a peer reviewed scholarly journal on literature and art in the German speaking countries after 1945

ISSN 1093-6025

published at

Dickinson College
Carlisle, PA

 
G l o s s e n: Artikel

"Alle Fantasie ernährt sich von der Realität" -- Wladimir Kaminer und die interkulturelle deutsche Ethno-Szene"
Dagmar Wienroeder-Skinner

Einige Kurznotizen zur Biographie von Wladimir Kaminer seien vorangestellt. Der Autor wurde 1967 in Moskau geboren, absolvierte dort eine Ausbildung zum Toningenieur und studierte Theaterwissenschaften. 1990 wird er Wahl-Berliner, lernt innerhalb kurzer Zeit Deutsch, und kommentiert dazu: "Das kam vom Kopf [... und nicht vom Herzen]. Ich wollte, dass meine Geschichten gelesen werden." [1] In der Tat wird er mit den Geschichten, die er in deutscher Sprache schreibt, in kürzester Zeit sehr populär. Seit dem Debüt-Hit Russendisko aus dem Jahre 2000 gibt es bis 2003 fünf weitere Bücher des jungen Shooting Stars aus Russland: Schönhauser Allee (2001), Militärmusik (2001), Die Reise nach Trulala (2002), Helden des Alltags (2002), Mein deutsches Dschungelbuch (2003), und dazu kommt die von ihm editierte Anthologie Frische Goldjungs (2001). [2] In den Rezensionen wird er vorrangig mit grossem Lob überschüttet und ist inzwischen zum Bestseller-Autor aufgestiegen. [3] Zusätzlich schreibt er für verschiedene Tages- und Wochenzeitungen (seinen Erfolg bezeichnend für unterschiedliche Blätter wie FAZ, taz, Zeit, u. v. a.). Er präsentiert im "ZDF-Morgenmagazin" ausgewählte Orte von besonderem Interesse in Berlin, moderiert regelmässig die SFB-Radiosendung "Multi-Kulti" und agiert häufig im (n)ostalgischen "Kaffee Burger" in der Berliner Torstrasse als DJ für die von ihm initiierte und inzwischen legendär gewordene "Russendisko". [4]

Zur persönlichen Schreibmotivation erklärt der Autor schlicht: "Ich bin aus Zufall Schriftsteller geworden." Er erklärt diesen Zufall durch Freude an der Sache an sich: "Ich schreibe aus Spass. Es ist meine Art, mit dem Leben klarzukommen." Auf die Frage, welche Bedeutung Literatur für ihn habe, meint er: "Indem man über das Leben schreibt, begreift man es besser und kann verborgene Bereiche öffnen." Mit dem Label "Alltagsbewältigungsprosa" kennzeichnet er seine Texte. [5] Auf die Frage nach der Funktion seiner Literatur antwortet Kaminer: "Für mich ist immer das Leben entscheidend" - aber beim Vergleich seiner Texte und denen der Literaturszene-Kollegen an der Berliner Schönhauser Allee mit den Texten gewisser Popliteraten, geht er entschieden auf Distanz: "Bei [mir und] meinen Kollegen handelt es sich in erster Linie um proletarisch erzogene Autoren, um solche, die nicht durch eine Wohlstandskindheit verdorben sind - ganz im Gegenteil zu einigen der heutigen Popliteraten. Während wir eine eher linke Position vertreten, verbindet diese eine konservative Gesinnung. Sie stehen für einen jungen Konservatismus, obwohl sie sich ja jeder politischen Aussage entziehen ... ." [6] Mit der eindeutigen Abgrenzung von materieller Saturiertheit und linker Position gibt der Autor sich also einen sozial gefärbten Anspruch, eine Bewusstseinsperspektive für sozial Benachteiligte. Dazu einige Beobachtungen zu Russendisko.

Der Ort ist die Metropole Berlin zu Beginn der 90er Jahre. Thematisch setzt der Autor auf Episoden des Aufbrechens und Ankommens. Seine männlichen und weiblichen Protagonisten verlassen ihre (zumeist) östliche Heimat, um in Richtung Westen zu starten und sich dort niederzulassen. Der Autor begleitet sie auf ihren kürzeren und längeren Reisen innerhalb des neuen kulturellen Umfeldes, er zeichnet ihre Schwierigkeiten des Überlebens und des sich Etablierens und porträtiert häufig Charaktere in aussergewöhnlichen Umständen, kurz, der Autor lässt dem Lesepublikum Menschen nahe rücken, die mehr oder weniger verzweifelt versuchen, das Überleben im Alltag zu üben. Man trifft auf Erfolgreiche, Strauchelnde, Spieler und andere Wagemutige. Der Autor erzählt die Geschichten konsequent aus der Ich-Perspektive des Immigranten mit dem Blick von aussen, ironisch und humorvoll. Da die stets kurzen Texte auf humorvolle Auflösung angelegt sind, kann sich der linke, d. h. gesellschaftskritische Unterton, den der Autor für sich und seine schreibende Kollegen (in Distanzierung zu Texten von Pop-Literaten) einfordert, jedoch nicht halten. In der Geschichte "Die Mücken sind anderswo" beispielsweise vergleicht er das Leben in Moskau [wo die Mücken sind] mit dem in Berlin, wo er u. a. die irritierende Anwesenheit von Neonazis wohl kritisiert: "Natürlich hat Berlin auch Makel. Die Nazis zum Beispiel." Letztendlich erweist sich für ihn aber die nationale Ungebundenheit rechtsradikaler Aktivitäten, so dass es eigentlich unwichtig ist, ob man "in Russland, in Amerika, in Vietnam" sei. Der kontextuell ausschlaggebende Vorteil in Berlin zu wohnen ist: "Dafür ist es hier mückenfrei." An anderer Stelle betont er die historische Bedeutung Berlins, aber differenziert nicht zwischen politisch bedeutsamen und trivialen Geschehnissen, wenn er tiefgreifende Geschichtsumwälzungen und banalen Alltag in allzu dichten Zusammenhang bringt: "... der Mauerfall, die Wiedervereinigung, die Schliessung des Kasinos am Europa-Center ... ." Häufig reduziert (wie hier) die Effekt heischende Kommentierung den Text zu einer Pointe ohne Tiefgang mittels ihrer unmittelbarern ironischen Brechung.

Ähnliches gilt für die multikulturelle Kommentierung, von der man sich aufgrund der Immigranten-Erfahrungen des Autors mehr Details erhoffen könnte. Probleme werden angedeutet, um anschliessend mit einem ironisch-humorvollen, oft nichtssagendem Kommentar dekonstruiert zu werden. Dazu aus Russendisko die Geschichte "Suleyman + Salierei." Hier führt eine Art interkultureller Kooperation in Berlin zwischen Ausländern aus verschiedenenen ethnischen Regionen zu zwischenmenschlicher Solidarität in einer juristisch leicht prekären Lage: Ein Türke hilft einem Russen vor dem polizeilichen Zugriff, als letzterer Amok durch Berlin fährt und dabei des Türken Mercedes beschädigt. Die Medien berichten über diesen Vorfall und dazu kommentiert Kaminer: "So gibt eine Mediendebatte ganz nebenbei vielen Menschen die Chance, sich neu zu sehen, nicht als Türke oder Russe oder Äthiopier, sondern als ein Teil der grossen Ausländergemeinschaft in Deutschland, und das ist irgendwie toll." Eine Situation, die soziale Konflikte im Umfeld polizeilicher Macht problemlos auflösbar erscheinen lässt, da die Beteiligten die Gabe beherzigen, angesichts staatlicher Gewalt solidarisch miteinder umzugehen, wird auf das Vage und Ungefähre reduziert, eben "irgendwie toll." Eine ernsthaft-kritische Kommentierung ist nicht intendiert, denn dadurch würde der grundlegend wohlwollend-humorvolle Erzählton der Geschichten gebrochen. Die kurzen Texte demonstrieren Talent für die witzige Darstellung der Figuren sowie scheinbar grenzenlose Verständnisbereitschaft für menschliche Stärken und Schwächen. Manche dieser kleinen Episoden enden auch im Absurden, das der Autor einfach stehenlässt. Die Geschichte eines geflohenen russischen Fähnrichs beispielsweise, der nach mehreren gescheiterten Versuchen, eine Scheinehe zu arrangieren, um den Aufenthaltsstatus in Deutschland zu erkämpfen, allabendlich nun nur noch still in einer Diskothek in der Berliner Sophienstrasse steht, endet mit den Worten: "Wie er damit etwas erreichen will, verriet er mir nicht." [7]

Das vertraute Territorium Berlins verlässt der Autor mit seiner jüngsten Buchpublikation Mein deutsches Dschungelbuch (2003). Hier sieht er sich einer doppelten Fremdheit konfrontiert. Nicht nur betrachtet er Deutschland aus der Perspektive des Immigranten, sondern er ist auch Berliner (Immigrant) und Grossstädter, der sich mit den üblichen Vorurteilen des Stadtbewohners in die Provinz begibt. Der Autor war von "Hunderten von Buchläden, Kulturhäusern, Theatern und ländlichen Clubs" zu Lesungen aus der Erstpublikation Russendisko eingeladen worden. Während der Reisen stellt er fest, dass das Land "voller Geschichten" und demzufolge das Material für neue Publikationen in grosser Fülle gegeben ist.

Während seiner Lesungen im Westen Deutschlands zählt er es zu den Aufgaben, gegen das Vorurteil anzugehen, Russen erschienen vorzugsweise mit (roher) Gewalt. In "From Tübingen to Böblingen with Love" hatte, so der Autor "... die regionale Zeitung "Schwäbisches Tageblatt" ... das Ereignis bereits angekündigt, der Artikel begann mit den Worten: 'Der Russe kommt - das klingt für uns immer noch furchtbar.' Na hallo, dachte ich. Anscheinend hatten die Schwaben hier mit den Russen schlechte Erfahrungen gemacht - in den letzten 200 Jahren. Meine Geschichtskenntnisse liessen mich im Stich, trotzdem wollte ich auf jeden Fall versuchen, meine Landsleute bei der Lokalzeitung zu rehabilitieren. ... 'Gib einmal im Leben eine vorbildliche Russenfigur ab, das muss dir doch gelingen,' sagte ich zu mir selbst." [8] Das fröhliche Umher-Reisen durch deutsche Lande wird konsequent mit Heiterkeit und grosser Offenheit für die Denkweise der Kleinstädter kommentiert. In der FAZ begeistert sich der Rezensent über "... urkomische Dialoge und die Einsicht, dass womöglich ganz Deutschland Provinz sei und gar kein Zentrum besäße." [9] Die durchwegs kurz gehaltenen Geschichten in Dschungelbuch sind von unterschiedlicher Qualität. Einige schildern schlicht die Ankunft, Lesung und Abfahrt, während andere den stark ironisch-lakonischen Ansatz enthalten, für den der Autor gerühmt und berühmt wurde. Falls angelegentlich ein Kürzest-Exkurs in deutsche Sozialkritik unternommen wird, geschieht das in sanftem Ton. Während einer Lesereise im Ruhrgebiet mokiert sich der Autor zunächst über die Quadrat-Malkunst eines ältelnden Künstlers, die er nicht versäumt - vermutlich das Vergleichende suchend - mit der des russischen Malers Kasimir Malewitsch zu vergleichen, um anschliessend den einzig "noch real existierende[n] Untergrund der alten Generation der 68er-Bewegung im Ruhrgebiet," d. h. deren Versammlungsstätte in einem winzigen Häuschen zu karikiieren. Hier veranstalten überalterte 68er regelmässig Sammlungen für ein Helene-Demuth-Denkmal und gedenken der chilenischen Flüchtlinge, die nach Salvador Allendes Sturz in den 70er Jahren Chile verliessen. Dem Autor gelingt es, einen, die späten Ideologie-Träume kränzenden Schleier der Heiterkeit auf die Szene zu legen, alle Anwesenden sind sich nahe, und so kann der vor Lenins Büste platzierte und leicht frustrierte Autor für eine positive Atmosphäre sorgen. [10]

In jedem Fall liegt der bedeutsamere Moment für Wladimir Kaminer primär in der Begegnung mit dem Publikum selbst. Für ihn ist Literatur ein Gespräch, an dem sowohl der Autor als auch die Leser/innen interessiert sind. "Ich bin kein akademischer Schriftsteller und möchte mich nicht auf eine einzige literarische Form festlegen .... will die Distanz zwischen Leser und Autor verkürzen. Meine Geschichten sind meine Visitenkarte. Wie bei einer Einladung zum Gespräch oder zum Tanz soll der Partner erreicht werden. ... deshalb sind mir Lesungen wichtiger als meine Bücher. Es geht um Dialog, um Kontakt, um Nähe." [11]

Den Stoff für seine Literatur bezieht Wladimir Kaminer aus dem Alltag und aus realen Erlebnissen, die ihm selbst oder seinen Freunden widerfahren sind - oder die im erzählt werden, denn für ihn gilt das Diktum, "alle Fantasie ernährt sich von der Realität." Demzufolge verurteilt der Autor "Fiktion als Selbstbetrug" und als Zeichen "fehlender Offenheit für das Abenteuer um die Ecke". [12] Hinter diesen Ecken findet er die neuen Berliner aus vielen Ländern, wo andere Autoren sie bislang nicht suchten. Er skizziert ihre großen und kleinen Geheimnisse mit wohlwollender Akzeptanz. [13] Ebenso beobachtet er die Deutschen auf dem Lande und beschreibt sie, wie sie sich selbst nicht sehen. Sein frischer Blick von aussen zeigt Einsichten, die den Bewohnern nicht mehr bewusst oder längst abhanden gekommen sind. Er präsentiert die Mitmenschen in Deutschland keineswegs offensiv-kritisch, sondern erlaubt sich allenfalls eine beobachtende, wohlwollend anmutende Interpretierung der Verhältnisse. Seine Texte enthalten konsequent ein harmonisierendes Minimum an Witz und Humor und halten den verständnisvollen Blick für alles Menschliche offen. Das betrifft auch die (quasi) autobiographischen Texte in "Militärmusik" - einer Sammlung von mehreren Essays über Kaminers Jugend in Russland, in der der Autor Episoden aus dem Alltag in der spät-sozialistischen russischen Subkultur erzählt. Er belastet das Lesepublikum nicht mit Klagen über die Mangelwirtschaft oder die Unfreiheit der Bewegung, sondern demonstriert das schlitzohrige Erkämpfen von Vorteilen und das kluge Inszenieren von Überlebensstrategien in aussergewöhnlichen Situationen. Auch hier überwiegt das Positive: die meist vorzüglichen und stets unterhaltenden Erinnerungen an eine glückliche Kindheit und Jugend - trotz oder wegen Diktatur, Planwirtschaft und Abschottung nach innen. [14]

Wladimir Kaminers Erfolg ist aber nicht nur durch seinen Status als Kult-Autor zu verstehen. In den Medien wird er häufig als interkultureller Botschafter präsentiert, als "Iwan Rebroff der Literatur," der "bestehende Russenängste drastisch abbauen helfe und nachhaltig zur Völkerverständigung beitrage". [15] Ein wesentliches Erfolgselement seiner extensiven Lesereisen durch Deutschland bestätigt sich in der Rolle des Vorzeige-Russen, die er mit Bravour und spielerischer Überzeugung gern übernimmt. In der "Zeit" jubelt ein Rezensent: "Kaminer ist das wunderbarste Beispiel gelungener Integration: Er entdeckt Deutschland, und wir entdecken die russische Seele." [16] Hinter dem Phänomen Kaminer steht nicht nur das Bedürfnis eines in Deutschland lebenden Russen, sich erfolgreich zu artikulieren - und das der Deutschen, sich auf freundlich-wohlwollend-ironische Art wieder erkennen zu können. Hier zeigt sich auch die Wandlung des bislang eher von Angst geprägten Interesses der Deutschen für Russland und seine Einwohner. Die Zahl der in Deutschland lebenden Russen - Spätaussiedler, jüdische Kontingentflüchtlinge, legale und illegale Abenteurer - wird auf mehrere Millionen geschätzt. Wladimir Kaminer ist der 'gute Russe' und stellt damit die Alternative zu den anderen dar, den Russen, die eher noch Furcht einflössen, da sie ein Flair des Unbekannten mit sich tragen. Einst hatte diese Rolle Lew Kopelew, einer der prominentesten russischen Dissidenten in Deutschland und Freund Heinrich Bölls, inne. Er konnte in der Sowjetunion nicht weiter leben und fand in Deutschland politisches Asyl, Freunde und materielle Unterstützung. In der Spätphase des Kalten Krieges waren Kopelews Kommentare über seine Landsleute an die oft einseitig informierten Deutschen im Westen gerichtet. In dem für die Sowjetunion brüchigen Jahr 1990 dahingegen reiste Wladimir Kaminer aus purem Spass und Lust auf Bewegungsfreiheit nach Deutschland. [17] Er durchlief die üblichen Emigrantenstationen, um anschliessend eine Existenz aufzubauen. Ein wesentliches Element seiner Karriere im Westen liegt in den beschwichtigend gehaltenen Informationen über russische Idiosynkrasien begründet, denn etwaige Ängste vor dem ökonomisch und politisch immer näher kommenden Nachbarn sollen nun vorzugsweise abgebaut werden. Für dieses Vorhaben wurde er in den Medien ein gern gesehener Propagandist für die positiven Seiten des post-sowjetischen Russland.

Die deutsch geschriebenen Bücher des russischen Immigranten Wladimir Kaminer öffnen eine entspannte Welt, die das Skurrile und Aussergewöhnliche ihrer Menschen, deren Lebensumstände und Verhaltensweisen aufzeigt. Diese Welt wird mit Humor und Ironie arrangiert und präsentiert und grenzt zuweilen an das Absurde. Es ergibt sich aber auch eine angespannte Unruhe, denn der Leser/die Leserin wartet auf das Tiefere oder zumindest auf eine versuchte Tiefenreflexion. In der medialen Literaturrezeption scheint sie jedoch keineswegs notwendig zu sein, denn ihr Mangel tut der Popularität des Autors keinen Abbruch. Sein literarischer Erfolg ist auf zumeist kurzen humorvollen Texten begründet, die einen gewissen Grad an humanitärem Verständnis enthalten. Einmal wird Wladimir Kaminer in einem Interview auf die Oberflächlichkeit seiner Texte angesprochen. Aus seiner Perspektive sei das keineswegs kompliziert, entgegnet er, seine Texte seien nicht oberflächlich, sondern enthielten seine [Kaminers] Lebensweisheit: "Weisheit ist, trotz aller Umstände locker zu bleiben, das Leben zu nehmen, wie es ist, selbst weiterzukommen und anderen zu helfen weiterzukommen. Das ist schon die ganze Weisheit." [18] Locker bleiben und weiterkommen: das sind sicherlich zwei willkommene Ideale für das Überleben im Alltag - aber wohin führt dieser Weg? Das verrät uns der Autor nicht.

Das Schaffenspotential Wladimir Kaminers hat sich bislang als sehr beeindruckend erwiesen. In drei Jahren fand er die Zeit, sechs Bücher zu schreiben und eines herauszugeben. Nebenbei verantwortet er Kolumnen - mittlerweile gibt es kaum ein deutsches Feuilleton, das seine Texte nicht in Anspruch genommen hätte - er arbeitet für Rundfunk und Fernsehen, ist als DJ tätig und geht auf zahlreiche Lesereisen. Sein wesentlichster Verdienst besteht darin, dass er mit seinen Beobachtungen aus der Hauptstadt, später aus Deutschland und Teilen Europas - den fremden Blick auf das Vertraute gibt, in dem man sich wieder erkennen kann, ohne sich einer unfreundlichen und damit unerfreulichen Kritik ausgesetzt zu sehen. [19] Des Weiteren besteht sein Verdienst darin, dass er die Feuilletons diverser deutscher Zeitungen durch witzige und skurille Geschichten aus dem Alltag auflockert. Schliesslich wurde er auch zu einer positiven Integrationsfigur zwischen (und für) Russland und Deutschland, indem er bereitwillig in die Rolle des optimistischen Kulturvermittlers schlüpfte. Letztendlich aber mutierte er erfolgreich zum "deutschen Schriftsteller". Während des Irak-Krieges im Frühjahr 2003 las er eine Woche lang in Goethe Instituten in den USA und verkündete fröhlich: "Privat bin ich Russe, von Beruf bin ich deutscher Schriftsteller. ... Ich fahre als Botschafter deutscher Kultur überall hin." Als er auf einer Vortragsreise nach St. Petersburg als "deutscher Schriftsteller" angekündigt wurde, gab man ihm dort Gelegenheit, auf die Frage zu antworten, ob er denn Russisch überhaupt verstünde. Seine Antwort lautete: "Die SU ist meine Heimat, Berlin mein Zuhause, Russisch meine Muttersprache, deutscher Schriftsteller mein Beruf." [20]

Unter den vielen Möglichkeiten, die Welt der Multi-Kulturen zu kommentieren, erarbeitete sich Wladimir Kaminer das Privileg, sich zugleich als Teilnehmer und Beobachter seines multi-ethnischen Umfeldes und dessen Bedingungen zu äussern. Da seine Beobachtungen nicht offensiv oder zynisch sind, sondern (generationsunabhängig ) unterhaltenden Charakter haben - und in deutscher Sprache verfasst und vorgetragen werden - findet er grosse Akzeptanz bei den Leser/innen seiner Texte und den Anhänger/innen in den Medien. Seine Kommentare und Kurzstellungnahmen, die keine tiefgreifend ausführlichen Analysen sein sollen, zielen ab auf das Angenehme, das Harmonische und das Humorvolle. Sein Textgenre ist auf Kurzprosa und Essays unterschiedlicher Länge konzentriert. Das lustige Geschichtenerzählen hat bislang sein loyales Lesepublikum fasziniert und es mag auch langzeitlich nicht an Stoff mangeln. In jedem Fall aber ist es gut zu wissen, dass Wladimir Kaminer den Typus des vieltalentierten, erfolgreichen und akzeptierten Immigranten verkörpert.


Anmerkungen

1 Wladimir Kaminer, Interview mit Joachim Kronbein, Der Spiegel 2 (2003) 6. Januar 2003
< http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,230050.html>.

2 Wladimir Kaminer, Russendisko (München: Wilhelm Goldmann, 2000). Wladimir Kaminer, Schönhauser Allee (München: Wilhelm Goldmann, 2001). Wladimir Kaminer, Militärmusik (München: Wilhelm Goldmann, 2001). Wladimir Kaminer, Frische
Goldjungs (München: Wilhelm Goldmann, 2001). Es handelt sich bei dem zuletzt genannten Buch um eine Textsammlung junger Berliner [allerdings ausschliesslich männlicher] Autoren. Wladimir Kaminer, Die Reise nach Trulala (München, Wilhelm Goldmann, 2002). Wladimir Kaminer, Helden des Alltags. Fotos von Helmut Höge. (München: Wilhelm Goldmann, 2002). Wladimir Kaminer, Mein deutsches Dschungelbuch (München: Wilhelm Goldmann, 2003).

3 "Wladimir Kaminer schreibt sich seit Mitte der 90er Jahre als Stimme der russischen Emigranten in die hiesigen [d. h. deutschen] Bestsellerlisten." Wladimir Kaminer, Interview mit Ulf Lippitz, Spiegel Online, 7. Oktober 2003 < http://www.spiegel.de/kultur/literatur/0,1518,druck-268606,00.html >.

4 Allgemeine Informationen zur "Russendisko" als Tanzveranstaltung im Berliner "Kaffee Burger" auch unter <www.russendisko.de>.

5 Henryk Broder, "Glücklich in der Russenzelle," Der Spiegel 38 (2000): 246-247; Wladimir Kaminer, Interview mit Burga Kalinowski, Junge Literatur Heft 10 (2000) < http://www.berliner-lesezeichen.de/lesezei/index.html >.

6 Wladimir Kaminer, Interview mit Karsten Herrmann, 2001, ohne Datum. < http://www.titel-magazin.de/kaminer.htm >.

7 Wladimir Kaminer, "Mücken sind anderswo," Russendisko. Dieses Zitat und alle folgenden Zitate nach der Taschenbuchausabe (München: Wilhelm Goldmann-Manhatten, 2002) 84-86. Kaminer, "Suleyman und Salieri, Russendisko, 72-74. Kaminer, "Fähnrichs Heirat," Russendisko, 54-57.

8 Wladimir Kaminer, "From Tübingen to Böblingen with Love," Mein deutsches Dschungelbuch, zitiert nach der 2. Auflage (München: Wilhelm Goldmann-Manhattan)26-30.

9 Schümer, Dirk. Frankfurter Allgemeine Zeitung. 29. Oktober 2003. Zitiert nach < http://www.perlentaucher.de/buch/15711.html >.

10 Kaminer, "Untergründler (Oberhausen)," Mein deutsches Dschungelbuch, 74-80.

11 Wladimir Kaminer, Interview mit Gatterburg/Traub, "Leser wie Tanzpartner bewegen."
Spiegel-Special 3 (2003): 69.

12 Wladimir Kaminer, Interview mit Karsten Herrmann, 2001, ohne Datum. < http://www.titel-magazin.de/kaminer.htm > .

13 Wladimir Kaminer, Russendisko (München: Wilhelm Goldmann, 2000), Wladimir Kaminer, Schönhauser Allee (München: Wilhelm Goldmann, 2001).

14 Wladimir Kaminer, Militärmusik (München: Wilhelm Goldmann, 2001).

15 Schümer, Dirk, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29. Oktober 2003. Zitiert nach < http://www.perlentaucher.de/buch/15711.html >.

16 Dieter Hildebrandt, "Ein Grüner radelt nach Sibirien," Die Zeit 47 (2002) < http://www.zeit.de/archiv/2002/47/L-Kaminer >.

17 Im Sommer 1990 ging in Moskau das Gerücht um, die DDR nähme eine gewisse Zahl von Juden aus der Sowjetunion auf. Auf Anraten seines Vaters reagierte der 22-jährige russisch-jüdische Wladimir Kaminer sofort mit der Ausreise aus Moskau und machte sich damit zum Mitglied der "fünften Emigrationswelle" des letzten Jahrhunderts. "Russen in Berlin," Russendisko (München: Goldmann-Manhattan, 2002) 9-18.

18 Wladimir Kaminer, Interview mit Daniela Weiland und Arnim Kratzert in {literatur +} Lesezeichen, München, Juni 2002, ohne Datum. < http://www.br online.de/kultur/literatur/lesezeichen/20020623/20020623_3.html>.

19 Zu Texten von (oft nicht) stattgefundenen Reisen: Wladimir Kaminer, Die Reise nach Trulala (München: Wilhelm Goldmann, 2002).

20 Wladimir Kaminer, Interview mit Gatterburg/Traub, "Leser wie Tanzpartner bewegen,"
Spiegel-Special 3 (2003): 68f.


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