a peer reviewed scholarly journal on literature and art in the German speaking countries after 1945

ISSN 1093-6025

published at

Dickinson College
Carlisle, PA

 
G l o s s e n: Rezension

Rosemarie Marschner, Das Bücherzimmer. Roman. München: Deutscher Taschenbuchverlag, 2004. 414 S.

Passend zum politischen Schwerpunktthema der Wiener Festwochen 2004 “Februar 1934 – Das Wörterbuch des Schweigens” erscheint im Buchhandel Rosemarie Marschners Roman Das Bücherzimmer, in dem es um die Selbstfindung einer Frau geht, deren Schicksal eng an die historischen Ereignisse in Linz, Oberösterreich, von 1933 bis 1938 gebunden ist. Die Protagonistin Marie Zweisam wird zur Augenzeugin der viertägigen bürgerkriegsartigen Auseinandersetzungen zwischen dem sozialdemokratischen Schutzbund und der groß-deutsch orientierten, konservativen und christlich-sozialen Heimwehr im Februar 1934. Sie berichtet über das Schicksal des Kommandanten des Schutzbundes Richard Bernaschek und des Schutzbündlers Anton Bulgari, die Konsequenzen der Nürnberger Rassengesetze von 1935, die Euphorie der Bevölkerung bei den Massenkundgebungen unmittelbar vor dem Anschluß im Jahre 1938 und dem Spatenstich zu den Hermann-Göring-Werken 1938, dem die Umsiedlungsaktion eines Wohngebietes folgte, um Platz für ein riesiges Hüttenwerk zu schaffen und somit den wirtschaftlichen Aufstieg der „Führerstadt Linz“ zu sichern. Obgleich fiktive Einzelschicksale Gefahr laufen, ins Triviale abzugleiten, gelingt Marschner ein neuer Beitrag zu einem weniger bekannten Stückchen Vergangenheit, den sogenannten “Opfern des Fortschritts”, die kurz nach ihrem „Ja“ bei der Volksabstimmung 1938 ihr Hab und Gut durch Zwangsumsiedlungen verloren. Marschner distanziert sich von der traditionellen Österreichkritik, die auf NS – Kontinuitäten im Nachkriegsösterreich beharrt, und berücksichtigt statt dessen Phänomene wie die Konsequenzen des Verbots der NSDAP in Österreich unter Bundeskanzler Engelbert Dollfuß und die Arbeiteraufstände 1934. Ob es ihr gelingt, einen wesentlichen Beitrag zum politischen Verständnis jener Epoche zu leisten, mag dahin gestellt sein. Sicher ist, daß sie es versteht, mit ihrem Panorama der Zeit und der Stadt, politisches Interesse zu wecken und für zahlreiche Denkanstöße zum Thema „Führerstadt Linz“ zu sorgen, wie beispielsweise die Ausbaupläne, die Adolf Hitler für die Stadt hatte, die er zu seinem Alterssitz machen wollte. Als weitere Lektüre seien unter anderem Gerhart Marckhgotts “Das Projekt 'Führerbibliothek’ in Linz“ (411 – 34) und Georg Wachas “Denkmale aus der NS – Zeit” (373 – 410) in dem Sammelband Entnazifizierung und Wiederaufbau in Linz (1996) empfohlen.

Den eigentümlichen Rahmen, den die Autorin dem Roman verpaßt, kann man sich eigentlich nur damit erklären, daß sie zeigen möchte, daß hinter jeder offiziellen Geschichte eine inoffizielle steckt, die der Nachwelt meist verborgen bleibt. Nicht die kometenhafte Karriere der Großmutter vom Dienstmädchen zur Starjournalistin oder ihr zweifelsohne prekäres Studium während des Zweiten Weltkriegs stehen im Mittelpunkt des Romans, sondern Marie Zweisams Kindheit, Jugend und erste Ehe. Ohne zu beschönigen und ohne jegliche Sentimentalität lernt somit der Enkel, der das Begräbnis der geschätzten Großmutter vorbereitet, eine ihm bislang unbekannte Seite der von ihm so verehrten Verwandten kennen.

Marie Zweisam, verehelichte Marie Janus und geschiedene Marie Zweisam mußte schnell lernen, erwachsen zu werden und stets neue Hürden zu meistern. Die alleinerziehende Mutter Mira, die sich weigerte, zur Engelmacherin zu gehen und zudem “in einem [ihrem] unbußfertigen Gemütszustand …niemals versucht hatte, die eigene Schande in eheliche Bahnen zu lenken” (26), setzte alles daran, daß ihre Tochter ein Leben in einer “geräumigeren Welt” (178) führen kann. Wie im Werbeslogan “In Linz beginnt’s” bietet sich Marie die vielversprechende Gelegenheit, “in den Dienst” bei einer wohlhabenden Linzer Familie zu gehen. Paradoxerweise ist dies tatsächlich ein erster Schritt zur Selbstständigkeit, denn im Bücherzimmer ihrer Dienstgeber in der Villa Horbach spielt sich ein tägliches Ritual ab: Marie muß dem pensionierten Notar sorgfältig markierte Artikel aus der Tagespresse vorlesen: “Und Marie las. Es war die schönste Stunde des Tages. Die einzige, in der sie sich bei dem Klang der eigenen Stimme ihrer selbst bewußt wurde. Sie hörte und fühlte sich selbst. Sie war sie selbst, auch wenn sie zu Anfang nur einen Bruchteil dessen verstand, was sie vortrug” (59). Obgleich dem Lesen keine Diskussion folgt, außer dem sporadischen Kommentar des Notars, liest Marie heimlich abends die Zeitung in der Mädchenkammer und bereichert ihr Leben mit einer weiteren Errungenschaft – einem Leseheftchen der Stadtbücherei Linz. Die Autodidaktin plädiert für ein intensives Beschäftigen mit Tagespolitik, um sich ein subtiles politisches Bewußtsein anzueignen, weg von den “Herz – Schmerz” Schlagzeilen der Lokalnachrichten. Klassisches Bildungsgut, und zwar William Shakespeares Der Sturm wurde der Mutter zum Verhängnis, die inspiriert durch die Liebesgeschichte von Ferdinand und Miranda ihrer eigenen Leidenschaft freien Lauf ließ. Lebenslängliche Verachtung war der Preis für ihren Fehltritt – ein Fehltritt, der wiederum die Partnerwahl der Tochter stark beeinflußte.

Die Zäsur in Maries Leben trat allerdings nicht durch die schicksalhaften Straßenschlachten und den Generalstreik 1934 ein, sondern durch den frühen Tod der Mutter und die unmittelbar folgende überstürzte Ehe mit dem Bäcker Franz Janus. Ihr bisheriges Außenseiterdasein als Kind einer alleinstehenden Mutter in der Dorfgemeinschaft sowie als Dienstmädchen in einer großbürgerlichen Familie tauschte sie nun gegen das “Bewußtwerden der Einseitigkeit und der Begrenzung auf das Eigene” (238) im Kleinbürgertum. Perfekt spielte Marie ihre Rolle als adrettes, tüchtiges Rädchen im Getriebe der Bäckerfamilie Janus, obwohl sie es allmählich leid war, in immer neue Rollen zu schlüpfen. In ihrer Ehe dominiert die ehrgeizige, gewinnsüchtige, statusbewußte Schwiegermutter, die über Leichen geht, um ihre Ambitionen durchzusetzen, ihren Geschäftssinn mit Mildtätigkeit kaschiert und sich voll und ganz der neuen Ideologie verschreibt, die an das Hakenkreuz glaubt. Marie hingegen bleibt eine Außenseiterin, nicht zuletzt wegen ihrer politischen Ansichten, die dem nationalsozialistischen Zeitgeist widersprechen.

Sehr anschaulich erfaßt Marschner das Bild jener Zeit: “den Untergang eines kleinen Staates, mit dem keiner mehr so richtig etwas anfangen konnte” (139), den Blick ins Nachbarland, wo Wohlstand und Ordnung herrschte und Arbeit für alle war, den Judenboykott, den “Rausch der Menge” (289), den Doppelselbstmord zweier Brotkunden (307), das Verbot der Ironie als jüdischer Eigenschaft (312), die Werbeslogans “Bis in den Tod – Rot – Weiß – Rot!” (288) gekontert vom Propagandafeldzug “Gemeinsames Blut gehört in ein gemeinsames Reich!” (289) sowie arisierte Geschäfte wie das bekannte Kaufhaus Kraus und Schober der Familie Weiß am Hauptplatz. Unwissend und unbefangen wird Marie auch Zeugin vom assimilierten Judentum, wenn sie beispielsweise bei Familie Ohnesorg “ein riesiges Gesteck aus Tannenreisig […], das um einen großen Leuchter drapiert war” (262) für einen zweiten Christbaum hält.

Marschners Bilder der Zeit ergeben auch ein eindrucksvolles Porträt der Stadt an der Donau und wirken als Kommentar zu Fritz Mayrhofers Bildband Linz in alten Fotografien. Der historische Bilderbogen reicht vom bunten Markttreiben am Hauptplatz, dem ehemaligen Franz-Josef-Platz und späteren Adolf-Hitler Platz, der geschäftigen Landstraße mit der „Tramway“, dem bewaffneten Widerstand am 12. Februar 1934 im Hotel Schiff (heutige SPÖ Landesparteizentrale), der wechselhaften Geschichte des Hotel Weinzinger, den Parkanlagen Hessenplatz und Volksgarten, über die Urfahraner Wäscherinnen zu den Bettlerautomaten und schließlich einem der Wahrzeichen der Stadt, dem Pöstlingberg.

Das dynamische Verhältnis zwischen Innen – und Außenwelt wird durch Kontraste wie Stadt – Land oder arm - reich definiert. Während man im heimatlichen Dorf die Außenwelt als Bedrohung und die Städter als Eindringlinge sah, die den Bauern Schmuck gegen Lebensmittel tauschten, lebte man in St. Peter nach draußen und schätzte die Nähe zur Stadt, aus der man Profit schlug. Als Dienstmädchen erlebte Marie, wie sich das Großbürgertum durch schattige Alleen vor “dem Geschrei der Straße” schützte. Konventionen und hohe soziale Kontrolle zeichnen ihr Heimatdorf in der Nähe von Wels aus, in dem jeder nach strikten Regeln zu leben hat. Andererseits gibt das Dorf auch Schutz, besonders in wirtschaftlicher Hinsicht, da hier im Winter niemand zu frieren braucht. Die Landeshauptstadt Linz hingegen bietet Anonymität und ermöglicht erste Gehversuche. Problemlos fügt sich Marie ins Stadtgefüge, sowohl als Dienstmädchen auf ihren Botengängen wie auch als elegant gekleidetes Mädchen an ihren freien Nachmittagen, ohne jedoch tatsächlich Zugang zur Stadt zu finden. Erst aus der Vogelperspektive vom Pöstlingberg ist sie von Linz entzückt, und richtig zu Hause fühlt sie sich, als sie mit dem Lieferwagen kreuz und quer in der Stadt Brotkunden beliefert. In die Großstadt Wien fährt sie zur Hochzeitsreise, zum Studium und um Karriere zu machen, bei der ihr schließlich als Journalistin die Außen(seiter)perspektive zugute kommt.

Der vielleicht interessanteste Teil des Romans beschäftigt sich mit dem Schicksal des idyllischen Dorfes St. Peter: Tür an Tür wohnen hier skrupellose Nutznießer des Regimes und der Rassengesetze, die sich an arisiertem Judenvermögen bereichern, wie Maries Schwiegermutter, und die “Opfer des Fortschritts”. Nachdem am 13. Mai 1938 der Spatenstich zu den Hermann-Göring-Werken stattgefunden hatte, begannen im Juni die ersten Umsiedlungen: “4500 Menschen sollten fortgeschickt werden, 946 Häuser niedergerissen. Ein junger Anwalt, noch keine dreißig, sei gekommen, ein gewisser Dr. Meissner…. Im Auftrag der Regierung kaufte er Haus um Haus” (353 - 54). Plötzlich stellen diese Familiendramen das Schicksal der in die Emigration gezwungenen jüdischen Familie Ohnesorg in den Schatten, die es sich ja angeblich im milden, sonnigen Klima gut gehen ließ. Auch für die geplanten Ersatzwohnungen auf dem Keferfeld am Stadtrand von Linz mußten prächtige Bauernhöfe enteignet und abgerissen werden. Wiederum bringt Marschner die offizielle Version der Geschichte ein: “Wer nicht an Ort und Stelle die Wahrheit erlebte, mußte glauben, am Rande von Linz würde ein Wunderwerk der Technik errichtet: auf Brachland, das nur darauf gewartet hatte, endlich im Sinne der Reichsbevölkerung genutzt zu werden” (403).

Der Roman liest sich gut und flüssig und verzichtet auf Schnörkel. Die strikte, konsequente Linearität wird nur in Ausnahmefällen durch Träume oder Erinnerungen unterbrochen. In einem dieser Träume begegnet Marie ihrem Vater, und wie in der Realität bei einer Dinnerparty im Hause Horbach, erkennt er die Tochter nicht. Auffallend sind die Dingsymbole als Bindeglieder zwischen Maries verschiedenen Welten. Die “Linzer Augen”, die Marie bei ihrem ersten Ausgang als Dienstmädchen im Schaufenster einer Konditorei entdeckt (38), erinnern sie sofort an das Dorf und an ihren Mentor, den Lehrer. Das generationsübergreifende Dingsymbol ist die Melodie “Schlaf, mein Liebling”, die der Geliebte der Mutter ins Ohr summte, die die Tochter für die Mutter kurz vor ihrem Tod im Radio spielt und die schließlich der Enkel summt. Diese Erinnerungen an eine frühere Welt treiben die Handlung förmlich voran. So als müßte man gewisse Lebensabschnitte noch einmal in der Erinnerung oder in der Phantasie durchspielen, um sich dann davon zu befreien, als könne man Schicht um Schicht einer Vergangenheit abtragen, um allmählich zu sich selbst zu kommen. Gleichzeitig bieten die Dingsymbole eine Alternative zu den kulinarischen und musikalischen Exportartikeln Österreichs, wie Sachertorte und Johann Strauß.

Marschner inszeniert einen wahren Reigen von Charakteren, um die verschiedenen politischen Positionen aufzuzeigen. Vertreten sind das weibliche NSDAP Mitglied (ihre Schwiegermutter), die Mitläufer (ihr Mann und ihr Schwiegervater, der sich darauf spezialisiert hat, Charakterzüge von Größe und Form der Ohrläppchen abzuleiten), die assimilierte jüdische Familie Ohnesorg, der pensionierte Notar (in der Familie ihrer Dienstherren), der die Ereignisse und Gefahren richtig einschätzt, aufgrund seines hohen Alters aber nichts dagegen unternimmt. Dennoch wirkt die breite Palette der Charaktere forciert, denn statt komplexer Entwicklungen stößt man allzu oft auf stereotypische Darstellungen, besonders bei den Frauen: Marie verliert nie den Hauch vom Aschenputtel als inkognito Prinzessin; das verwöhnte, höhere Töchterchen erklärt mit Stolz, kein Buch aufzuschlagen; die gnädige Frau Horbach hofft, daß radioaktive Schönheitssalben ihr ewige Jugend schenken und lebt ihren Frust in wilden Einkaufstouren aus; die ewig geächtete Mutter Maries wird erst wieder durch ihr Begräbnis in die Dorfgemeinschaft integriert; die plumpen Bauernmädchen unterdrücken ihr sexuelles Erwachen mit katholischer Keuschheit; Amalie, die ältere Wirtschafterin der Horbachs, zieht den Freitod dem Abgeschobenwerden aufs Land zu den Verwandten vor; Cäcilia wird wegen ihrer Unfruchtbarkeit verächtlich eine Steingeiß genannt.

Moral oder Anklage liegen dem Text ebenso fern wie spannende ästhetische Konstruktionen. Vielmehr erzählt die Autorin, wie es gewesen sein könnte. Interessant ist auch die Frage nach dem Titel Das Bücherzimmer. Würde denn der Roman im schnellen Medium der Zeitung von der Protagonistin selbst gelesen werden? Wenn Marie Joseph Roths Radetzkymarsch aus der Bücherei leiht, liegt der Vergleich zu monumentalen Zeitromanen wie Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften oder Heimito von Doderers Die Strudelhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre nahe. Rosemarie Marschners Das Bücherzimmer wird ihnen wohl kaum den Rang streitig machen. Dennoch schlägt man als aufmerksame Leserin das Buch zufrieden zu mit dem Gefühl, ein Stückchen jener Seite von Linz mitbekommen zu haben, die nicht allen bekannt sein dürfte, und (wie der Enkel im Roman) möchte man dann gerne mehr wissen.

Eva Kuttenberg
Pennsylvania State University, Behrend