a peer reviewed scholarly journal on literature and art in the German speaking countries after 1945

ISSN 1093-6025

published at

Dickinson College
Carlisle, PA

 
G l o s s e n: Rezensionen

Das andere deutsche Trauma: Vertreibung, Lager, Flucht
Martha Kent, Eine Porzellan-Scherbe im Graben, Frankfurt/M.: Scherz Verlag, 2003. 336 S
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Martha Kents Buch Eine Porzellan-Scherbe im Graben stellt einen Aspekt weitgehend unbekannt gebliebener Vergangenheit aus der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg vor, der gerade jetzt höchst aktuell ist. Seit einiger Zeit werden in den öffentlichen Medien verstärkt Elemente deutscher Geschichte debattiert, die bis vor kurzem zum großen Teil nur unterschwellig berührt oder gar nicht wahrgenommen wurden. Daß die deutsche Bevölkerung auch große Verluste erlitten und Leid erfahren hatte, wurde bisher gewissermaßen als Konsequenz eines verlorenen Krieges verbucht und als Sühne für die große Schuld am Holocaust in Rechnung gestellt. Nach der Devise „mitgefangen, mitgehangen“ wurden die eigenen Opfer dem Gang der Welt zugeordnet und und stillschweigend weggesteckt. Es war nun so, daß die meisten Deutschen—ob sie nun am Naziunwesen teilhatten oder nicht—nach Kriegsende den Blick zurück auch deshalb nicht wagen wollten, weil beim Wiederaufbau eine Beschäftigung mit den vergangenen deprimierenden persönlichen Erlebnissen die Tatkraft zu schwächen drohte. Ein Blick in die Zukunft erschien emotionell ergiebig, eine Rückbesinnung hingegen lähmend. Das Trauma blieb unterdrückt. Das hat sich in letzter Zeit geändert, und Martha Kents Buch gehört zu den Veröffentlichungen, die an die Leiden der Deutschen erinnern.

Die Schuld am Holocaust hingegen erfuhr bekanntlich schon seit den 70er Jahren eine intensive Aufarbeitung. Der hier gewünschte Schlußstrich, der seit Ende der 90er Jahre gezogen werden sollte, diente nach Meinung einiger Prominenter der Abschaffung der sogenannten Moralkeule (wie Martin Walser es nannte), die eine neue Generation ernsthaft behindere. Es wird die Frage in die Debatte eingeworfen, ob es für die deutsche Nation angebracht sei, sich plötzlich auf ihre Opferrolle zu besinnen, und dadurch quasi von einer historischen Schuld abzulenken, bzw. ähnliche Schuld auch anderweitig zu lokalisieren, um die eigene zu relativieren. Dazu werden Stimmen besonders der jüngeren Generation laut, die diese Art Aufrechnung als zu einseitig sehen, denn langsam kämen unbekannte Einzelheiten aus der Kriegs- und Nachkriegszeit ans Licht, die Beachtung finden sollten. Die Kinder und Enkel verlangen nunmehr nicht allein Antworten auf die Schuldfrage der Väter, sondern auch eine Erklärung der Leiden der Familien, deren Konsequenzen sich erst mit der Zeit manifestierten, und von denen auch sie betroffen sind.

Die verheerenden Folgen von Luftangriffen auf Deutschland und die Vertreibung aus der östlichen Heimat werden auf menschheitsrechtlicher Basis in Frage gestellt. Es wird dabei anerkannt, daß Nazideutschland zuerst in England mit Bombenangriffen und in Polen mit Vertreibungen angefangen hatte, und daß diese Taten zu recht verurteilt werden. Aber es wird auch gefragt, ob die Massenvernichtung der deutschen zivilen Bevölkerung grundsätzlich zu rechtfertigen sei. Etwas scheint nicht in Ordnung zu sein, wenn noch heutzutage einige der alliierten Mächte in ihren Ländern bei den alljährlichen Gedenkfeiern zum Beispiel die Männer, die in Bombenflugzeugen gegen Deutschland flogen, als Helden und Retter der freien Welt feiern, aber nicht daran erinnern, dass ein Großteil der deutschen Opfer im Zweiten Weltkrieg aus der Zivilbevölkerung, aus Frauen und Kindern bestand, die Leben, Gesundheit, Heim und Besitz verloren, ohne eine Kriegsschuld zu haben. Erst Ende der neunziger Jahre hat z.B. W.G. Sebald als einer der Ersten Informationen über das erschreckende Ausmaß des Bombenkrieges wirksam publik gemacht (zuerst in einem viel beachteten Spiegel-Artikel, 3/1998). Sodann erschien Jörg Friedrich’s Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940-1945, Propyläen Verlag, München, 2002), in dem Hundertausende von Frauen und Kinder umkamen. Erst Anfang des neuen Milleniums hat u.a. Guido Knopp eine Studie über die Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten herausgebracht (Die große Flucht, Econ, 2001), und nunmehr erschien Peter Glotz, Die Vertreibung. Böhmen als Lehrstück (Ullstein, 2003). Als der Schriftsteller und Publizist Rafael Seligman vor kurzem bei einem Interview gefragt wurde, ob Jörg Friedrich’s Buch über das Leid deutscher Opfer im Bombenkrieg Tabus breche, antwortete er. „Keineswegs. Im Gegenteil erscheint es mir notwendig, jegliches menschliche Leid zu dokumentieren. ... Der Bombenkrieg gegen deutsche Städte hat den Zusammenbruch des Dritten Reiches nicht beschleunigt, er war daher ein Verbrechen. Mich stört es, wenn man solche Erkenntnisse nicht betonen „darf“. Natürlich dürfen wir!“ (Berliner Morgen, 30. Oktober 2003, S. 15).

Zu den Zwangsvertriebenen gehört auch Martha Kent, deren autobiographisches Buch kurz nach dem Kriege mit ihrer frühen Kindheit als Vertriebene aus einem polnischen Dorf und als Insassin eines Konzentrationslagers beginnt. Nicht Hitler, sondern die polnische Regierung ordnete diese Vertreibung an.

Die Autorin—jetzt US-Bürgerin in Phönix, Arizona, lebend—stellt sich die literarische Aufgabe, ihre frühen Erlebnisse von der Perspektive eines Kindes aus darzustellen, um sie so authentisch wie möglich beschreiben zu können. Der Antrieb zur Niederschrift war eine schwere Depression, die auf die traumatischen Verhältnisse in ihrer Kindheit zurückzuführen waren, und die sie zunächst in einer psychiatrischen Klinik zu kurieren suchte. Sie unternahm ein literarisches Experiment, das schon Christa Wolf in Kindheitsmuster Schwierigkeiten bereitete: Kann man sich in die Psyche des Kindes, das man einmal gewesen ist, hineinversetzen, ohne die Erlebnisse durch die Sicht, die man als Erwachsene entwickelt hat, zu verändern? Als Psychologin, die auch ein Studium in klinischer Neuropsychologie absolviert hatte und beruflich Patienten mit Kriegs- und Gefangenschaftstraumata behandelte, geht Martha Kent davon aus, daß ihre Erinnerungen eben anders sind als solche, die sie in bislang veröffentlichten Berichten älterer Lagerinsassen gelesen hatte. Für diese war das Lagerleben das Anormale, das gewalttätig Schreckliche gewesen; für sie als Kind jedoch das „Normale,“ da sie nichts anderes kannte. Im Rückblick macht sie zwei menschliche Grundbedürfnisse geltend, die einem Kind damals das Überleben ermöglichten: das Anknüpfen menschlicher Beziehungen, seien sie noch so knapp und selten, und die Freude an kleinen Dingen, wie z.B. die im Titel ihres Buches erwähnte Porzellanscherbe, die sie damals in einem Graben fand und sie durch ihre schöne Bemalung erfreute. Die Liebe zu einem anderen Menschen und die gegenseitige Zuwendung erachtet sie als lebensnotwendig. Im Kontrast hierzu bemerkt Ruth Klüger, die ihre Kindheit im Nazi-Konzentrationslager in ihrem Buch Weiter Leben. Eine Jugend (Wallstein Verlag 1992) beschreibt: „Doch in Auschwitz konnte die Liebe nicht retten und der Verstand auch nicht.“ (Klüger 128), weil dort gewissermaßen nur der Wahnsinn herrschte. Klüger war damals jedoch als Teenager in einem Alter, in dem sie wohl schon eine Erwachsenenperspektive, von der sich Kent absetzt, entwickelt hatte.

Die Autorin wird Anfang des 2. Weltkrieges geboren und lebt mit ihrer Familie in dem deutsch-polnischen Dorf Ulaski. Im Jahre 1945 müssen alle Deutschen diesen Ort verlassen, und werden zunächst als Gefangene auf eine Farm gebracht, wo die Eltern Zwangsarbeit verrichten müssen. Zwei Jahre danach, im Jahre 1947, kommt die Familie in das Konzentrationslager Potulice, wo das Kind—getrennt von ihren Eltern—Hunger, Gewalt und Schrecken erlebt. Zu der Zeit ist Martha sechs Jahre alt. Dieser Teil des Buches enthält die anschaulichsten und gelungensten Kapitel ihrer Autobiographie. Der Horror des Lagerlebens enthüllt sich in seiner Unmenschlichkeit, indem er lakonisch durch die vorurteilslosen Augen einer Sechsjährigen gefiltert wird, die nichts anderes kennt. Erst 1949 kommt die Familie wieder zusammen und kann nach Westdeutschland fliehen.

Als Kind ist Martha von ihrer Mutter geprägt, die den Familienzusammenhang, die Liebe der Eltern und Kinder über alles stellt. Als man Mutter und Kinder allein vertreiben will, insistiert sie, lieber mit ihren Kindern erschossen zu werden als ohne den Vater zu gehen. So besteht eine der ersten Erinnerungen der Autorin darin, an einer Mauer darauf zu warten, umgebracht zu werden. Sie wird nicht erschossen, aber schließlich doch von der Mutter getrennt und in einer Kinderbaracke untergebracht. Die Mutter, die im nahen Frauenlager eingeschlossen ist, darf sie nur am Sonntag besuchen. Weniger als ein Drittel des Buches ist dieser Zeit im Gefangenenlager gewidmet, die das Kind fürs Leben geprägt hat.

Kent versucht, die Nachwirkungen ihres Lebens im Lager aufzuspüren. Zunächst schildert sie das Leben der Familie als Flüchtinge in dem kleinen Ort Trutzhain in Hessen. Sie sind in einer primitiven Baracke untergebracht, in der ehemals Kriegsgefangene inhaftiert waren (das Stammlager IXa). Marthas Zeit in der Freiheit stellt sich für sie als schwerer heraus als das Leben in Haft. Von 1947 bis 1952 lernt das Flüchtlingskind, daß in der Freiheit eine andere Grausamkeit herrscht. Sie empfängt von ihren Lehrern unverdiente Schläge anstatt der erwarteten Zugehörigkeitsgesten, die ihr in Potulice das Überleben garantierten. Nur Einzelne, wie z.B. ein Lehrer, stärken ihr Selbstvertrauen etwas. Die wirtschaftliche Not bestärkt die Familie, nach Kanada auszuwandern. Dort lernt die nun Dreizehnjährige das Leben in der sogenannten Freiheit weiterhin fürchten. Sie erfährt als Schulkind, wie ideologische Meinungen verletzen können. Außerhalb der Familie spürt sie nichts von dem, was sie als Kind im Lager an Menschlichkeit auch von Fremden erfahren hatte. Es scheint, daß alle ausländischen Kinder, sie eingeschlossen, hier als potentielle Kriminelle, ja Mörder gelten. Die Argumentationen der Lehrer, die sich auf Staatsrecht und Gesetz und nicht so sehr auf Menschlichkeit beziehen, bestätigen ihr die Ausgrenzung. Sie ist die „Andere.“

Die Autorin ist Beispiel dafür, wie die Leidenserlebnisse nach dem Krieg Menschen geprägt haben—im positiven wie im negativen Sinne. Sie fragt sich, wie es kam, dass sie die lange Gefangenschaft so gut überstanden hatte und—im Gegensatz dazu—die folgende Freiheit so schwer ertragen konnte. Als Leser können wir ihre Entwicklung, auch wenn sie nicht immer reflektiert ist, mitverfolgen. Sie ist empfindlicher und aufmerksamer als es bei jungen Mädchen üblich ist, und sie entwickelt eine Antenne für Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft. Dazu wachsen ihre Energie und ihr Fleiß und das Bedürfnis, ihre Fähigkeiten zu beweisen. Ihre Familie kauft einen Bauernhof in Kanada und baut sich eine neue Existenz auf; doch sie entwächst bald diesem engen Milieu. Ihre liebevollste Beschreibung gilt Anekdoten über andere Immigrantinnen, die schwer arbeiten, um ihr Leben zu fristen. Durch Zufall und durch eigene Durchsetzungskraft gelingt es ihr, ein Studium anzufangen und in den USA ein Stipendium an einer Universität zu erhalten. Aber auch als Studentin ist sie weiterhin verunsichert. Dann scheint sie Glück zu haben—so ist es im Buch dargestellt, denn sie trifft einen sehr liebenswerten jungen Mann, den sie später heiratet und der immer noch ihr Ehemann ist. Das Studium schließt sie mit einem Doktorat in Psychologie ab und sie erhält einen Lehrauftrag an einem College in Neuengland. Dieser Teil des Buches ist den Schattenseiten des amerikanischen Universitätssystems und den paradoxen Machenschaften der akademischen Welt gewidmet, in der Erfolg in ihrem Fall das Scheitern nach sich zieht. Sie hält Abrechnung mit einem System, in dem sie trotz vieler Veröffentlichungen und gut finanzierter Forschungsprojekte keine Festanstellung erhält und ihren Beruf verlassen muß.

Nach einem Zusatzstudium in klinischer Neuropsychologie arbeitet sie mit Kriegsveteranen im Veterans Affairs Medical Center in Phoenix, Arizona. Die Schicksale, die ihr hier begegnen, locken ihre eigene unterdrückte Vergangenheit hervor, die verarbeitet werden will. Sie erlebt eine Krise, in der eine Verquickung von Alpträumen und Realität einen normalen Tagesablauf unmöglich macht. Sie schreibt: „Und dann war da dieses Schweigen, beinahe fünfzig Jahre Schweigen. Ich mußte Frieden mit dieser schwer faßbaren Last machen.“ (309) Erst als sie nach einer Therapie im Krankenhaus anfängt zu schreiben, kann sie langsam eine innere Ausgeglichenheit wieder herstellen. Und das Schreiben, so bemerkt sie, ließ ihren alten Schmerz verschwinden. „Beim Schreiben war ich in das vergangne Leid zurückgekehrt. Aber nicht mit dem Stress wie damals, sondern mit einer gegenteiligen Emotion – mit Empathie. Ich hatte die positive Beziehung zu anderen ... wiederhergestellt. Diese empathische Bindung half mir, Demütigungen zu ertragen.“ (278) Martha Kent entwickelt für sich eine Psychologie der Empathie. Sie nimmt gern Risiken zur Rettung anderer Menschen auf sich und gewinnt dabei erhöhte Bedeutung für ihr eigenes Leben.

Die Anstrengung der Wortfindung für diese Lebensbewältigung hat jedoch nicht nur therapeutische Wirkung. Martha Kent ist ein gutes Buch gelungen. Sie hat sich nicht einfach etwas von der Seele geschrieben, sondern sie legt ein beachtliches literarisches Talent zu Tage. Es ist keinesfalls der rein sachliche Bericht einer Wissenschaftlerin geworden, sondern der literarische Text einer Autorin, die erfolgreich mit der Sprache ringt, um etwas Unaussprechliches zu artikulieren. Die Sprache wandelt sich für sie in konkretes Erleben. Sie schreibt: „Ich kippte meine Wortschnipsel in kleine, verschließbare Butterbrottüten... Es gefiel mir, Worte freizusetzen, sie der Erde zurückzugeben, wo sie sich erneuern und Teil dessen werden konnten, dem sie begegneten.“ (300-301) Die Sprachfindung und -verteilung gibt ihr im Jahre 1998 auch den Mut zu einer Reise zurück nach Potulice zu einem Treffen mit deutschen Überlebenden aus diesem Lager und mit Mitgliedern der polnischen Bevölkerung, bei dem Monumente der Erinnerung für die Opfer beider Nationen eingeweiht werden. Somit gelingt es der Autorin, ein Buch zu verfassen, das ihr eigenes Trauma heilt und sich gegen den Haß stellt. Martha Kent bringt eine notwendige Erinnerung an die historische Zeit des Schreckens nach dem 2. Weltkrieg zurück, doch ohne Bitterkeit und Anschuldigungen, sondern mit einer Geste der Versöhnung.

Helga W. Kraft
University of Illinois at Chicago

 


copyright: Glossen, Oktober, 2004