a peer reviewed scholarly journal on literature and art in the German speaking countries after 1945

ISSN 1093-6025

published at

Dickinson College
Carlisle, PA

 

 
 Glossen 21-- Lyrik

Joseph Hahn

Joseph Hahn

Zu meinen Gedichten. Aus: Die Doppelgebärde der Welt

Was könnte heute Poesie und Kunst inmitten des unerbittlichen Gewoges von Gier und Geistesentgleisung dazu beitragen, die Menschheit und die Myriaden Geschöpfe und Pflanzen von der apokalyptischen Gefahr, die alle Lebendigkeit auf Erden bedroht, zu retten? Die Antwort ist schwerwiegend. Die Gefahren, Greul und Grausamkeiten, welche ungehindert fortschreiten, zu ignorieren, wäre ein Verrat an der gesamten Menschheit und allen Lebewesen auf Erden.

Um zu einer Rettung beizutragen, müßten Poesie und Kunst es aufgeben, sich mit Ästhetik als Spiel oder als Endzweck zu befassen. Ästhetik müßte zu ihrer höheren Bestimmung zurückkehren und der Körper einer geistigen Essenz werden. Diese Forderung ist nicht in einem dogmatischen Sinne zu verstehen. Die Künste sollten die grundsätzliche geistige Erkenntnis, nämlich die von allen Dogmen emanzipierte Ehrfurcht vor dem Leben, selbst dem Leben der schlichtesten Geschöpfe, zum Ausdruck bringen.

Verknüpft mit diesem Gedanken ist die Tragik in der Kunst. Sie wurzelt in der Lebensbejahung und ist nicht bloß als eine biographische Spiegelung zu verstehen. Sie ist das Widersetzen gegen die Grausamkeit des Bösen und des Todes. Im Versuch die Sprache der Seele vernehmbar und sichtbar zu machen, in diesem ernstlichen Unternehmen sich der unnahbaren Wirklichkeit zu nähern, begegnet dem nach Ausdruck Suchenden eine Schicksals überragende Potenz: Die Doppelgebärde der Welt.

Joseph Hahn, Vermont 2003


eph Hahn

Joseph Hahn

Joseph Hahn

Joseph Hahn

Celloeinsatz

Leuchtender Traum
von einem Celloeinsatz
durchsichtig geworden,
das aufgeblätterte Tagebuch
spielt eine böhmische Dumka
von goldenen Garben
und blutrotem Wein --
auch hier geschah
das letzte Abendmahl
und ein Verrat.

Eine frischgeknospte Erinnerung sternt
abschiedsahnende
Augentiefen,
Feuermohn und Disteldorn
heimlich mitgeschenkt,
wart ihr einst
Liebespein, Los, Lebendigkeit?

Altes Gemälde

Wenn die Finsternis Feuer fängt
wandelt der Geist mit dem Tod übers Land
und öffnet sich im Gewölk
das verknotete Bündel Geschick.

Wenn die Finsternis Feuer fängt
singen die Nachtigallen im Dorn
und Rembrandt im Schöpfungstrance
Saskias entirdischtes Angesicht.

Wenn die Finsternis Feuer fängt
tanzt Kali über den Leib der Welt,
nährt die Zermalmung unter den Füßen
mit Schlehe und Schaum.

Wenn die Finsternis Feuer fängt
geißeln die Galaxen die Ewigkeit weiß
und Sebastian der hohe Knecht
wäscht mit seiner Musik die Verstümmelung der Welt.
Für Jürgen Serke

Nachricht aus Prag

Wir kamen fortzuwaschen
den Schweiß der Verknechtung,
ein Brand aus den Orgeln
folgt uns über die Brücken,
von Firsten und Türmen höhnten
die Marionetten des Tods.

Wir knieten zu scheuern
den Fluch von den Steinen,
im Quellgrund der Spiegel
sangen die Nachtigallen,
verschworene Uhren sprühten
die Ziffer Ewigkeit.

Wir wuschen nicht fort
den Schweiß und den Fluch
und kommen nicht wieder zur Stadt
des Henkers- und Königskelchs
durchflammt von Meteor
und brennendem Tau.

(Mit freundlicher Genehmigung des Autors)

 


as of 11/4/2004