a peer reviewed scholarly journal on literature and art in the German speaking countries after 1945

ISSN 1093-6025

published at

Dickinson College
Carlisle, PA

 
G l o s s e n: Artikel

Reinhard Jirgls Roman Die Unvollendeten -- Tabubruch oder späte Erinnerung?
Timm Menke

Der Untertitel "Tabubruch oder späte Erinnerung" stammt aus dem Programm einer Konferenz über "Deutsche als Opfer des Zweiten Weltkriegs?" im Sommer 2003 an der Gesamteuropäischen Akademie in Vlotho im Weserbergland. Dort wurde - außer über die Verbrechen der deutschen Nationalsozialisten - über das Schicksal der deutschen Ostflüchtlinge und der Vertriebenen diskutiert. Deutsche als Opfer des Zweiten Weltkriegs. Auf der Konferenz waren Fronten zu beobachten. Für die eine Streitpartei, die auf die Ungeheuerlichkeiten verwies, die wir mit dem Begriff "Auschwitz" bezeichnen, schien die deutsche Geschichte am 8. Mai 1945 zu enden, wohingegen für die Gegenpartei die wahre deutsche Geschichte erst 1945 beginnen wollte. Das waren die Vertreter des Bundes der Vertriebenen. Die beiden Lager standen sich unversöhnlich, nachgerade feindselig gegenüber und hatten offensichtliche Schwierigkeiten, die historischen Leiden der anderen Gruppe anzuerkennen, und in den Diskussionen wurde eine Tendenz zur Abwertung des fremden und Aufwertung des eigenen Erlittenen nur zu deutlich.

Die Vokabel von der angeblich befreienden "Streitkultur" der Deutschen entpuppte sich auf der Tagung eher als Demonstration für deutsche Rechthaberei und Kompromißlosigkeit. Man trennte sich unversöhnt.

Seit dem Erscheinen von Jörg Friedrichs Der Brand, W.G. Sebalds Luftkrieg und Literatur und Grass' Im Krebsgang ist in der gegenwärtigen deutschen Literatur das Thema der Leiden der deutschen Zivilbevölkerung im und nach dem Zweiten Weltkrieg unverhofft wieder in das Bewußtsein der deutschen Öffentlichkeit gerückt. Im Zentrum der Diskussion um eine unaufgearbeitete Vergangenheit steht die Frage nach der Legitimität ihrer Darstellung, ist doch der Weltkrieg und der Holocaust auf deutschem Boden gewachsen. Wäre nicht mit der Aufarbeitung der Leiden der deutschen Zivilbevölkerung indirekt eine Beschönigung der deutschen Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschlands verbunden? Müßte das nicht notwendig zu einer Verdrängung oder Relativierung der deutschen Verbrechen führen? In dieser moralischen Problematik bestand lange das historische Tabu.

Hatten noch die unmittelbar Betroffenen -- aus unbewußter Selbstzensur oder aus Angst, die originäre deutsche Täterschaft mit zur Sprache bringen zu müssen -- das Thema "Deutsche als Opfer des zweiten Weltkriegs" weitgehend tabuisiert, so traten im Jahr 2003 die Enkelkinder dieser Generation an, über das nahezu Unaussprechliche zu schreiben und einen Tabubruch zu wagen. Bücher von Autoren wie Tanja Dückers, Stephan Wackwitz, Reinhard Jirgl als auch das in diesem Jahr wieder aufgelegte Erinnerungsbuch von Anonyma (Eine Frau in Berlin) thematisieren die Leiden von Flüchtlingen, Ausgebombten, Heimatvertriebenen und Verschleppten.[1] Am eindringlichsten gelingt das Wagnis dem ostdeutschen Schriftsteller Reinhard Jirgl, der in seinem Roman ganz ohne Larmoyanz oder Revanchismus auskommt; sein Buch ist gleichfalls von einer literarischen und inhaltlichen Selbständigkeit, daß es auch nicht als bloße Antwort auf die Texte von Grass oder Friedrich gelesen zu werden braucht.

Der Autor, studierter Elektroingenieur und Ex-Beleuchter an der Ostberliner Volksbühne, der aus Zensurgründen bis zur Wende nur für die Schublade schreiben konnte, war Anfang der neunziger Jahre mit großen Romanen wie Abschied von den Feinden und Hundsnächte an die Öffentlichkeit getreten und schlug, so Helmut Böttiger, wie ein "versprengter Meteorit in die deutsche Literaturlandschaft ein".[2]

Mit den Unvollendeten ist ihm nun ein großer literarischer Wurf gelungen, in inhaltlicher sowie formalästhetischer Hinsicht. Iris Radisch hat den Roman in der ZEIT sogar als die überzeugendste Schilderung der deutschen Nachkriegszeit überhaupt bezeichnet. Zwar teile ich nicht ganz ihre Auffassung - an Arno Schmidt kommt in dieser Beziehung niemand vorbei -- doch ihr Lob für das Buch wird vom nahezu gesamten deutschen Feuilleton wiederholt und bestätigt.[3]

Inhaltlich schildert der Roman das Schicksal von drei Generationen alleinstehender Frauen aus einer Kleinstadt im Sudetenland, die, wie Hunderttausende mit ihnen, nach 1945 Opfer der sogenannten Wilden Vertreibungen durch tschechische Milizen wurden, deren Eigentum ersatzlos enteignet und unter der tschechischen Bevölkerung aufgeteilt wurde. Das Buch setzt ein mit dem offiziellen Befehl der neuen Machthaber an die deutschstämmige Bevölkerung, sich in dreißig Minuten mit höchstens acht Kilo Gepäck am Bahnhof einzufinden, wo sie auf völlig überfüllte Züge verfrachtet wird und eine Reise ins Ungewisse antreten muß: ohne Nahrung, Geld oder Rechte. Hier beginnt für die beiden Schwestern Hanna und Maria und ihre über siebzigjährige Mutter der Treck in deutsche Gebiete jenseits der tschechischen Grenze. Nach einer langen Irrfahrt über viele Stationen hinweg landen sie vorläufig auf einem Bauernhof in der sowjetischen Besatzungszone, wo die Ankömmlinge, verhungernd und von den Einheimischen gehaßt und verachtet, vom Gutsbesitzer als Halbsklaven ausgebeutet werden. Schon hier, sehr früh im Text, klingt das Leitmotiv des Romans an, sein heimliches anthropologisches Motto: "Einmal Flüchtling, immer Flüchtling" (zum letzten Mal S.223), und nach den Erfahrungen der Vertreibung gilt für die entrechteten Frauen die Einsicht, Menschen und Gemeinheit seien synonym (zuerst Maria, S.9). Nach weiteren Stationen auf ihrem Leidensweg, bei äußerster Armut, hausend in eiskalten unheizbaren Notunterkünften, landen sie im schlimmen Winter 1947 schließlich in einer Kleinstadt in der Altmark, wo die Schwester Hanna ironischerweise Arbeit bei der Bahn findet, dem Transportmittel ihrer Odyssee. Parallel zum täglichen Überlebenskampf wird -- und immer erzählperspektivisch versetzt -- das Schicksal von Hannas siebzehnjähriger Tochter Anna geschildert, die in einem tschechischen Zwangsarbeitslager in menschenunwürdigen Verhältnissen lebt, beim Transport von der Mutter getrennt wird, und der schließlich Wochen später unter höchster Lebensgefahr, unsäglichen Gefahren und Demütigungen illegal die Flucht über die tschechisch-deutsche Grenze gelingt.

Die Erlebnisse dieser Frauen bilden thematisch den Handlungskern der ersten zwei Buchteile. Anna, die Tochter, beginnt später eine Liebesaffäre mit einem blutjungen ehemaligen Waffen-SS-Mann, der wegen seiner Tätowierung um sein Leben fürchten muß und im Untergrund lebt, auf dem Schwarzen Markt sein Geld verdient. Mit ihm zusammen hat sie einen Sohn, der 1953 geboren wird, den Ich-Erzähler des dritten und letzten Kapitels des Romans. Dieser inzwischen knapp fünfzig Jahre alte Mann ist der letzte Überleben der Familie; er leidet an unheilbarem Magenkrebs und gibt sich in nächtlichen Briefen aus der Charité im Jahr 2002 Rechenschaft über sein eigenes und das gesellschaftliche Leben in der DDR vor und nach dem Fall der Mauer: "Alle längst tot, sie müssen nur noch sterben." Der resignative Grundton ist für den Erzähler das Fazit nicht nur seiner eigenen Existenz. So endet diese Familiengeschichte in bitterer Enttäuschung, existentieller Heimatlosigkeit und einem Gefühl ihrer Mitglieder, schon zu Lebzeiten gestorben zu sein. Jirgl zeigt die Frauen als letztes Strandgut des Krieges, als sekundäre Opfer einer deutschen Politik von Rassismus und Größenwahn; und selbst der Enkel wird noch Leidtragender im totalitären System der DDR, einem System, daß sich als Folge des nationalsozialistischen Wahnsinns etablieren konnte. Auch er und seine Zeitgenossen sind noch Opfer dieser Politik.

Vergessen wir aber nicht, daß der Zweite Weltkrieg von deutschem Boden ausging und daß der Rassismus der Nationalsozialisten von der überwiegenden Mehrheit der deutschen Bevölkerung unterstützt wurde, die bis wohl 1940 gegen die Kriegszüge Hitlers oder die Etablierung von Konzentrationslagern nicht viel einzuwenden hatte. Im Gegenteil hatten die Propaganda Goebbels und die pseudo-wirtschaftlichen Erfolge Hitlers ein erfolgreiches "brainwashing" der Deutschen zustandegebracht. Erst zu dem historischen Zeitpunkt, an dem sich herausstellt, daß "die eigene Täterschaft " im Bewußtsein der Deutschen verankert ist, wird es keinen Grund mehr geben, von einem Tabubruch bei der Darstellung der Leiden der deutschen Zivilbevölkerung zu sprechen.[4] Erst durch das aufgeklärte Bewußtsein der eigenen Verantwortlichkeit im historischen Gedächtnis der Deutschen kann die Erinnerung an die eigenen Opfer zurückkehren.

Was die Intensität der Leidensschilderungen im Roman anbelangt, so geht Jirgl in fast naturalistischer Manier vor. Er entwickelt eine Art Ästhetik des Schreckens, eine unter die Haut gehende Beschreibung von Angst und Grauen bei Menschen in Grenzsituationen, eine Ästhetik freilich, die weniger auf Karl-Heinz Bohrers Begrifflichkeiten zurückgeht, sondern eher an Artauds "Theater der Grausamkeit" erinnert oder an Texte des frühen Céline. So stürzt z.B. beim Abtransport der deutschen Bevölkerung durch die Stadt zum Bahnhof (ein erniedrigendes Spießrutenlaufen) eine graue Frauengestalt aus der Menge und reißt einer anderen aus Habgier die Ohrringe herunter, während das blutende Opfer vom Strom der Ausgewiesenen weitergetrieben wird; oder es wird einer Schlafenden auf dem Treck ruckartig der Finger gebrochen, damit der Dieb schneller an ihren Rubinring kommt; oder wie einer Frau, deren Haar bereits vom Feuer eines Bombenangriffes lodert, gewaltsam der Zugang zum Luftschutzkeller verwehrt wird, woraufhin die Insassen durch das offene Fenster zusehen, wie sie draußen verbrennt; oder das von Anna beobachtete, fast in völliger Stille stattfindende Massaker an SS-Männern, die auf einem Fußballfeld zusammengetrieben, erschlagen und anschließend dort verbrannt werden; oder wie sie, die siebzehnjährige Tochter, bei ihrem Zwangsarbeitseinsatz auf dem Land fast jede Nacht sexuell mißbraucht wird; oder wie ihre Tante Maria nach einem Verhör durch einen russischen Offizier an sich hinunterblickt und feststellt, wie sie sich aus Angst vor Schlimmerem eingemacht hat. Sagte Maria nicht, Menschen und Gemeinheit seien synonym? (S.9). Als Metapher für die Grausamkeit der Kreatur kann stellvertretend die von Anna beobachtete Szene in der deutschen Grenzstadt gelesen werden, in der ein Rudel verwilderter und halb verhungerter Hunde einen kleineren, kranken Hund durch die Stadt jagt, ihn stellt und dann bei lebendigem Leib zerreißt und frißt: "Gebisse schlugen wie dreckige Sägeblätter in Hals Flanke u Bauch - das Tier am Boden jaulte kreischend auf -... Rasch verschlang der Haufe Fell&fleisch&pfoten den Anblick im Staub...! Da: der spitze hohe Schrei, im klagenden Gejaule verzitternd-, 1 Lebensfaden zerrissen, 1 Köterleben..." (S.46). Hier ist die Brutalität eines rein darwinistischen Überlebensprinzips, geprägt durch Haß, Gier, Zerstörung, dem auch die Menschen in dieser Zeit verfallen, auf den Punkt gebracht.

Es gehört zu der den Roman durchwehenden bitteren Ironie, wenn beide Schwestern Angestellte der Bahn werden und als eine letzte Erniedrigung eine Art Ersatzheimat in der Dachwohnung über der Güterabfertigung eines Bahnhofs finden, einen Ort, den sie dennoch als permanent Vertriebene eines Tages werden wieder verlassen müssen. Die Bahnhofsmetaphorik trifft: sie verwalten lediglich ein ewiges Umherziehen und leben mit den Geräuschen von Ankunft und Abschied der Züge. Sie sind Überbleibsel des Krieges, die niemand will, wie z. B. die Tochter Anna und ihren Liebhaber, den blutjungen mißgeleiteten ehemaligen SS-Angehörigen, der durch das Miterleben brutaler Erschießungen von Zwangsarbeitern traumatisiert wird. "Einmal Flüchtling, immer Flüchtling" (S. 223), so summiert Hanna ihre kollektive Existenz lakonisch. Paradox auch, wenn eben Hitler, der nach dem Krieg von den Frauen als "Verbrecher" bezeichnet wird, die Schuld an ihrem Elend, am Verlust der Heimat angelastet wird: "Noch den Leichnam hätt man vierteilen müssen" (S.9). Doch Hitler repräsentierte vor dem Krieg für diese Personen auch die Obrigkeit, die akzeptierte Autorität des Staats, genau wie auch für diese gläubigen Frauen die katholische Kirche die absolute religiöse Ordnung darstellte, die nie hinterfragt werden durfte.

Dieser Untertanengeist bleibt als historischer Widerspruch stehen, ist doch der Roman nicht nur eine individuelle Familietragödie, sondern zur gleichen Zeit ein Stück Archäologie deutscher Geschichte. Wie begeistert war doch der Einmarsch in der Tschechoslowakei von den Sudetendeutschen gefeiert worden -- der Sudetengau wieder deutsch! Man schaue sich die entsprechenden Fotografien als Beleg an. Und die schmerzliche Erkenntnis, daß die staatliche Macht verbrecherischen Charakter hatte, setzt sich erst spät und widerwillig bei den Untertanen durch, die mit einer weiteren schmerzlichen Einsicht leben lernen müssen: nämlich wie aus Staatsräson auch in der DDR methodisch Menschenverachtung praktiziert wird, trotz allem offiziell gepredigten sozialistischen Humanismus.

Dann erfolgt im Text die Rückkehr zum Fluchtpunkt Berlin. Nach der Wende und dem Tod seiner Familienangehörigen gibt der Enkel seinen ungeliebten Beruf als Zahnarzt in Ostberlin auf und eröffnet eine Buchhandlung. Er bringt die Asche der Schwestern nach Berlin und bestattet sie dort. Mit dieser Tat vermag der Autor Reinhard Jirgl einen geographischen und historischen Bogen zum Zeitpunkt und Ort des Ausgangs für die Leiden in Europa zurückzuschlagen, indem er die Stadt Berlin zum Zeitpunkt der Machtergreifung zu einem Fluchtpunkt für die jüngere deutsche Geschichte rekonstruiert.

Was von Berlin im Januar 1933 ausging ist nicht nur Ursache der individuellen Familientragödie, sondern die der Katastrophe Europas als langfristiges Resultat der in Deutschland entfesselten Politik. Nicht nur wird mit der Fixierung des Fluchtpunktes Berlin die zerstörte Lebenszeit der kollektiven Kriegs- und Nachkriegsgenerationen benannt (" Die Zeit ist der einzige Besitz des Menschen "), sondern auch noch die verpatzte Existenz des Enkels muß als Langzeitwirkung der nationalsozialistischen Greueltaten begriffen werden, denn auch er stirbt im Grunde flüchtend vor seinem Leben in einer vergeblich erhofften besseren, geläuterten Gesellschaft. Dem lakonischen Satz am Schluß: "Es geht weiter" (S.251) fehlt das abschließende Satzzeichen . So endet der Roman als offener, unabgeschlossener Text, als ein Buch über ein noch nicht abgeschlossenes Kapitel deutscher und europäischer Geschichte.

Nicht nur schließt sich vom Ausgangspunkt Berlin der existentielle Lebenskreis mit den Gräbern der Familienmitglieder aus den entfernten Sudeten, sondern auch motivisch wird auf den Beginn des Romans rekurriert, der mit dem Befehl der Milizen zur Evakuierung an die deutschen Einwohner 1946 einsetzt, sich mit höchstens 8 Kilo Gepäck in 30 Minuten am Bahnhof einzufinden. Der Abschied ist ein endgültiger, und das Leben aller fünf Hauptpersonen im Roman bleibt, wie es der Romantitel andeutet, unvollendet. So weist das Ende der Geschichte wieder zyklisch auf ihren Anfang zurück.

Nun aber hat das ziellose Umherirren der Frauen, ihre Vertreibung aus dem vermeintlichen Paradies, ihre existentielle Heimatlosigkeit, ihre Odyssee und das Nirgends-geduldet-Sein noch einen weiteren Referenzpunkt. Ihre Situation ruft Assoziationen zu anderen Vertriebenen in der Menschheitsgeschichte wach, einmal zu Ahasver, dem Inbegriff des ewigen Juden, dem Heimatlosen und Wurzellosen, dessen Schicksal zum Sinnbild des jüdischen Volkes umgedeutet wird. Durch diesen vom Autor intendierten Bezug entsteht ein gebrochenes Bild dieser Deutschen, die als verführte Opfer Hitlers gezwungen werden, das kollektive mystische und reale Schicksal jüdischer Menschen selber erleben zu müssen.

Die wohl inhaltlich bedeutendste Leistung Jirgls bei der Darstellung von Vertreibungen aus der Heimat ist eben die literarische Sichtbarmachung eines unendlich monumentaleren Unrechts: der vom deutschen Nationalsozialismus verübte Genozid an den europäischen Juden. Überall im Text stoßen wir auf solche Entsprechungen: Die Deportationen zum Beispiel; die gewaltsame Evakuierung der einheimischen Deutschen aus ihren dann enteigneten Häusern, ihr Marsch durch die Stadt zum Bahnhof, um dort in Waggons verladen und abtransportiert zu werden. Das ist ein aus den jüdischen Ghettos nur zu bekanntes Bild. Auch wird die deutsche Bevölkerung in der Tschechoslowakei gezwungen, als Nationalitätsausweis weiße Armbinden zu tragen (man denkt unwillkürlich an Judensterne im Dritten Reich); dann die in Flammen aufgehende Frau und die Erstickungsangst der im Keller eingeschlossenen Menschen; der brutale Raub der Ohrringe und der gewaltsame Schmuckdiebstahl. Das geschah Millionen in den Konzentrationslagern. Außerdem der Geruch bei der Leichenverbrennung im Fußballstadion nach dem Mord an den SS-Männern und auch die Urangst der in einer Scheune zusammengetriebenen Menschen, das Gebäude könnte in Brand gesetzt werden. Alle diese Bilder haben Shoa-Assoziationen. Später, in der DDR, beobachtet der Enkel als zehnjähriges Kind bei einer Viehentladung auf dem Bahnhof, wie diese Tiere gequält werden, um sie möglichst schnell in den Schlachthof schaffen zu können. Das ist eine weitere Auschwitz-Anspielung. In dieser Situation nun greift das Kind einen Stein und schleudert ihn einem der brutalsten Treiber an den Kopf, der dadurch ein Auge einbüßt und an einer Blutvergiftung stirbt. Ein David erschlägt den Goliath: einer der vielen biblischen Verweise im Text.

So stehen die Verbrechen an den europäischen Juden und der Zweite Weltkrieg stets unausgesprochen mit im Erzählraum dieser deutschen Tragödie, die freilich durch die Ahasver- und die Holocaust-Assoziationen in ihrer Bedeutung relativiert wird. Damit erfolgt aber freilich keine Aufrechnung oder ein Wertvergleich der Grausamkeiten, sondern es geht Jirgl in erster Linie um die indirekte Sichtbarmachung der Ursachen für die Verbrechen, die seit 1933 vom faschistischen Deutschland ausgingen und zu dessen sekundären Opfern eben auch die deutschen Heimatvertriebenen zu zählen sind. Direkte politische Kritik übt lediglich der Ich-Erzähler im dritten Teil an den Zuständen in der DDR, wobei deutlich wird, wie eine Stunde Null, ein radikaler Neuanfang ausgeblieben und der "homo nuevo", der sozialistische Mensch, nicht erschienen ist -- die Menschen haben sich nicht gebessert. Nach der Wende zieht der Ich-Erzähler Enkel ein Fazit: Man sei gekommen vom "kommunisten Manifest zum globalistischen Money-Fest" (S.197).

Die literarisch-ästhetische Umsetzung dieses rabenschwarzen, untröstlichen Menschenbildes hat dem Autor bei der Kritik viel Anerkennung eingebracht. Schon das dreiteilige strukturelle Verfahren verweist zurück auf die Thematik des Romans. Wird die Kapitel-Unterteilung im ersten Teil (die Darstellung der unmittelbaren Nachkriegszeit) noch recht konventionell numerisch gekennzeichnet, so erfolgt die inhaltliche Zeitraffung im zweiten Teil ( vier Jahrzehnte DDR-Wirklichkeit ) durch Texteinschübe in Form von Orts- und Straßennamen, die jeweilige Lokalitäten anzeigen, während im dritten Teil die Orientierung im Berlin des Ich-Erzählers durch Zeit- und Datenangaben vorgenommen wird. Der Text verjüngt sich hin zu den letzten Tagen des Enkels, dem seine Lebenszeit zwischen den Fingern verrinnt: " Die Zeit ist der einzige Besitz des Menschen", eine Text-Grundierung, die an das biblische Diktum von der dem Menschen auf Erden gegebenen Zeit erinnert.

Auch sprachlich hat Jirgl, neben dem ständigen Wechsel der Erzählkoordinaten, einen ganz eigenen Kosmos geschaffen, ein avantgardistisches Kunstwerk mit einem eigenen Zeichen- und Verweissystem, das orthographisch und syntaktisch bewußt gegen die Duden-Norm verstößt. Was auf den ersten Blick für den herkömmlichen Leser chaotisch wirkt, entpuppt sich als filigran und streng komponierter Text. So entspricht einmal das Schriftbild den unterschiedlichen Perspektiven und Erzählstimmen. Versalien werden für offizielle Bekanntgebungen durch Regierung oder Militär verwendet ; kursiv wiedergegeben sind Äußerungen von einzelnen Menschen, von Opfern oder der Bevölkerung insgesamt. Persönliche Erinnerungen werden durch Einrücken des Textes deutlich gemacht und behördliche Anordnungen werden durch altdeutsche Schrift gekennzeichnet. Generell werden bei Jirgl die Schriftzeichen zu Bedeutungsträgern auf einem semiotischen Feld. Dazu kommen zahlreiche orthographische Idiosynkrasien: Wortkontraktionen als Annäherung an die gesprochene Sprache; Sprachstau oder Sprachschübe bei inhaltlichen Ausnahmesituationen; Wegfall bzw. Neusetzung von Interpunktion (bei atemlosem Erzählen) , so z.B. die Setzung von Ausrufezeichen vor dem betonten Wort, als auch ironische linguistische Neuschöpfungen ("pluralistisches Money-Fest" oder Wörter wie"vernuttst "(S. 53), " Schlau-raffenland" (S.39); wie auch Wortagglutinationen, d.h. das Verschmelzen von Wörtern zu Neologismen.

Gelegentlich wurde Jirgl vorgeworfen, seine Kunstsprache transportiere kein Erkenntnisinteresse mehr, sei nur l'art pour l'art. Ich sehe freilich durchaus eine integrale Beziehung zwischen Inhalt und modernistischer Form. Jirgls eigenwillige Textgestalt transportiert stets semantische Bedeutungen; seine Sprache wird eigenwillig rhythmisiert und expressiv betont, immer jedoch verknüpft mit dem jeweiligen Handlungsgeschehen und mit der psychischen Verfassung der entsprechenden Erzählerfigur. So verweisen z. B. die auf nahezu jeder Seite auftauchenden Worttriaden, die in einem Wort geschriebene Dreifachnennung bestimmter miteinander verbundener Phänome "Windsonneregen" (S.58), "SchmugglerSpioneSabotör" (S.81) oder "MühsalUrinGier" (S. 93) inhaltlich auf die vorherrschende Personenkonstellation im Buch: Großmutter, Mutter, Sohn, die darüber hinaus als eine ironische biblische Allusion, eine Trinitatis von drei Menschen bei ihrer Passions- und Leidensgeschichte und in Verknüpfung mit den zahlreichen Holocaust-Motiven zu sehen ist.

Auf der Suche nach historischen Vorbildern für Jirgls avantgardistische Texte haben die Kritiker immer wieder reflexhaft auf die Prosa von Arno Schmidt verwiesen, und das wohl nicht zu Unrecht. Der Grund dafür, daß Jirgl als legitimer Nachfahre Schmidts gehandelt wird, hat sicher einmal mit der eigenwilligen Orthographie beider zu tun. Schmidt hatte schon in den fünfziger Jahren sehr kunstvoll-unkonventionell die Duden-Norm unterwandert und wohl gar nicht wiederholbare Sprachkunstwerke verfaßt, von denen Alfred Andersch einmal meinte: "Was Sie mit der Sprache machen[...], wird sich erst in Jahrzehnten auf den Gesamtzustand unserer Sprache und ihrer Literatur auswirken."[5] Jirgl kennt Schmidts Texte sehr gut und Schmidt zu den Autoren, die ihn zum Schreiben in eigenen Prosaformen entscheidend ermutigt haben. Allerdings betont er: "Ich möchte [...] also keineswegs den Eindruck eines Erbschleichers hinsichtlich Arno Schmidts erwecken."[6 ]

Auch hat er bereits im Jahr 2002 [7], also vor der Veröffentlichung der Unvollendeten, ein Loblied auf Schmidts Umsiedler-Prosa verfaßt, eine der zahlreichen Arbeiten Schmidts mit eben genau der Jirglschen Vetreibungs- und Flüchtlingsthematik, modernistische Texte, die in den reaktionären und restaurativen fünfziger Jahren nicht eben begeistert aufgenommen wurden. Jirgl spricht hier schon auf die existenzphilosophische Erkenntnis seines kommenden Romans an, daß eben die Lebenszeit der einzige Besitz des Menschen sei. Inhaltliche Gemeinsamkeiten existieren zuhauf. Beide Autoren zeigen eine vaterlose Gesellschaft der Nachkriegszeit, deren Mitglieder oft ohne identitätsstabilisierende Vorbilder zurechtkommen müssen: Nobodaddy's Kinder heißt ganz programmatisch ein Erzählband Schmidts.[8] Doch Jirgl ist keinesfalls ein epigonaler Nachahmer Schmidts. Seine Sprache bleibt unverwechselbar seine eigene, auch wenn er sich wie Schmidt bewußt an die gesprochene Sprache anlehnt. Sie ist expressiver als die Schmidts, der z.B. mit Interpunktionszeichen allein Bedeutungen stiften kann, die vom Leser erst nicht-verbal mitgedacht werden müssen. Man denke an die Klammeralleen in seinen Texten, die temporal und inhaltlich zugleich gelesen werden müssen, oder an seine etymistischen Wortschöpfungen. Schmidts Aufforderung an seinen Leser, langsam zu lesen, dann könne er "the time of his life" haben, denn Sprachkunst entsteht ebenso sorgsam und bedächtig .[9] Die gleiche Voraussetzung dürfte auch für Jirgl und die Unvollendeten gelten.

Dennoch würde ich literarische Rangunterschiede festhalten wollen: Jirgls Roman erreicht nicht ganz den Anspielungsreichtum und die Vielschichtigkeit von Schmidts dichteren Textgeweben, in denen Subtexte mit Drei - und Vierfach-Bedeutungen an der Tagesordnung sind, wie auch bei Jirgl, bei dem rabenschwarze direkt ablesbare Ironie vorherrscht, die humorvollen und bewußt kalauernden Passagen fehlen. Schmidts Prosa ist weniger eindeutig und daher artistischer, denn eine Kategorie von Sprachkunst ist ja gerade, daß sie nicht in eindeutigen Auslegungen aufgeht, sondern vielfach interpretierbar bleibt. Weiter hat Jirgl es mit seiner Textproduktion leichter als Schmidt, der noch nicht mit Textverarbeitungsprogrammen das Schriftbild visuell nahezu beliebig manipulieren konnte, sondern noch auf seiner alten Adler im wahren Sinne komponierte. Auch das historische Faktum, daß Schmidt unmittelbar nach dem Krieg bereits an die 1933 verschüttete Avantgarde in Deutschland anknüpfte, zur Zeit eines dünnen Neorealismus z. B. Bölls und Schnurres, spricht für die Größe von Schmidts Prosa, gerade zu einer Zeit, in der deutsche Schuldprobleme oder das Thema von Deutschen als Opfern Hitlers nicht gerade gern rezipiert wurden.

Der erkenntnisphilosophischen Erkenntnis von Jirgls Romans freilich hätte Schmidt -- er selber war Ostflüchtling -- wohl voll zugestimmt: "Die Lebenszeit ist der einzige Besitz des Menschen."


Endnoten

1 Siehe die folgenden Bücher: Stephan Wackwitz, Ein unsichtbares Land (Frankfurt am Main: Verlag S. Fischer, 2003); Tanja Dückers, Himmelskörper (Berlin: Aufbau-Verlag, 2003), Anonyma, Eine Frau in Berlin (Frankfurt am Main: Eichborn, 2003) etc. Ich zitiere nach: Reinhard Jirgl, Die Unvollendeten (München/Wien: Carl Hanser Verlag, 2003).

2 Helmut Böttiger, "Alle längst tot, sie müssen nur noch sterben", Literaturen 7/8 (2003): 68.

3 Zit. nach: Fachdienst Germanistik 8 (2003): S.16.

4 Wolfgang Sofsky, Süddeutsche Zeitung. Wiederabdruck in Kulturchronik 1 (2003): 33-34

5 Andersch an Schmidt, 19.Juli 1955. Arno Schmidt, Der Briefwechsel mit Alfred Andersch, hrsg v. Bernd Rauschenbach.( Eine Edition der Arno Schmidt Stiftung Bargfeld im Haffmans Verlag Zürich, 1985) 62.

6 Reinhard Jirgl, "Brief an Friedhelm Rathjen". 24.Februar 1998.

7 Reinhard Jirgl, "Der frühreife Mond schob, rachitisch krumm, übern Bahndamm", Die Zeit 44/02. Online-Ausgabe.

8 Arno Schmidt, Nobodaddy's Kinder (Hamburg: Rowohlt, 1963).

9 Arno Schmidt, "Dankadresse zum Goethepreis 1973", Der Rabe 12 (Zürich: Haffmanns Verlag, 1985): 32.

 

copyright: Glossen, Oktober, 2004