem. Vor der Entdeckung einer neuen Welt, vor neuen Erfahrungen, Erlebnissen, am Anfang einer Entwicklung. Und das passierte auch mit Berlin. Berlin als gespaltene Stadt, die zusammenwachsen soll und die zusammenwächst und die unterschiedlichen Teile haben unterschiedliche Geschichten und die sollen ja zusammenwachsen und dadurch soll etwas neues entstehen und neue Erfahrungen, die einmalig sind für beide Seiten. Und diese Entwicklung parallel zu beobachten zu meiner Entwicklung, bedeutet für mich eine sehr große Nähe zu dieser Stadt. Und ich empfinde es aus diesem Grunde eben, dass wir Zwillingsbrüder sind.

Für mich, wenn ich an Berlin denke, wenn ich die Augen schließe, dann ist das keine Frau, wie man das von Paris sagt, nicht, „Paris is a woman“, sondern es hat etwas, eine andere Kraft, es hat vielleicht nicht die Poesie von Paris, aber es hat eine große Kraft und die assoziiert man wahrscheinlich mit Männlichkeit – obwohl, Frauen können ja ebenfalls sehr kraftvoll sein! Aber vielleicht gibt es noch andere Dinge. Nicht nur die Kraft, aber da müsste ich mir noch Gedanken machen. Weil ich spontan sage, das ist keine weibliche Stadt, sie ist eindeutig für mich ein Bruder.

Frage: Du bist innerhalb Berlins dann vom Westen in den Osten gezogen. War das ein Zufall oder eine bewusste Entscheidung?

Dass ich nach Ost-Berlin gezogen bin, war bis zu einem gewissen Punkt meine Entscheidung. Am Anfang hatte ich furchtbare Angst vorm Osten. Angst und Ablehnung. Also es ging so weit, dass ich physisch reagierte. Mir wurde schlecht, ich wurde fast ohnmächtig, mir ging es einfach nicht gut. Und es passierte noch etwas, egal, wie oft ich in den Osten gefahren bin, ich konnte mir nichts merken. Ich wusste nie, wo etwas liegt. Also mein ganzes Wesen lehnte das ab. Und irgendwann ergab sich eine Wohnung im Osten und ich überlegte mir, ob ich das mache oder nicht. Und ich entschied mich dann, die Wohnung zu nehmen und wusste, dass das auch einen Sinn hat, dass es nicht Zufall ist, dass die Wohnung ist, wo sie ist, noch dazu in Mitte. Also fast an der Friedrichstrasse, an der Strasse der Trennung. Ich wusste, dass mir eine Aufgabe gegeben wird vom Leben, von Berlin, von wo auch immer und ich muss sie bewältigen. Und das heißt auch, das, was mit dem Osten verbunden ist, zu verarbeiten und mich davon zu befreien und wieder den Osten, - wenn man es noch so nennen kann, weil die Stadt ja zusammenwächst und eine Einheit werden soll, - aber auf jeden Fall den Osten lieben kann. Weil, wenn man seinen Ballast bearbeitet hat und los geworden ist, dann gibt es auch viel positives, wovon man selber geprägt ist.

Frage: Du schreibst einmal: „Genuss ist ein Wort aus Deutschland“?

Ich komme aus einer Familie, die Genuss verpönt hat. Meine Eltern waren beide Parteifunktionäre und strenge Kommunisten. Dazu war meine Mutter religiös erzogen, aber sie war keine religiöse Person mehr, sie hatte aber von der Religion die Strenge auf sich übertragen und die wollte sie auf mich übertragen und so kam Religion und Politik in einer Kombination, die sehr, sehr, sehr lebensfeindlich war. Und vom Genuss – Genuss war keine Schande, sondern war Frivolität! Man hatte Pflichten und Pflichten, die über Generationen tradiert wurden ... Man hatte die Pflicht, etwas zu tun, was für Generationen wichtig ist, also über Generationen hinaus und das Leben war nicht leicht, es gab keine Leichtigkeit, sondern es gab nur Strenge und Ernsthaftigkeit und in diesem Sinne wurde ich erzogen und wurde meine Generation und die Generationen, die im Kommunismus aufgewachsen sind erzogen. „Freude“ war ein vergessenes Wort. Ein vergessener Ort. Es war überhaupt kein Thema. Und als ich hierher kam, hörte ich immer wieder, wenn es mir nicht gut ging - und es ging mir nach einiger Zeit gar nicht gut: „Tu was schönes, mach was schönes für Dich, mach eine Kerze an, höre Musik, geh spazieren, tu etwas, was Dir gut tut, freue dich,“. Und ich war so verblüfft und wusste damit überhaupt nichts anzufangen. Ich beobachtete die anderen Menschen und hatte das Gefühl, für die ist das Leben so leicht, also leicht in dem Sinne, dass es von Leichtigkeit geprägt ist und von Fröhlichkeit. Ich hingegen hatte das Gefühl, mir ist alles auf den Schultern geladen und ich kann mich kaum bewegen! Und das musste ich abgeben, abgeben letztendlich und lernen von den anderen hier. Und ich hörte immer wieder, ach, wir Deutschen, wir müssen uns ein Beispiel nehmen an den südlichen Ländern, an den mediterranen, an Italien, Spanien. Hier träumt jeder von dem Süden und wenn ich sagte, wie wohl ich mich hier fühle und wie viel ich hier gelernt habe und wie viel Freude und Lust am Leben ich hier entdeckt habe und den Genuss, dann haben sich alle totgelacht und verstanden nicht, was ich meinte. Und ich hab gedacht: mein Gott, wo hab ich denn gelebt, dass mir das, was hier ist, so freudvoll und lebensbejahend erscheint. Aber so ist das.

Frage: Was bedeutet Glück für dich?

Da sehe ich eine Explosion von Licht, von Sonne und von Sternen gleichzeitig. Es ist etwas lichtvolles. Und etwas sehr Warmes.

Frage: Und die Farbe Rot?

Die Farbe rot ist etwas, was ich verbinde mit einem Gefühl von Geborgenheit und Liebe. Aber das ist ja nichts neues, denn rot ist ja mit Liebe verbunden. Und Kraft. Explosive Kraft.

Frage: Und was Pflicht?

Ich würde es gerne streichen. Ich glaube, man braucht keine Pflichten. Man braucht das Leben. Wenn man im Einklang mit sich selbst ist, dann braucht man keine Pflichten. Dann tut man alles, was für einen selbst gut ist und für die anderen. Und dann gibt es keine Pflicht. Pflicht ist mit Schwere und Zwang verbunden. Und das widerspricht eigentlich dem Leben.

Frage: Mutter und Schriftstellerin – wie kannst du das verbinden?

Es sind zwei Berufe. Und zwei Fulltimejobs. Mutter, erziehende Person zu sein und Liebe gebende Person zu sein und Schriftstellerin. Das sind keine leichte Aufgaben, aber sie widersprechen sich nicht. Und ich glaube auch, ich merke, das Wort Pflicht kommt sehr oft vor in meinem Wortschatz. Ich entdecke immer wieder, wenn man das tut, was man gerne tut, also aus freien Stücken, wenn man seine Kinder erzieht, und das tut man ja gerne, weil man liebt sie, das ist nicht etwa, was man sich denkt, sondern das spürt man, das fühlt man, also wenn man das beste für seine Kinder tut, dann gehört dazu, sie zu erziehen und ihnen das Leben zu ermöglichen: wohnen, das ganz banale, den Alltag, das Geld zu verdienen und so weiter. Und dann ist das keine Pflicht, sondern es ist das Gefühl, dass aus Liebe dann auch alles getan wird. Manchmal ist es nicht so einfach, aber es ist selbstverständlich.

Die Liebe zur Literatur, zum Schreiben ist ja genauso. Ich bedaure, wenn es dann zur Pflicht wird, weil man irgendwas unbedingt in einer ganz ganz kurzen Zeitspanne beenden muss und man kaum noch Zeit hat, sich zu freuen an dem Text und dem Entstehen-lassen und ich möchte das sehr gerne auch demnächst nicht mehr tun müssen oder tun - ich möchte so leben, dass es ohne Pflicht ist, sondern selbstverständlich - im Leben, im Fluss. Ich möchte es so tun, wie ich es früher getan habe. Aus dem Bedürfnis, etwas auszudrücken. Mich selbst auszudrücken. Nur so hat Literatur, hat Kunst einen Sinn. Auch das Kindererziehen hat nur so einen Sinn. Und nicht aus Pflicht. Und das lerne ich hier, das lerne ich aber nicht von den anderen, das lerne ich vom Leben, von mir. Vielleicht weiß ich das irgendwo und habe es vergessen. Vielleicht weiß es jeder und hat es vergessen und muss es wiederentdecken. Das, was uns geprägt hat, ob Religion, ob Politik, ob Gesellschaft, dass wir Pflichten haben, das ist glaube ich die falsche Vorstellung von dem, was wir sind und was wir geben wollen und was wir entdecken wollen. Und dann passt das alles zusammen. Das Muttersein, das Schriftstellerinsein und das, was man noch ist: jemand, der das Leben entdeckt, und der es lernt zu leben.

Frage: Du schreibst im Café?

Es ist so sehr ein Teil von mir geworden. Ich hab eigentlich die meisten Sachen im Café oder in der Kneipe geschrieben. Am Anfang aus absoluter Not, weil ich kein eigenes Zimmer hatte, dann weil ich zuhause von all den anderen Aufgaben abgehalten oder verführt oder abgelenkt war, aber nicht nur deswegen, sondern weil ich das Bedürfnis habe, Menschen in meiner Nähe zu spüren, zu hören, ohne dass ich unbedingt einen Kontakt mit ihnen aufnehme. Dieses Geräusch im Café, das Gemurmel von Stimmen, das Summen, das Klackern von Geschirr, das alles gibt mir das Gefühl von Geborgenheit, von Gelassenheit. Café, das assoziiert man ja auch mit einer gelasseneren Stimmung, mit Zeit für sich selbst haben und das, was man gerne tut und letztendlich für sich selbst. - Wenn ich im Café bin, kann ich sehr gut arbeiten, ich kann sehr gut die Verbindung zur Außenwelt so herstellen oder auch filtern, dass zu mir nur das kommt, was ich haben möchte und was ich brauche. Manchmal beeinflusst mich das, inspiriert mich das, manchmal brauch ich das gar nicht und manchmal vergesse ich das auch und bin so auf meine eigenen Sachen konzentriert, dass ich gar nicht merke, wo ich bin. Dann ich bin in einer Geschichte drin. Ich merke, dass ich manchmal so Zeiten habe, wo ich denke, ich müsste jetzt mal wieder zuhause arbeiten. Aber das geht nur für kurze Zeit gut, dann werde ich langsam depressiv und weiß nicht warum und irgendwann sage ich: Ach, Du musst mal wieder raus, Du musst wieder ins Café, das ist es. Und dann tu ich das auch und dann geht das wieder und wieder entdeckt man die Leichtigkeit und die Lebensfreude. Und letztendlich geht es um Menschen und wenn man Menschen liebt, dann muss man draußen sein.

Frage: Du schreibst auch über Cafés?

Ich schreibe auch über dieses Café. Ich schreibe aber auch nicht nur über dieses Café, sondern auch die anderen Bücher sind in Cafés entstanden, ohne dass man über die Cafés selbst was schreibt oder sich mit ihnen beschäftigt im Text. Aber im Falle „Berlin ist mein Paris“ ist das Café natürlich auch ein Zentrum oder ein Ausgangspunkt, von wo man die Welt betrachtet oder immer wieder zurückkehrt und anknüpft oder das Gefühl hat, da ist der Mittelpunkt. Und man kann immer wieder raus und immer wieder zurück.

Frage: Andere Autoren, die in Cafés geschrieben haben, z.B. Hemingway, siehst Du Dich da in einer Tradition?

Also mit der Tradition ist das so eine Sache. Wenn man was übers Café schreibt, oder was die Autoren, die im Café schreiben, betrifft, ja. Hemingway ist derjenige, der meine Phantasie geweckt hat in dieser Richtung. In seinem Buch „Ein Fest fürs Leben“ erzählt er ja ganz viel über seine Cafés und Restaurants, wo er einen großen Teil seines Tages lebt und schreibt und arbeitet. Das beflügelte natürlich meine Phantasie, auch in Rumänien in einer Zeit, wo man überhaupt nicht aus der Enge raus konnte. Das war Hemingway einerseits und das war Paris andererseits, der Ort, wo Künstler sich mit der Welt messen. Paris war auch die weite Welt unter anderem. Da Hemingway so viel darüber geschrieben hat, es ist eine Art Tradition, die mir gefällt. Andererseits, was die Literatur betrifft, hab ich von ihm sehr, sehr viel gelernt, aber wenn ich an Vorbilder denke, dann ist das nicht Hemingway. Die Tradition oder das Vorbild in literarischem Sinn ist für mich nicht Hemingway, sondern Virginia Woolf oder seine Texte aus dieser Pariser Zeit, als Hemingway da gelebt hat. Dann noch u.a.: Gertrude Stein, Dunja Barnes, die ich sehr schatze, und dann gibt es als Vorbild auch noch ganz andere Autoren, nämlich Faulkner, und auch die Russen! - Ich habe von sehr vielen was gelernt. Ich kann nicht sagen, ich schreibe in der Tradition von jemandem anderen, ich lerne von da und von dort und verwende oder versuche, das alles, was ich gelernt habe, dann in einer Form umzusetzen, die vielleicht doch mit mir was zu tun hat. Und eine Ausdrucksweise zu finden, die doch mit mir was zu tun hat. Und wo man dann vielleicht mich erkennt als Autorin.

Frage: War Paul Celan ein Vorbild?

Ja, Paul Celan ist auch ein wichtiger Autor und wenn wir zu der Geschichte kommen „Genuss ist ein Wort aus Deutschland“, dann ist das auch eine Gegenüberstellung von einem Gedicht, was aber ein ganz anderes Bild von Deutschland gibt, nämlich „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“. Ich wollte dem nicht mit Absicht ein anderes Bild geben, aber es hat sich so entwickelt und ich fand das sehr passend. Weil nichts einseitig ist, sondern alles aus mehreren Blickwinkeln zu betrachten ist. Und dann gehört auch „Genuss ist ein Wort aus Deutschland“ zu einem Deutschlandbild.

Frage: Du bietest inzwischen auch Kurse in „Kreatives Schreiben“ an?

Kreatives Schreiben ist etwas, was mich am Anfang gar nicht beschäftigt hat. Ich wusste, dass viele amerikanische Autoren das unterrichten, teilweise auch aus finanziellen Gründen. Was mich betrifft, ich habe das Meiste für mich lernen müssen, am besten alleine und insofern wäre für mich eine Teilnahme an einem Kurs wahrscheinlich nicht möglich, weil ich jemand bin, der alleine Dinge entdecken muss und Wege.

Wenn ich auf der Straße mit jemandem bin, dann seh ich einfach nicht, wo ich bin und kann den Weg nicht mehr das zweite Mal finden, aber wenn ich den gleichen Weg alleine gehe, dann weiß ich, wo ich bin. Und ähnlich geht’s mit allen Dingen. Aber ich muss zugeben, als ich gefragt wurde, ob ich denn nicht so einen Kurs leiten möchte, war ich erst mal ganz überrascht und glaubte, dass ich das gar nicht kann. Ich war sehr verunsichert, was könnte ich denn den anderen beibringen und habe mir Gedanken gemacht und bin dann auf den Gedanken gekommen, dass ich den anderen nur das beibringen kann, was mich beschäftigt. Oder anders gesagt, was ich denen am besten beibringen kann ist: zu beobachten, zu sehen, ihre Wahrnehmung zu erweitern und Dinge intensiver wahrzunehmen. Auch Details wahrzunehmen und auch diese Details abzuarbeiten, um ein Ganzes herzustellen und auch aus Details das wichtige zu selektieren, das exemplarische, um etwas besonderes auszudrücken. Und dann waren oft Dinge, die mich selbst beschäftigen, Themen, die mich selbst beschäftigen, zum Beispiel das Thema Zeit, das mich immer noch beschäftigt. Oder Perspektiven. Aus wie vielen Perspektiven man etwas erzählen kann. Also aus übereinander gelegten Perspektiven. Von einer Figur, die erzählt, dass ihr erzählt wurde, dass ihr erzählt wurde und so weiter. Wie weit kann man das treiben? Wie viel subjektives braucht man, um so objektiv wie möglich sein?

Das waren einige Themen, die mich beschäftigt haben, und über die ich in meinen Büchern auch versucht habe zu schreiben oder mit ihnen zu arbeiten. Und das war auch eine Art, den anderen zu helfen, sich mit den Themen zu beschäftigen und auch ihre Sicht zu entdecken und es eventuell weiterzuführen. Ich habe auch meine Ergebnisse vorgelesen und habe gesagt, ja das ist meine Sicht oder so weit bin ich gekommen, was könnt ihr denn? Oder manchmal habe ich ihnen dieselbe Aufgabe gegeben, die ich mir selber gestellt habe, um zu sehen, wie unterschiedlich wir sind und wie weit wir gehen können. - Es sind sehr oft Texte entstanden, die für mich mehr waren als Aufgaben, es waren oft schon literarische Texte! Und das freut mich jedes Mal, wenn junge Autoren oder Leute, die sich mit dem Schreiben beschäftigen, über die Übungen hinaus für sich etwas wertvolles schreiben können. Und ich glaube, manchmal gelingt es mir, ihnen die Möglichkeit zu geben, ihre Sicht zu erweitern und ihre Sensibilität. Und sich auch zu befreien von Druck, von Stress von einer Starre, mit der wir alle zu kämpfen haben und einfach losschreiben. Und Dinge entdecken, an die sie einen Tag zuvor nie gedacht hätten.

 


copyright: Glossen, Oktober, 2004