a peer reviewed scholarly journal on literature and art in the German speaking countries after 1945

ISSN 1093-6025

published at

Dickinson College
Carlisle, PA

 
G l o s s e n: Artikel

"Unstreitig ist mein armer Herr ein Ketzer": Karl Mickels Celestina (1974)
Gabriele Eckart

Auf dem Ersten Internationalen Celestina-Kongress 1977 in Barcelona sprach Werner Bahner, Mitglied der Akademie der Wissenschaften der DDR, über "La Celestina en el teatro de la República Democrática Alemana"; der Text seines Vortrags wurde im nachfolgenden Konferenzmaterial abgedruckt. Bahner tritt darin mit dem Anspruch auf, einen Überblick über die Rezeption dieses wichtigsten Textes der spanischen Renaissance am Theater der DDR zu geben, spricht aber nur über die Aufführung einer Celestina-Bearbeitung aus dem Jahre 1970 am Theater in Weimar. Diese Aufführung unter der Regie von F. Bennewitz war, wie Bahner betont, auch vom DDR-Fernsehen ausgestrahlt worden. Zeigte kein anderes Theater der DDR Interesse an der so bühnenwirksamen Figur der Kupplerin Celestina, die außerdem neben Don Quijote und Don Juan zu den berühmtesten Protagonisten der spanischen Literatur zählt?

Bahner verschweigt in seinem Vortrag, dass auch in Ostberlin, am berühmten, damals von Ruth Berghaus geleiteten Berliner Ensemble, eine Celestina-Bearbeitung aufgeführt wurde, 1974 -- vier Jahre nach der Aufführung in Weimar, drei Jahre vor Bahners Reise nach Barcelona. Die Regisseure Jürgen Pörschmann und Günther Schmidt hatten dabei eine neue Bearbeitung des Textes von Karl Mickel verwendet, der den Text nicht nur sehr frei übersetzt, sondern auch zwei Szenen über die spanische Inquisition hinzugefügt hatte, die in Fernando de Rojas Text fehlen. Mickels Veränderungen geben dem Text über Liebe, Sex, Habgier und Zuhälterei eine politische Schwingung; nicht zu Unrecht wurde die Berliner Aufführung als eine "Parodie auf den perfekten Staat" (Zingg) beschrieben.

Diese Arbeit untersucht Karl Mickels Celestina-Rezeption. Ich vergleiche Mickels Text mit dem spanischen aus dem Jahre 1499 und versuche die Frage zu beantworten, warum Bahner 1977 in Barcelona Karl Mickels Bearbeitung, die Christoph Rodiek zufolge die "bedeutendste deutschsprachige Celestina-Adaption überhaupt" (166) ist, und die darauf beruhende Aufführung am Berliner Ensemble verschwieg.

Fernando de Rojas Dialogroman ist auf den ersten Blick eine Warnung vor Kupplerinnen und korrupten Dienern. Calisto, ein reicher junger Mann, der sich in ein Mädchen, Melibea, verliebt hat, begeht den Fehler, ihnen zu vertrauen und bezahlt dafür mit dem Leben. Melibea, verzweifelt über seinen Tod, springt von einem Turm in den Tod. Der Text erregte in Spanien Anstoß, weil Calisto in seiner Verliebtheit Melibea in die Position Gottes erhebt: "Sempronio: ¿Tú no eres cristiano? Calisto: ¿Yo? Melibeo só, y a Melibea adoro, y en Melibea creo, y a Melibea amo" (Rojas 22) -- Ketzerei in den Augen der Kirche[1]. Abgesehen davon, dass die krasse Sinnlichkeit des spanischen Textes in schreiendem Kontrast zur verknöcherten sozialistischen Sexualmoral stand, erregte Rojas Tragikomödie ohne Zweifel Mickels Interesse dieses Sakrilegs wegen. Erlaubt es ihm doch, zwei weitere Protagonisten in den Text einzubauen, einen Inquisitor und dessen Sekretär, die sich mit dem "Fall" befassen. Am Ende stellt sich heraus, alle Verwicklungen im Text waren von den beiden nicht nur genau beobachtet, sondern auf eine unsichtbar bleibende Weise inszeniert worden -- Calistos und Melibeas Untergang ein Werk des Heiligen Offiziums. Mickel merkte zu seiner Celestina-Bearbeitung an:

Die Intrige ist in sich selbst zurücklaufende Bewegung der Gesellschaft unter der Inquisition. Der junge Calisto wird Objekt der Intrige; seine Seele beginnt zu kreisen und findet, wie das blinde Huhn im engen Stall das Korn, den Satz: Kein höhres Wesen / Ist, als der Mensch. Den leer gewordenen Platz Gottes okkupiert er als der Mensch, der er ist. Indes, sein Masochismus belehrt ihn, daß ihm, Gott, einzig im Auge seiner Geliebten, der Welt, Besonderheit zukommt. Danach bricht er sich den Hals, seinen Blick auf den Fötus des wissenschaftlichen Atheismus hätte er, lebte er fort, unter der Inquisition nicht tradieren können. (208)

Der Autor, wie gesagt, übersetzt Rojas Text nicht Wort für Wort. Aus einundzwanzig Akten macht er fünf; und die Dialoge in Prosa gibt Mickel, stark gekürzt, in Blankversen wieder; nur hin und wieder ein Sprechakt in Prosa. Das Versmaß potenziert den Humor und treibt an einigen Stellen die bei den Figuren aus dem Zuhältermilieu schon angelegte Obszönität auf die Spitze: Sagt Sempronio etwa bei Rojas: "¿No has leído de Pasife con el toro, de Minerva con el can?" (24-5), so sagt er bei Mickel:

Pasiphae ließ sich von einem Stier
Minerva sich von einem Hund. Wie viele
Adlige Damen hatten Maultiertreiber
Königinnen Buckel, Nonnen Gärtner [...] (148).

Allerdings ist auch der Dialog zwischen den Liebenden Calisto und Melibea, im Orginal in einer "lenguaje eufemístico amoroso" (Lacarra Lanz 144) verfasst, bei Mickel brutal direkt. Etwa, um seine atheistische Botschaft zu verdeutlichen, lässt er Calisto im Liebesakt sagen:

Gott würfelt. Gott ist tot. Kein höhres Wesen
Ist, als der Mensch. Und das sieht so aus.
Ich sehe nackte Affen, Melibea!
Wer dreie abmurkst, ist der Affenkönig. (203)

Und später: "Die Welt hat einen Riß / Den liebe ich." Worauf Melibea in der gleichen entzauberten Sprache antwortet: "Du reißt mich auf. Mein Gott!" (203) Diese Aktualisierung der Sprache in den Dialogen zwischen den Liebenden steht im Einklang mit des Dichters Auffassung des Menschen als eines "biosozialästhetisch[en] bestimmte[n] Wesens" (Schlenstedt), wobei das "bio" zweifellos das "sozial" und das "ästhetisch" überdeterminiert. Daher Mickels "Mißtrauen gegen das sich ausströmende Gefühl" (Heukenkamp 1979, 242). Da Mickel aber Calisto und Melibea verjüngt (sie sind bei ihm nur 17 und 14 Jahre alt), wirkt die Wahl eines solchen Vokabulars als Parodie auf Rojas Liebesdialoge.

Wenn Bahner 1977 in Barcelona über die von ihm gefeierte Weimarer Celestina-Aufführung sagt, sie basiere auf einer Übersetzung, die "fiel y lingüísticamente agradable" (485) [2] ist, so bleibt unausgesprochen, dass in der Hauptstadt der DDR unterdessen eine andere Celestina-Übersetzung zur Aufführung gekommen ist, auf die Bahners Lob offenbar nicht zutrifft. Nicht nur ist Karl Mickels Übersetzung nicht "treu", sie ist auch keinesfalls -- nach der offiziellen Prüderie in der DDR noch Anfang der 70er Jahre -- "linguistisch angenehm".

Die zweite wichtige Veränderung, die Mickel an Rojas Text vornimmt, ist die schon erwähnte politische Problematik. Zunächst schärft Mickel die Brisanz der Orte, an denen sich Calisto und Melibea begegnen: statt im Garten hinter dem Haus Melibeas, wohin sich sein Falke verflogen hatte, sieht Calisto Melibea bei Mickel zum erstenmal in der Kirche. Und statt im Garten hinter dem Haus verführt er sie schließlich in einem Klostergarten. Um diesen Ortswechsel zu motivieren, verändert Mickel auch die Handlung. Um noch mehr an "der Sache" (Mickel 180) [3] zu verdienen, lässt Celestina Melibeas Vater warnen und erreicht damit, dass diese in ein Kloster gesperrt wird, wo sie angeblich vor Calisto sicher wäre. Außerdem, die bei Rojas offen bleibende Frage, warum Calisto, so verliebt in Melibea, nicht einfach um ihre Hand anhält, statt sich auf illegalen Wegen den Hals zu brechen, beantwortet Karl Mickel damit, dass sie eine "maurische[n] Großmutter" hat. Damit passen die Liebenden, ähnlich wie Romeo und Julia, in den Augen der Gesellschaft nicht zusammen.

Mit diesem Ortswechsel aus Privaträumen an heilige Stätten und dem teils nicht-christlichen Familienhintergrund Melibeas motiviert Mickel ohne Zweifel den Einbau der Geheimdienstszenen. Hinzukommt, dass er Calistos gotteslästerliche Äußerung, dass er nicht Christ, sondern "Malibeer" (ein Wortspiel mit dem Namen "Malibea") sei, durch einen kurzen Kommentar seines Dieners Sempronio verschärft: "Das sieht schlimm aus. / Beischlaf mit Engeln zeugte Sodoms Ende. / Beischlaf mit Gott: den haben Sie erfunden" (148). Bei Rojas hatte der Diener diesen Gedanken viel indirekter geäußert. Und noch eine zusätzliche Gotteslästerung bei Mickel, die der Inquisition nicht entgeht: "Der Ketzer Calisto hat unsern Herrn und Heiland Jesus Christus mit dem Großtürken verglichen und erklärt, er ziehe den Großtürken vor." (193)

Wie Christoph Rodek zeigt, ist das Inquisitionsmotiv in deutschsprachigen Celestina-Fassungen nicht neu. In westdeutschen Bearbeitungen des spanischen Textes für Bühne und Oper tauchten Figuren der Inquisition mehr oder weniger "als dekorative Tupfer" (162) auf mit dem Ziel, Lokalkolorit zu erzeugen. Erst bei Karl Mickel entwickele sich dieses Motiv "zum differenziert gestalteten Mittel literarischer Erkenntnis" (160). Die beiden Szenen, in denen Mickel einen Inquisitor und seinen Sekretär die Vorgänge im Stück verfolgen lässt, spielen vor dem Vorhang und sind in Prosa geschrieben - das stellt sie über das Geschehen und betont den bürokratischen Charakter ihrer Unterhaltung. In der ersten Szene informiert der Sekretär seinen Chef über Calistos ketzerische Äußerung und über das Fehlverhalten seines Dieners, der die Äußerung hätte anzeigen müssen, aber von einer Anzeige Abstand nahm. Da jedoch während des Gesprächs zwischen Calisto und Sempronio sonst niemand anwesend war, muss bei Calisto abgehört worden sein - Mickel zieht damit die Handlung in die Gegenwart. Erstaunlicherweise antwortet der Inquisitor auf die Frage des Sekretärs: "Welche Schritte sollen eingeleitet werden?" "Keine" (164). Später stellt sich heraus, der Inquisitor vertraute der Tatsache, dass die Protagonisten das Heilige Offizium so sehr verinnerlicht hatten, dass eine "Einleitung von Schritten" nicht nötig war. Nicht nur Calisto und Melibea sterben am Ende des Stückes, sondern auch Calistos Diener Sempronio und Parmeno sowie, durch Raubmord, Celestina. Sie hatte, ebenso wie bei Rojas, das von Calisto für das Kuppelgeschäft erhaltene Gold mit den Dienern nicht teilen wollen. Die aber werden erwischt und für das Verbrechen öffentlich hingerichtet.

In der zweiten Inquisitionsszene gegen Ende des vierten Aktes lässt der Inquisitor die Akten der fünf Personen, die am Ende des Stückes sterben werden, aber zu diesem Zeitpunkt noch am Leben sind, "in die Ablage für verstorbene Personen" (194) bringen - in anderen Worten, das Heilige Offizium hat beim Tod der fünf wichtigsten Protagonisten des Stückes die Hand im Spiel, obwohl es sie sichtlich gar nicht im Spiel hat. Ohne Zweifel, die Hinzufügung dieser Orwellschen Dimension und mit ihr "the sombre mood of the production" (Snow 83) war es, die Bahner hauptsächlich davon Abstand nehmen ließ, auf dem Ersten Internationalen Celestina-Kongress in Spanien Mickels Neufassung des Textes und die Aufführung am Berliner Ensemble auch nur zu erwähnen.

Da spaziert der DDR-Dienstreisende in Barcelona durch die berühmten Ramblas, fotografiert die Häuser Antonio Gaudís, schnuppert an der Hafenluft. Und wenn ich nun, mag er denken, einfach die Überschrift ändere: "Die Celestina am Theater in Weimar?" Nur, dann müsste ich auch im Vortrag jedesmal, wenn es heißt "en la versión teatral alemana" (488), sagen: "in der Weimarer Aufführung". Und dann fragte sicher einer: Welche anderen Aufführungen der Celestina gab es noch in der DDR?

Christoph Rodiek zeigte bereits, wie die Inquisition bei Mickel, obwohl sie "[r]ealiter [nichts] tut" (168), wirkt: sie "agiert [...] in der Sprache" (168). Als Sempronio den Raubmord an Celestina plant, weil sie den von Calisto bezahlten hohen Betrag nicht teilen möchte, macht er Sempronio gegenüber den Vorschlag, das 'Inquisitionsspiel' zu spielen:

Weißt du was: wir nehmen einen Strick
Binden Celestina an den Schemel
Und den Schemel rücken wir ans Feuer.
Inquisition. Und schleunigst teilt die ehrlich: (179)

Rodiek schlussfolgert aus dieser Szene zu Recht: "Mickel komplettiert hier die Charakterzeichnung des Originals. Daß Sempronio das Zeug zum Verbrecher hat - so gibt der Autor seinem Publikum zu verstehen - ist auch Folge der 'verinnerlichten' Inquisition." (168)

Es bleibt festzuhalten: Mickel aktualisiert Rojas Text. Gleichzeitig trägt seine Einfügung der Inquisitionsproblematik in die Tragikomödie auch zur genaueren Bildbeschreibung Spaniens im 15. und 16. Jahrhundert bei. Rojas war Converso, d.h. ein zum Christentum konvertierter Jude. Nach der Judenvertreibung 1492 hatten jüdische Familien, die in Spanien bleiben wollten, keine andere Wahl, als zum Christentum überzutreten - ein Akt, der von den alteingesessenen Christen nicht ohne Skepsis beobachtet wurde. Stephen Gilman zeichnet in seinem Aufsehen erregenden Buch The Spain of Fernando de Rojas anhand von Inquisitionsakten (etwa über den Prozess gegen Rojas Schwiegervater Alvaro de Montealbán) detailliert die politischen Umstände nach, unter denen die Conversos lebten:

Suspicious of each other, suspected by everybody else, the conversos lived in a world in which no human relationship could be counted on, in which a single unpremediated sentence could bring unutterable humiliation and unbearable torture. In was a world in which one had constantly to observe oneself from an alien point of view, that of the watchers from without. It was a world of simulation and camouflage interrupted by outbursts of irrepressible authenticity, of commonplace repitition broken by sudden "originality," of neutral masks removed to reveal grimacing faces and harsh voices of dissent. (104)

Unter diesen Umständen wäre es für Rojas bei Todesstrafe unmöglich gewesen, das Thema des unausgesetzten Überwachtwerdens im Text anzusprechen. Allein im Schlussmonolog Pleberios, Melibeas Vater, bricht, wie Gilman zeigt, mit markerschütternder Gewalt der unsägliche Jammer über das Universum, das "out of joint, unconcerned, chaotic, senselessly hostile" (375) ist, hervor. An die "Welt" gerichtet, klagt Pleberio:

Yo pensava en mi más tierna edad que eras veraz y eran tus hechos regidos por alguna orden; agora, visto el pro y la contra de tus bienandanças, me pareces un laberinto de errores, un desierto espantable, una morada de fieras, juego de ombres que andan en corro, laguna llena de cieno, región llena de espinas, monte alto, campo pedregoso, prado lleno de serpientes, uerto florido y sin fruto, fuente de cuidados, río de lágrimas, mar de miserias, trabajo sin provecho, dulce ponçoña, vana esperança, falsa alegría, verdadero dolor. (Rojas 263-4)

Karl Mickel, der Pathos scheut, reduziert Pleberios Monolog auf die nüchterne Feststellung, es wäre besser gewesen, nie geboren worden zu sein. Seine Bearbeitung der Celestina klingt, vom Original abweichend, damit aus, dass alles weiter seinen Gang geht: Elicia, vor dem Celestinas Angestellte und Lehrling, übernimmt deren Hütte samt Hexenküche und Amt.

Werner Bahner gibt zu: "Los autores[4] de La Celestina tienen un concepto pesimista de su mundo" (488). Der Vortragsreisende erklärt diesen Pessimismus als Folge des Übergangs von der feudalen zur kapitalistischen Gesellschaft, der mit einem Verfall der traditionellen Werte einherging. "El egoísmo y el deseo de placeres mundanos son los resortes que estimulan la codicia en aquella sociedad." (488) Um den Pessimismus zu durchbrechen, sei deshalb in der Aufführung in Weimar die positive Entwicklung der Figur Melibeas hervorgehoben worden, die mit ihrer leidenschaftlichen Liebe zu Calisto alle Konventionen der Gesellschaft für den Umgang von Frau und Mann zerbreche. Tatsächlich ist das Verhalten Melibeas, selbst wenn man "treu" dem ursprünglichen Text folgt, offen für die unterschiedlichsten Interpretationen auf der Bühne. Zunächst mag Melibea Calisto nicht, weist sein Werben barsch ab. Der Abgewiesene wendet sich um Hilfe an Celestina, und die "behext" dann Melibea während eines Gesprächs mit der Folge, dass Melbea vor "Liebe" nach Calisto entbrennt. In der Weimarer Aufführung, so Bahner, "[e]l conjuro de Celestina no tenía más objeto que una función auxiliar" (488). D.h. Hexerei oder nicht, Melibea verliebe sich wirklich in Calisto, und mit Hilfe dieser Liebe finde sie dann ihre Individualität und die Kraft, um die sozialen Konventionen zu überwinden "que se oponen a su afán de felicidad" (488).

In Karl Mickels Celestina-Interpretation dagegen bleibt es unwichtig, aus welchen Gründen Melibea Calisto auf einmal - ohne zu heiraten - um alles in der Welt will. Eine positive Entwicklung dieser Figur wird nicht betont. Wer sich jedoch im Laufe des Stückes "entwickelt", um bei Bahners Vokabular zu bleiben, ist Calisto. Denn im Unterschied zu Rojas Text stellt sich durch einen Fund alter Briefe heraus, dass er der Bruder seines Dieners Pármenos ist; seine Mutter hatte Ehebruch begangen. Das ermöglicht Mickel zum einen, die Zeitumstände am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts noch genauer auszumalen -- Pármenos Vater nahm an der Entdeckung Amerikas teil, Mickel beschreibt nähere Umstände dieses Unternehmens. Und zum anderen ermöglicht es dem Autor, in Calisto eine Identitätskrise auszulösen, die ihn schließlich über seinen eigenen Schatten, d.h. seinen Dünkel als Aristokrat reiner Abstammung, springen lässt:

[...] ich mir einbilden
Ich bin was Bessres? Adel oder Pöbel
Spanier Mohr Indianer, Henker Hexe
Was miteinander Junge machen kann
Alles ist eins. (202-3)

Das auf diese Weise von Karl Mickel veränderte Stück hätte viel eher der von Bahner geforderten sozialistischen Erbeaneignung entsprochen, die, wie dieser selbst sagt, von einer "actitud crítica y creadora" (485) geprägt sein soll.

Mickels Celestina-Bearbeitung mit ihrer Orwellschen Dimension hatte am Sylvesterabend 1974 Premiere, d.h. etwa drei Jahre nach dem Sturz Walter Ulbrichts auf dem 8. Parteitag der SED -- eine Zeit des relativen kulturpolitischen Tauwetters in der DDR. 1972 waren Heiner Müllers umstrittene Macbeth-Bearbeitung und Ulrich Plenzdorfs kritisches Stück Die neuen Leiden des jungen W. aufgeführt worden. Wie Ursula Heukenkamp zeigt, erschienen auch Mickels Gespenstergedichte, "Grimassen, wie sie unterdrückte Angst hervorbringt" (251) in dieser Zeit. 1977, ein Jahr nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns, als Bahner nach Barcelona reiste, um über die Celestina-Rezeption am Theater der DDR zu berichten, war die Toleranz beendet. Wolfgang Emmerich hält über diese Zeit fest:

Jetzt wendeten die zuständigen Parteigremien und Staatsorgane ein gestaffeltes Instrumentarium von Sanktionen an, das von Verhaftung und Hausarrest über Organisationsausschluß, Parteistrafen und Publikationsverbot bis zur bemerkenswert raschen Bewilligung von Ausreiseanträgen (aber nur für unbequeme Intellektuelle) reichte (255).

Unter diesen Umständen ist es nicht verwunderlich, dass Mickels Text Celestina oder Die Tragikomödie von Calisto und Melibea nicht vor 1980 in der DDR gedruckt wurde[5]. Von der DDR-Literaturwissenschaft mit Aufmerksamkeit bedacht wurde die Arbeit 1985 durch die Initiative Ursula und Rudolf Heukenkamps. Beide Autoren betonen die Wichtigkeit der Einführung der Inquisition in Rojas Celestina: "eine Inquisition, die allem freie Hand lässt, weil sie jedes Hand führt" (160-1), streiten jedoch im gleichen Atemzug die Aktualität des Stückes ab: "Um eine Kostüm-Verfremdung gegenwärtiger Vorgänge handelt es sich [...] nicht" (161).

Friedrich Dieckmann fand ein treffendes Bild für die Schwankungen in der DDR-Kulturpolitik, die auch Mickels Arbeit nachhaltig beeinflusst haben:

Die Frühphase der Honecker-Ära unterstand dem Phänomen der aufgehenden Schraube, die der angezogenen Schraube so gesetzmäßig folgte, wie diese zuvor der aufgedrehten gefolgt war, bis am Ende, und das war völlig gesetzwidrig, Schraube und Mutter jede Fühlung verloren (686).

Um zusammenzufassen, Karl Mickel ändert in seiner Celestina-Bearbeitung von 1974 das spanische Original aus dem Jahre 1499 nicht nur stilistisch, sondern auch inhaltlich. Dabei ist die wichtigste Änderung, nicht "Fortuna [die Glücksgöttin, G.E.] durchkreuzt die menschlichen Handlungspläne" (Gimber 14) und verursacht den Tod der wichtigsten Protagonisten, sondern das Heilige Offizium, die Inquisition. Mit dieser Spezifizierung verstärkt der Autor den bei Rojas bereits angelegten tiefen Pessimismus der Tragikomödie.

Anmerkungen

1 Wie Otis H. Green zeigte, wurde Rojas Celestina erst 1640 auf den Index gesetzt, nicht, weil die Inquisition (1485 eingeführt) nichts am Text zu beanstanden gehabt hätte, sondern, weil sie sich bis etwa zur Mitte des sechzehnten Jahrhunderts noch nicht für die Zensur von Büchern interessierte (Green 212). Bis zum Zeitpunkt der Zensur waren mehr als sechzig Ausgaben der Celestina erschienen, d.h. der Text war ein Bestseller in Spanien. Dazu Übersetzungen ins Italienische, Französische, Holländische, Deutsche und Hebräische. Die erste deutsche Ausgabe der Celestina (übersetzt von Christof Wirsung) erschien schon 1520.

2 Bahners Urteil bezieht sich auf die Celestina-Übersetzung von Egon Hartmann und Fritz Rudorf Fries, Celestina. Tragikomödie von Calisto und Melibea. (Leipzig: Dieterich, 1959). Rodiek zufolge folgt Mickels Celestina-Adaption zunächst der Hartmann/Fries Übersetzung und bewege sich erst ab dem 3. Akt von ihm weg (168) -- Dies trifft nur inhaltlich zu. Sprachlich verschärft Mickel den bei Hartmann und Fries schon angelegten Lakonismus.

3 Genau heißt es bei Mickel: "Warst du in der Sache unterwegs?" Die Wahl des Ausdrucks die "Sache" für eines von Celestinas Kuppelgeschäften ist ohne Zweifel eine ironische Anspielung auf den ideologischen Gebrauch des Wortes im Funktionärsdeutsch der DDR. In Helga Königsdorfs Roman Im Schatten des Regenbogens etwa erinnert sich die Protagonistin Alice an ihren Parteieintritt in die SED auf die folgende Weise: "Als ihr der Alte damals die Hand gedrückt hatte, erlebte sie einen Moment tiefer religiöser Hingabe. Sie spürte, dass es noch eine höhere Liebe gab als die Liebe zwischen Mann und Frau. Die Liebe zur Sache. Was das auch immer war" (86, Hervorhebung von mir). Wie Gilman zeigt, bestand auch Rojas Reaktion auf Zustände, an denen er nichts ändern konnte, darin "to convert [...] his resentment into irony" (106). Ein gutes Beispiel ist Sempronios berühmter Kommentar im dritten Akt über die alles nivellierende Wirkung der Zeit, in dem er die berühmte Rückeroberung Granadas von den Muselmanen durch die katholischen Könige mit lapidaren Ereignissen wie, dass ein x-beliebiger Christoph sich besoff, aneinanderreiht: "To have treated it merely as one more news item in the senseless course of daily history has a kind of ironic glee about it that clearly corresponds to a feeling of venganza." (141)

4 Der Plural ist hier gerechtfertigt, weil der erste Akt der Celestina von einem unbekannten Autor geschrieben wurde. Rojas, Student in Salamanca, entdeckte das Fragment und fügte die restlichen zwanzig Akte hinzu.

5 Siehe Neue Deutsche Literatur 28 (1980): 5-51.

Bibliographie

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Emmerich, Wolfgang. Kleine Literaturgeschichte der DDR. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1996.

Gilman, Stephen. The Spain of Fernando de Rojas: The Intellectual and Social Landscape of La Celestina. Princeton: Princeton UP, 1972.

Gimber, Arno. Der Zuhälter als komische Figur in der Literatur der spanischen Renaissance und des beginnenden Barockzeitalters. Geneve: Libraire Droz S.A., 1995.

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Lacarra Lanz, Eukene. "El Erotismo en la Relación de Calisto y Melibea." Pilar Carrasco. (Ed.) El Mundo como Contienda: Estudios sobre la Celestina. Málaga: U of Málaga Press, 2000: 127-45.

Mickel, Karl. "Celestina oder Die Tragikomödie von Calisto und Melibea." Schriften 3: Halsgericht. Leipzig: Mitteldeutscher Verlag, 1993.

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