a peer reviewed scholarly journal on literature and art in the German speaking countries after 1945

ISSN 1093-6025

published at

Dickinson College
Carlisle, PA

 

 
 Glossen 21: Artikel

"Das Handwerk des Berichtens"
Die Medienkritiker Handke und Gstrein als Balkan-Kundschafter
Jay Julian Rosellini

Das Wort „Balkan" hat keinen guten Klang. Damit assoziiert man seit dem frühen 20. Jahrhundert die „Balkanisierung", laut Duden „staatlich zersplittern und in verworrene politische Verhältnisse bringen".[1] Dabei wird „Balkan" oft ungenau verwendet, wie z.B. im Titel dieser Arbeit oder in der Frankfurter Rundschau, die sämtliche Artikel zur Krise auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien unter der Rubrik „Pulverfass Balkan" sammelt. Die Westeuropäer bzw. Beobachter Westeuropas halten meist alles südlich bzw. südöstlich vom österreichischen Bundesland Kärnten für den Balkan, obwohl Teile von Slowenien, Kroatien und Serbien geographisch gesehen eigentlich nicht dazu gehören. Im Alltagssprachgebrauch der Österreicher werden die Bewohner der Gebiete jenseits der Karawanken, besonders die Jugoslawen (wie man früher sagte) gelegentlich als „Tschuschen" bezeichnet. Dieser Ausdruck war laut Slavko Ninic, Gründer der multikulturellen Musikgruppe „Wiener Tschuschenkapelle", „eines der grauslichsten, fremdenfeindlichsten Schimpfwörter" im Österreich der siebziger Jahre.[2] Es war wohl nicht zuletzt die Fremdenfeindlichkeit und Arroganz, die hinter einer solchen Redeweise stecken, die den Kärntner Peter Handke und den Tiroler Norbert Gstrein dazu motiviert haben, ihrer schriftstellerischen Arbeit zunächst zeitweise, schließlich regelmäßig im Ausland nachzugehen. Es läge nahe, die im Folgenden zu besprechenden Werke der beiden Autoren zumindest teilweise als Wiedergutmachung aufzufassen. Noch in den 80er Jahren meinte nur ein Prozent der Österreicher, Jugoslawien sei dem eigenen Land ähnlich.[3]

In den Kriegsjahren 1995/96 reiste Peter Handke nach Jugoslawien, und die Auseinandersetzung um seine beiden Reiseberichte[4] erhitzte monatelang die Gemüter und füllte die Feuilletonseiten der Zeitungen. Dies wäre sicher nicht der Fall gewesen, wenn Handke „Gerechtigkeit für Bosnien" gefordert hätte, statt „Gerechtigkeit für Serbien". Als selbsternannter Anwalt des serbischen Volkes stand der zuvor eher als unpolitisch geltender, wenn auch irgendwie 'progressiver' Autor, allein auf weiter Flur. Das heißt allerdings nicht, dass das Gros der Linksintellektuellen gegen die Serben Partei ergriff, auch wenn es Handke so wahrnimmt. Gestalten wie Bernard-Henri Lévy, André Glucksmann, Susan Sontag oder Peter Schneider waren eher Ausnahmeerscheinungen.[5] Handke musste auf Lesereisen mit soviel Kritik und Aggression fertig werden, dass man kaum erwarten konnte, dass er sich noch einmal ausführlich zu diesem Thema äußern würde. Genau das ist aber passiert, und zwar zunächst im Jahr 2000 mit der Veröffentlichung des Bandes Unter Tränen fragend. Nachträgliche Aufzeichnungen von zwei Jugoslawien-Durchquerungen im Krieg, März und April 1999.[6] Wessen Tränen waren gemeint? Waren Einkehr und Läuterung zu erwarten? Nach der Lektüre weiß man, dass Ersteres erfolgt ist, das Letztere eher nicht.

Wie in den ersten beiden Bänden will Handke im Grunde weder eine politische Analyse vornehmen noch Tatsachen liefern. Das ist bereits im Vorwort deutlich, wo er vom „bekriegten Jugoslawien" spricht (3). Ihm geht es wieder um Details, die Menschen ohne poetische Wahrnehmungsweise verborgen bleiben würden - Details übrigens, die man in den westeuropäischen Blättern kaum vorfinden würde. Ein paar Beispiele können dieses Vorgehen veranschaulichen. Wo andere Bauernhöfe sehen, erschaut Handke „die märchenkräftig verschachtelten, obstbaum- und gartenumsäumten pannonischen Einzelgehöfte" (29). Nahe der Autobahn nach Belgrad passiert Folgendes: „Notdurftverrichten in einem Abfallwäldchen des Zwickels, wo der Weißdorn blüht ... später ... im östlichen Hügellandserbien ein das ganze Land durchziehendes Hochweiß." (34) Beim Mittagessen im Haus einer alten Partisanin bewundert er „die frischen, noch frühlingshaft kleinknolligen Zwiebelchen und das sonstige Junggemüse". (100) Alte Bekannten wie der „erztrüb[e] Eigenbauwein" (63) oder die „andersgelben serbischen Nudelneste[r]" (50) tauchen auch wieder auf. In Reiseführern à la Lonely Planet wären solche Motive durchaus am Platze, aber welchem Zweck dienen sie zu Kriegszeiten?

Der Schlüssel zum Verständnis dieser Erzähltechnik ist vor allem bei Handkes fortgesetzter Polemik gegen westliche Zeitungen zu finden. Für ihn sind sie „europäische Kriegszeitungen" (11), die vorgeben, die Wahrheit zu drucken, während sie eigentlich Teil des Angriffs auf das alte Jugoslawien sind. Charakteristisch ist die Formulierung „ein[e] ehemalig[e] europäisch[e] Zeitung" (65).[7] Dies setzt voraus, dass Handke früher mit der Berichterstattung einigermaßen zufrieden war, was im Hinblick auf die Jahre zwischen Vietnam und Waldheim doch etwas erstaunt. Gegen die Dämonisierung der Serben, wie er sie sieht, setzt er Porträts von sympathischen Einzelmenschen. Ein Diplomat, der als Bauernsohn anfing und später sein Land in Paris vertritt, hat „sehr dunkle glänzende mandelförmige Augen der byzantinischen Freskenleute von Ohrid, De_ani, Pe_ ..." (10) Der Leser soll offensichtlich begreifen, dass Serbien eine altehrwürdige Kulturnation ist, was ja kaum abzustreiten ist. Boris Iljenko, der Direktor des Jugoslawischen Kulturinstituts in Paris, spricht Französisch und „halb- oder viertelwegs" Deutsch und Englisch; die Bombardierung seiner Heimat macht ihn allerdings unfähig, diese Fremdsprachen zu sprechen.[8] Mit anderen Worten: Die europäischen Serben werden aus der europäischen Kulturgemeinschaft hinausbombardiert. Ein Zimmermädchen in einem Belgrader Hotel sagt dem Gast Handke „Hvala!", d.h. „Danke!" - nicht für ein Trinkgeld, sondern für "das Wort, das ich für sie und ihr Land, für ihr Land und sie, eingelegt hätte" (59). (In charakteristischer Manier macht der Bedankte nie deutlich, um was für ein „Wort" es sich dabei handelt: Rückendeckung für Milo_evi_ ist mit Solidaritätsbekundungen für die unter dem Bombenkrieg leidenden serbischen Zivilisten nicht gleichzusetzen.) Handke schwärmt von einem Volk, das sich von der Elite bis zur Arbeiterklasse seine Worte „zu eigen gemacht" habe, „wie ich mir das bei etwas von mir Geschriebenem nie hätte träumen lassen" (59). Dem Autor gefällt es offenbar, dass das Amt des Dichters als 'Seher' und 'Prophet', anders als in Westeuropa, hier noch bekleidet werden kann. Angst und Trauer sind eingegraben in das Gesicht der alten Malerin Oja, die befürchtet, dass 'ihre' Brücke über die Sava gesprengt wird. (147) Schließlich lernen wir eine Ärztin kennen („eine schöne, städtische Frau"), die in einem Dorf in der Vojvodina Krebspatienten behandelt. Es sind ihre Tränen, auf die sich der Titel des Buches bezieht. Diese kosmopolitische Frau, die weit gereist ist (auch in die USA), ist angesichts der Bomben fassungslos. Handke betont, dass sie aber nicht „empört" sei, und sie stellt die Frage, die Handke selbst hätte stellen sollen: „Ja, sind wir denn wirklich so schuldig?" (154) Handke und seine Mitreisenden werden dazu aufgefordert, diese Frage zu beantworten, aber es kommt nicht dazu.[9] Statt dessen bemerkt der Autor, diese Frau, „unter Tränen FRAGEND", wäre „Thema für einen Bildhauer"! Früher bezeichnete man so etwas, in einem ganz anderen Zusammenhang, als „Ästhetisierung der Politik".

Die Schuldfrage bleibt trotzdem im Raum, aber nicht mit Bezug auf die Serben. Hauptanliegen von Handkes Bemühungen ist das Artikulieren von Hass auf die Aggressoren. Der so genannte Kosovo-Krieg ist bis heute umstritten: Für die einen war er eine humanitäre Intervention, für die anderen ein hegemonialer Zugriff mitsamt Bruch des Völkerrechts.[10] Handke für seinen Teil kann nichts Humanitäres entdecken, und er scheut sich nicht vor extremen Formulierungen: Es handele sich um einen „Weltkrieg" gegen Jugoslawien (14), einen „Totalkrieg der NATO" (119) und im Endeffekt - das Wort „total" legt es ja nahe - eine „faschistisch[e] Aggression der NATO".[11] Eine solche Ausdrucksweise legt eine Schicht in Handkes Denken frei, die fast alles mitbestimmt, nämlich eine andauernde Beschäftigung mit NS-Zeit und Holocaust. Nicht umsonst tauchen Hinweise auf deutsche und österreichische Kriegsverbrechen auf. Als das „gebombte Kragujevac" im jugoslawischen Fernsehen gezeigt wird, lautet der Kommentar: „...wo im Zweiten Weltkrieg die Deutschen, als Vergeltung für Partisanenangriffe, die große Massenerschießung der halbwüchsigen Schüler veranstaltet hatten." (30) Bei einem Abstecher nach Sabac bemerkt Handke: „Sabac ist im 1. und im 2. Weltkrieg von den Österreichern bzw. den Deutschen zerstört worden, samt Vernichtung vieler Bewohner." (113) Die obenerwähnte alte Partisanin zeigt die Narbe ihrer alten Schussverletzung: „... ein Teil des Arms von der 3.-Reich-Kugel wie aufgefressen ..." (99) Handke, dessen Großvater mütterlicherseits slowenischer Abstammung war,[12] hat schon vor Jahren beteuert, er fühle sich als Jugoslawe, und nun teilt er seinen Lesern mit: „[I]n diesem von allen Kriegshunden gehetzten Land bin ich nicht fehl am Platz." (114) Man kann vermuten, was dahinter steckt: Eine Art und Weise, die nationalsozialistische Vergangenheit zu bewältigen, besteht darin, sich als nicht mehr dazugehörig zu erklären. Handke hat jahrelang daran gearbeitet, eine andere Identität aufzubauen, und nun muss er erleben, dass das Jugoslawien, das er eher erträumt als erwandert hatte, von der Landkarte verschwindet. In den Einzelrepubliken, die nach der Auflösung entstanden sind, ist eher ethnische Zugehörigkeit als multikulturelle (nicht-deutsche) Selbstmodellierung gefragt. Angesichts dessen verwundert es nicht, dass die Supermacht, die angeblich das schöne 'Traumland'[13] zerstückelte, vehement angeklagt wird. Die Vehemenz rührt zum Teil von daher, dass Handke wohl eine Zeitlang glaubte, in den Vereinigten Staaten seiner Herkunft zu entkommen. Sogar in Unter Tränen fragend werden der Filmregisseur John Ford[14] und der Diplomat Richard Holbrooke gelobt. Das geschieht allerdings nebenbei, denn hier sind es „amerikanische Desperados", die mit den „'Europäern'" (die Anführungszeichen werden nicht zufällig verwendet) „Menschenorte" in Flammen schießen (33). Der Erzähler lässt seinen Freund Zlatko die klassische Imperialismuskritik so formulieren: „Zuerst haben sie die Apachen ausgerottet, und dann nennen sie ihre Luftkiller nach dem von ihnen ausgerotteten Volk." (27) Deutsche Stimmen sind „fett", französische „höfisch-verlogen", aber am schlimmsten sind die „den Raum (bis in die hintersten Winkel des Planetensystems) verdrängende[n] amerikanische[n] Stimmen, das Schnarrschnattern Donald Ducks zu dem von Menschenjägern mutiert". (27) Goebbels' 'totaler' Krieg verblasst gegenüber einem mit modernster Rüstungstechnik ausgestattetem Arsenal, das ein „Von-der-Er[d]oberfläche-Wegteufeln eines ganzen Landes, mehr, eines ganzen Erd-Teils" ermöglicht. (118) Einziger Trost: Handke hofft, dass die serbische Jugend nicht mehr gebannt auf US-amerikanische Produkte und Massenkultur starren wird.[15]

Wenn Handke davon überzeugt ist, dass die kriegerischen Aktionen der USA den „Traum von der Geschichte als Utopie" (136), das große Aufklärungsprojekt[16] also, endgültig zerstört haben, so liegt es nahe, die diesbezügliche Trauerarbeit in einem Werk über den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag fortzusetzen. Diese Institution, die aus Handkes Sicht ein Instrument der US-Hegemonie ist (trotz der Mitarbeit europäischer Handlanger), soll durch den Prozess gegen Slobodan Milo_evi_ und andere das Ende Jugoslawiens ein für alle mal besiegeln. Im schmalen Bändchen Rund um das große Tribunal[17] kommentiert er dieses Unternehmen als Prozessbeobachter. Gewidmet ist das Werk dem Andenken an Boris Iljenko (vgl. oben), „mit dem ich im Oktober 1995 zum ersten Mal zum Manastir Studenica kam" (6). Diese Widmung ist ein Signal, denn das serbische Kloster Studenica, mit schönen Kirchenbauten im romanisch-byzantinischen Stil aus dem 13.-14. Jahrhundert, gehört zum europäischen Kulturerbe, während das benachbarte Kloster Zi_a nicht nur von kulturellem, sondern auch von politischem Interesse ist, da die serbischen Könige einst dort gekrönt wurden. Für Handke ist auch und vor allem die serbische Kultur auf der Anklagebank.

Diesmal holt Handke weit aus, ehe er zur Sache kommt. Wir erfahren, dass er in der Jugend „ein begeisterter Gerichts- und Gefängnisbesucher" war. der sich alle Filme mit Schauplatz Gerichtsaal oder Zuchthaus ansah. (10) Angetan hatten es ihm vor allem die Angeklagten in diesen Filmen, die in der Regel unschuldig waren. Die Drehbücher seien auch nicht aus der Luft gegriffen, denn „auch im sogenannten Leben" habe die Unschuldsvermutung damals gegolten. (10) Handke bekennt, im Laufe der Zeit hätten sich bei ihm „Zweifel an so einem endgültigen Schuldigsein" herausgebildet. (11) Interessanterweise ist es für ihn der klassische US-amerikanische Kriminalroman (mit Figuren wie Dashiell Hammetts Sam Spade oder Raymond Chandlers Philip Marlowe), der die vielen Schattierungen zwischen Held und Schurke sowohl in der Unterwelt als in der 'normalen' Gesellschaft zur Darstellung bringt. Heute sei das ganz anders, denn die Massenkultur zeige mit Vorliebe eine Welt, in der „die Gewalteinteilung zwischen Exekutive und Rechtsprechung" aufgehoben sei. (17) In Den Haag bedeutet das, dass Milo_evi_ „schon im voraus verurteilt ist". (15)[18] Der Wandel der USA vom Hitlergegner zur Hegemonialmacht muss somit als kulturelles sowie politisches Phänomen betrachtet werden: „Clinton, mit seinem Genozid gegen die Serben, unterstützt vom müden und schläfrigen Europa, hat das dritte Jahrtausend verdorben ..." (39) Diese Behauptung stammt zwar nicht von Handke, sondern von Milo_evi_, aber sie wird einfach ohne Kommentar angeführt (wie eine andere Behauptung des Angeklagten, die Idee eines Großserbien habe „nie existiert", sei nur „Teil der österreichisch-ungarischen Propaganda" - 40).

Obwohl Handke diesmal einige eigene Nachforschungen unternommen hat,[19] betont er erneut, dass eine Aufrechnung von Tatsachen „die Sache anderer" sei (40). Sein Gebiet ist die Beobachtung von Mensch, Natur und Zivilisation. Er sieht davon ab, Milo_evi_ zu beschreiben, und er stilisiert ihn auch nicht zum Helden oder Märtyrer, doch unfreiwillig (?) assoziiert er den ehemals Mächtigen mit der Kyffhäuser- bzw. Untersberg-Legende (37), was den Serbenführer der Tagespolitik entrückt. Auf dieser Linie liegt auch Handkes Vorschlag, den Richtern einige Beisitzer zu geben, „die in Blut, Herzen und Magen haben, was der Balkan war und ist" (69). Es sind solche 'Kenner', die im Tribunal-Band aufmerksam beobachtet werden. Da ist zum Beispiel ein alter bosnisch-serbischer Forstarbeiter, der im Lager von „Muslimen" gequält wurde. Handke hält sich nicht bei den „monotonen Quälereien" auf („im Tribunalsprotokoll nachzulesen" - 30), denn es ist eine nachhaltige Wirkung der Folter, die ihn interessiert, nämlich der „Raumverlust", d.h., die Unfähigkeit, sich auch in bekannten Gegenden zu orientieren. Der bemitleidenswerte Forstarbeiter verirrt sich sogar im Hotelrestaurant auf dem Weg vom „Frühstücksbüfett" zum Tisch (40). Im übertragenen Sinn ist der (Kultur-)Raum Jugoslawien bis zur Unkenntlichkeit entstellt worden. Fasziniert ist Handke von einem alten Albaner, anscheinend bäuerlicher Herkunft, der an der Nordsee spazierengeht: Obwohl dieser „Dorfmensch" fern der Heimat ist, wirkt er „doch weit irdischer als alle die massenhaften, grellbunten, einheimischen Sonntagsjogger, -biker, -jumper, Rollerskater, Skateboarder, Dünenskifahrer, welche dahergeteufelt waren wie aus einem fremden Sonnensystem". (49) Dies impliziert, dass die westliche Spaßgesellschaft im Grunde gar nicht befugt ist, 'echte' Menschen zu be- und verurteilen. Im Hotel essen der urige Albaner und seine Kumpanen „stumm, die Bissen groß in den Backen" (50), und das erinnert Handke an die Kärtner Dorfbewohner aus seiner Jugendzeit. Die Tatsache, dass der Alte alle Süßspeisenreste aufisst, ist Anlass zu der Bemerkung, „wie früher in Jugoslawien die Albaner berühmt gewesen waren für ihr Eis und als Zuckerbäkker" (50). Hätte man all diese bodenständigen Gestalten - aus welchem Teil Jugoslawiens auch immer - einfach in Ruhe gelassen, so hätten sie sich bestimmt vertragen, soll der Leser wohl schlussfolgern. Nicht von ungefähr hat Handke für Ibrahim Rugova, den Präsidenten der Kosovo-Albaner, nur Spott übrig. Dieser gelte in den französischen Zeitungen als „Gandhi des Balkan" (62), doch Handke habe von diesem „Dichter ... bis heute ... kein Gedicht ... lesen können." Rugova wird als Opportunist hingestellt, der sich vom Volk entfremdet hat. Es ist merkwürdig, dass ein kosmopolitischer Schriftsteller, dessen Werke alles andere als volkstümlich sind, auf einmal auf die Elite schlecht zu sprechen ist und sich als Verteidiger des 'kleinen Mannes' gegen übermächtige Institutionen versteht. Auch wenn Handke zum Schluss betont, die „Untaten auf dem Balkan" hätten „gesühnt zu werden", wirkt er wenig glaubwürdig, wenn er gleich danach fragt: „Aber wie? Aber wo? Und von wem?" (68)
Im April 2004 behauptete Handke, der Krieg gegen Jugoslawien sei „ein fast perfektes Verbrechen", Milo_evi_ eine „tragische[20] Figur", der keine Alternativen sah.[21] Diese Stellungnahmen zum Weltgeschehen hätten an und für sich gar nicht lanciert werden sollen, denn als Handke ein Jahr zuvor an der Universität Salzburg seine Ehrendoktoratsrede hielt, beschloss er seine Ausführungen mit folgenden Worten: „... es ist das letzte Mal, dass ich mein Idiotentum öffentlich zeige. Ab jetzt könnt ihr mich vor Gericht bringen, wenn ich noch einmal im Leben öffentlich auftreten sollte."[22] Wir können nicht wissen, inwiefern es in Zukunft einen politisierenden Handke geben wird, doch es wäre eine Überraschung, wenn es auf lange Sicht einen politisierenden Gstrein geben sollte. Dabei ist der Tiroler mindestens so angriffslustig wie der viel ältere Kärntner, was sich an Hand eines Interviews aus dem Frühjahr 2004 veranschaulichen lässt. Die Interviewerinnen, die sich auf Gstreins Roman Das Handwerk des Tötens[23] konzentrieren und mit dem Autor die Möglichkeiten engagierten Schreibens diskutieren, erfahren im Laufe des Gesprächs, dass Handke für Gstrein eine Art rotes Tuch ist. Gstrein ist „auf Handkes Spuren durch Serbien und Bosnien gefahren" und hat versucht, „Handkes Verirrungen zu verstehen."[24] Handkes ganze Arbeitsweise, nämlich die Beschäftigung mit unscheinbaren Einzelgestalten, wird verworfen, denn „dem Individuum geschieht im Krieg immer Unrecht. Trotzdem sind es natürlich solche Individuen gewesen, die Milo_evi_ an die Macht gebracht und ihn dort gehalten haben". Unter Tränen fragend wird sogar mit Pulp Fiction verglichen: Handkes Text sei „völlig surreal". Angesichts einer derart massiven Attacke liegt die Frage nahe, was für ein Gegenmodell Gstrein anbietet. Es stellt sich heraus, dass der Tiroler von der Untauglichkeit jeglicher Modelle überzeugt ist. Gstrein, der „bei jeder Berührung mit der Wirklichkeit beklommen" wird, sieht sich als Romancier in der „luxuriösen Position ..., nichts anderes zu tun, als Fragen zu stellen und zu konkretisieren", ohne von sich „eindeutige Aussagen zu verlangen". Im Hinblick auf das Thema Krieg glaubt er, „[e]s kann kein gelingendes Schreiben über den Krieg geben. Ein Schreiben über den Krieg muss das Schreiben selbst, das Misslingen des Schreibens über den Krieg thematisieren." Es ist tatsächlich so, das Das Handwerk des Tötens nicht so sehr ein Buch über Jugoslawien als vielmehr ein Versuch über die Aporien der westlichen Intellektuellen geworden ist. Dass das die Absicht war, darf man bezweifeln.

In den verschiedenen Organen des Kulturbetriebs (vom Buch-Tipp bis zur Verlagswerbung) sind zahlreiche Inhaltsangaben zum Roman erschienen. An dieser Stelle soll eine charakteristische, weil kaum zutreffende, angeführt werden:

Der österreichische Journalist Christian Allmayer kommt im Sommer 1999 bei einem Attentat im Kosovo ums Leben. Paul kennt den Kriegsberichterstatter noch aus seiner Studienzeit und nimmt dessen Tod zum Anlass, einen Roman über das Leben und die Arbeit des Journalisten zu schreiben. Gemeinsam mit seiner Freundin Helena und dem namenlosen Ich-Erzähler macht er sich auf die Spuren von Christian Allmayer - mitten durch die noch sichtbaren Verwüstungen der früheren Kampfgebiete in Kroatien und Bosnien.[25]

Gstreins Widmung, „zur Erinnerung an / Gabriel Grüner / (1963-1999) / über dessen Leben und Tod / ich zu wenig weiß / als daß ich / davon erzählen könnte" (7), nimmt die Struktur des Romans vorweg: Im Mittelpunkt steht weder der im Kosovo ermordete Stern-Reporter noch eine auf ihm beruhende fiktionale Figur, sondern eine Leerstelle, die in unzähligen Gesprächen umkreist, aber eigentlich nie gedeutet wird. Unbestreitbar ist höchstens, dass sich Allmayers Leben nicht auf Sprachexperimente und -spiele beschränkt hat, während Paul und der Erzähler fast ausschließlich in einem Wort-Universum ihr kümmerliches Dasein fristen. Ihre gescheiterten Ausbruchsversuche (dies ein Schlüsseltopos im Gstreinschen Œuvre) kreisen um die von Kroatien nach Hamburg emigrierte Helena, die in altbewährter Manier das Lebensprinzip verkörpern muss.

Hauptschauplatz des Romans ist Hamburg, wo der Erzähler, Paul und Helena (wie zeitweise Gstrein selbst) wohnen. Paul und der Erzähler führen lange Gespräche in einem Frühstückscafé in Ottensen, und andere Stadtteile werden auch aufgesucht (der Erzähler wohnt im multikulturellen Altona, Helena im eher bürgerlichen Eppendorf). Alle fünf Kapitel beginnen in Hamburg, und erst im vierten wird eine Reise nach Kroatien unternommen. Im Schlusskapitel fährt Paul auf Allmayers Spuren nach Zagreb, wo er in einem Hotelzimmer Selbstmord begeht. Über die Jugoslawien-Krise wird also vor allem gesprochen, oft mit Bezug auf Allmayers Artikel darüber. Die meisten Dinge erfährt man aus zweiter oder dritter Hand, aus der grossen Distanz also, die der Autor Gstrein bevorzugt.[26] Obwohl Gstrein Leser will, die nicht nur „die bekannten Assoziationen" abrufen,[27] reproduziert er merkwürdigerweise viele Klischeevorstellungen vom Balkan. Der Erzähler nennt es zwar ein altes „Vorurteil, daß man den Balkan nehmen sollte, wie er war, die Katastrophen dort als etwas Naturgegebenes, wenn keine Erklärung mehr ausreichte", doch gleich danach vergleicht er selbst das alte Jugoslawien mit einer geschlossenen Anstalt (33f.). Paul betastet Helenas „slawische" Backenknochen und sagt ihr, „ihr seid ein Kriegsvolk" (39). In einem kroatischen Lokal in Hamburg finden sich „finster{e] ... Gestalten" an der Theke (48). Allmayers Wirtin in Zagreb wettert gegen die „Ungeheuerlichkeiten" der „Wilden, ... Byzantiner, ... Barbaren" (114). Eine Kundin in Helenas Hamburger Firma meint, man müsse die „verfeindeten Parteien" einfach „ausbluten lassen", denn Jugoslawien sei „ein so schönes Land und so unvernünftige Menschen" (193). Sogar Allmayer, der jahrelang versucht, die Konflikte auf dem Balkan zu begreifen, meint (bzw., es wird referiert, dass er es meint!), „sobald man die Leute dort nur einen Augenblick allein läßt, schlagen sie sich sofort wieder | die Schädel ein". (241f.) Überraschenderweise ist es der Erzähler, der Allmayer widerspricht: Hatte der Kriegsreporter geschrieben, es sei absurd, dass es einen Konflikt um „diese Ödnis" geben könnte, so erklärt der Erzähler, es sei durchaus verständlich, dass die Leute „ihren Flecken Heimat | ... bis auf den letzten Tropfen Blut" verteidigten (284f.). Gerade in Deutschland und Österreich, wo es nach 1945 lange verpönt war, von 'Heimat' überhaupt zu reden (abgesehen vom Kitsch), fällt eine solche Sichtweise aus dem Rahmen. Hier steht sie allerdings nur im Raum, ohne mit Betrachtungen über das Wesen der westeuropäischen Dekadenz verknüpft zu werden, wie das in Botho Strauß' „Anschwellendem Bocksgesang" der Fall war.

Allmayers Berichte aus den verschiedenen „Todeszonen" (149) bilden die Grundlage für die Darstellung des Krieges, doch sie wirken wie verstreute Mosaiksteine, die nie zu einem Gesamtbild zusammengefügt werden. Diese Berichte entfalten auch je nach Rezipient unterschiedliche Wirkungen. Der Erzähler, zum Beispiel, fühlt sich von den vielen „Grausamkeiten" und „Greuel[n]" (57)[28] so überwältigt, dass er nur einzelne Bilder im Kopf behält - nicht nur Flüchtlingstrecks, sondern auch Dinge, die von dem so scharf kritisierten Handke stammen könnten. z.B.: „... die beiden alten Frauen aus Split, die ihm [Allmayer] erzählt hatten, sie würden nach der Rückkehr in ihre Dörfer wieder drei Schweine haben und den besten Schinken von ganz Dalmatien machen ..." (59) Paul, der alte Innsbrucker Schulkamerad von Allmayer, ist seit dem Tod des Reporters völlig auf Jugoslawien fixiert (175f.), obwohl er früher der typisch desinteressierte Westeuropäer war: „Ich habe die längst Zeit gar nicht richtig begriffen, daß der Krieg begonnen hatte ... Gerade weil alles so nah war, ist es mir ganz und gar unwahrscheinlich vorgekommen." (104) An anderer Stelle heißt es, Zagreb sei „ein Katzensprung bis zur österreichischen Grenze" (177). Die physische Nähe ist also unbedeutend angesichts der psychischen Distanz. Der Zweite Weltkrieg ist nicht so lange her (Echos davon tauchen auch öfter im Roman auf [29]), aber der alles nivellierende Nachkriegswohlstand - zumindest bis zu den jüngsten Einbrüchen bzw. den Terroranschlägen - hat vieles in Vergessenheit geraten lassen. Das Verdrängte kann jedoch wiederkommen, wie ein gewisser Verdacht bezüglich Allmayer vorführt: Es wird vermutet (wenn auch nie bewiesen), dass der Reporter selbst nicht nur schiessen wollte, sondern sogar einen Gefangenen getötet hat.[30] Die bloße Möglichkeit, dass dies tatsächlich passiert ist, entlastet sozusagen die eher blasierten, zynischen Intellektuellen wie den Erzähler, die in erster Linie mit eigenen Problemen (Problemchen?) beschäftigt sind. Es ist kein Wunder, dass die engagierten Schriftsteller, die versuchen, sich auf ihre Weise in den Balkan-Konflikt einzumischen, boshaft karikiert werden, nicht zuletzt Susan Sontag, zu der es heißt: die „aufgetakelt[e] New Yorker Zicke, die als Weltberühmtheit nach Sarajevo gekommen war und vor laufenden Kameras ein Durchschußloch in ihrem knöchellangen Pelzmantel vorgeführt hatte, als wäre es eine Trophäe." (76)[31] Die Liebe ist, so erfahren wir am Schluss des Romans, ein viel effektiveres Betäubungsmittel als das Politisieren. Der Erzähler darf die so lange ersehnte Liebesnacht mit Helena verbringen, und der gescheiterte Schriftsteller Paul ist - endlich! - vergessen. Dessen Selbstmord führt zwar zu der Verpflichtung des Erzählers, „selbst etwas über Allmayer zu machen ... an seiner Stelle" (381), doch man kann sich kaum vorstellen, dass das Resultat von großem Interesse wäre. Trotz des Titels bleibt Jugoslawien in Das Handwerk des Tötens eine Nebensache, höchstens eine zeitweilige Verstörung, die aus einer ganz anderen Welt kommt. Als der Erzähler gegen Ende erleichert nach Hamburg zurückkommt, bekennt er: „[I]ch mochte die Stadt wie schon lange nicht mehr, ihre Weite, ihre Helligkeit ..." (333) Von den dazugehörigen Schatten ist keine Rede. Vielleicht wollte Gstrein mit seinem Roman veranschaulichen, dass das von Herrn Rumsfeld belächelte 'alte Europa' tatsächlich außerstande ist, sich mehr als kurzfristig mit unangenehmen Dingen zu befassen. Seine schriftstellerischen Bemühungen laufen diesmal jedenfalls darauf hinaus. Demgegenüber bekommen Peter Handkes Donquichotterien einen ganz anderen Stellenwert.

Die kritische Rezeption von Gstreins Roman, der bereits vor seiner Veröffentlichung preisgekrönt war (Uwe-Johnson-Preis 2003), schwankte zwischen Lobeshymne und Ablehnung, blieb aber - anders als im Fall Handke - im literarischen Rahmen. Die Begeisterten priesen die Handhabe einer differenzierten Sprache und sahen Gstrein als würdigen Vertreter der Postmoderne (auch wenn sie diesen Ausdruck nicht verwendeten): Das Handwerk des Tötens sei „eine geglückte Erzählung über die Unmöglichkeit des Erzählens",[32] ein „gelungene[r] Roman über das Nichtzustandekommen eines Romans".[33] Gstreins „authentische" Fiktion fungiere als „Mittel gegen die Illusion authentischer Erinnerungen".[34] Auf der anderen Seite konnte man Gstreins „Hang ..., theorieschwanger über das Schreiben im Medienzeitalter nachzudenken"[35] oder „sich in endlosem Räsonieren" zu verlieren[36] wenig abgewinnen. Die Hauptkontroverse drehte sich darum, ob es erlaubt sei, so viele Details aus dem Leben eines vor kurzer Zeit ermordeten Menschen (d.i. Gabriel Grüner) beim Aufbau einer fiktiven Gestalt zu verwenden.[37] Angesichts der Kritik an seinem Verfahren sah sich Gstrein genötigt, sein Vorgehen zu rechtifertigen, und zwar in dem Band Wem gehört eine Geschichte?[38] Das Erstaunliche ist, dass man sich weniger daran störte, dass der Autor ein (weiteres) Buch über die Unmöglichkeit objektiver Wahrnehmung geschrieben hatte, nicht aber eines über die Kriege im ehemaligen Jugoslawien. Obwohl das Werk durchaus so vermarktet wurde, kam die Schreibmotivation von woanders her:

Es gab zwei Anlässe, einmal den realen Tod eines Sternreporters, Gabriel Grüner, den ich gekannt habe. Der zweite Anlass war, dass ich ziemlich genau zu der Zeit als dieses Unglück im Kosovo geschehen ist, mehrfach nach Kroatien und Bosnien gereist bin. Es war für mich wie eine Reise in die eigene Herkunft. In diesen Dörfern, in den patriarchischen Dorfgesellschaften, sind mir Dinge vorstellbar geworden, die einen (sic!) vielleicht lieber nicht vorstellbar wären.[39]

Die erwähnten Reisen waren „privater" Art, wie Gstrein an anderer Stelle erklärt hat.[40] Das Heraufbeschwören von Kindheitserinnerungen ist allerdings nicht unbedingt dazu angetan, das Besondere der Lage in Bosnien, Kroatien, Serbien oder im Kosovo ans Licht zu bringen. Die einzige wichtige Figur im Roman, die das spezifisch Jugoslawische vertritt, nämlich Helena, ist öfter Objekt der Begierde als Quelle kulturhistorischer Erkenntnisse. Gstreins Behauptung, er wisse nicht, ob diese Figur „eine Frau hat sein müssen",[41] muss einen befremden. Wäre Helena ein Mann gewesen, so hätte Gstrein einen ganz anderen Roman schreiben müssen, und ein solcher Roman wäre mit seiner relativistischen [42] Weltanschauung kaum zu vereinbaren gewesen. Man kann Peter Handke vorwerfen, dank seiner Blauäugigkeit die allgemeine Lage und die Rolle Milo_evi_s falsch eingeschätzt zu haben. Mit seiner Weigerung, eindeutig Stellung zu beziehen, lag Gstrein der allgemeinen Stimmung in Europa [43] auf jeden Fall näher. Dies kann man je nach eigener Auffassung entweder begrüßen oder beklagen.



ANMERKUNGEN

1 DUDEN. Deutsches Universalwörterbuch (Mannheim/Wien/Zürich: Dudenverlag, 2. Aufl. 1989), 204.

2 "Mit Slavko Ninic sprach Gerald Grassl". Interview auf der Webseite der Gruppe „Wiener Tschuschen- kapelle" (2001). http://www.tschuschenkapelle.at/pages/presse04.htm

3 Nation und Nationalbewußtsein in Österreich, hrsg. von Albert Reiterer (Wien: VWGÖ [Verband der wissenschaftlichen Gesellschaften Österreichs], 1988), 121-122. Zitiert nach Peter Thaler, The Ambivalence of Identity. The Austrian Experience of Nation-Building in a Modern Society (West Lafayette: Purdue UP, 2001), 79.

4 Peter Handke, Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1996) und Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1996).

5 Vgl. dazu Dunja Mel_i_, "Der Bankrott der kritischen Intellektuellen", Europa im Krieg. Die Debatte über den Krieg im ehemaligen Jugoslawien, hrsg. von Willi Winkler (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1992), 35-45. Bemerkenswert in diesem Kontext ist Mel_i_s Beurteilung vom 'Historikerstreit' und von
der sog. 'Heidegger-Kontroverse': „Die risikolose Leidenschaft bei der Beschäftigung mit vergangenem Unrecht entspricht der - zuweilen ostentativen - Interesselosigkeit gegenüber dem realen, vor unseren Augen sich vollziehenden, zum Himmel schreienden Unrecht eines national-kommunistischen Regimes und seines Eroberungs- und Vertreibungskrieges." (36)

6 Peter Handke, Unter Tränen fragend. Nachträgliche Aufzeichnungen von zwei Jugoslawien-Durchquerungen im Krieg, März und April 1999. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2000. Seitenangaben im Text der Arbeit.

7Zu El País sagt Handke: "Es war einmal eine europäische Zeitung." (13) Das klingt allerdings sehr milde im Vergleich zu der Umtaufe der FAZ in den „Frankfurter Beobachter" (58), was einen an das Nazi-Blatt Völkischer Beobachter erinnern soll. Analog dazu heißt eine westliche Journalistin „Westkriegsblitzmädel" (43).

8 Dementsprechend kann eine jugoslawischen Journalistin, die nach Österreich geflohen ist, kaum noch sprechen. (149)

9 Vorher hatte sich Handke die Schuldfrage bei einem Spaziergang überlegt. Da ließ er „das Land"
(nicht die Menschen, wohlgemerkt) sagen: „Nein, nicht selber schuld! Nicht schuld!" (30) Um den Kritikern die Arbeit zu ersparen, fügte er gleich hinzu: „Achtung! Antirationale Mystik!" Solche Selbst-Kommentare kommen in den Jugoslawien-Büchern oft vor.

10 Eine Zusammenfassung der Diskussion bietet der Band Der Kosovo-Krieg und das Völkerrecht, hrsg. von Reinhard Merkel (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2000). Zu den Beiträgen gehört Jürgen Habermas' Aufsatz „Bestialität und Humanität. Ein Krieg an der Grenze zwischen Recht und Moral"
(51-65).

11 Handke hat zwar Bedenken, diesen Ausdruck aus der serbischen Propaganda zu verwenden, doch
„für einmal" will er „ja zu solcher Formel" sagen.

12 Dieser Großvater "stimmte 1920 für den Anschluss seiner Kärntner Heimat an Jugoslawien, wofür er
'von den Deutschsprachigen mit dem Erschlagen bedroht' wurde". Vgl. Georg Pichler, Die Beschreibung des Glücks. Peter Handke. Eine Biographie (Wien: Ueberreuter, 2002), 14.

13 Handke sieht davon ab, die 'Jugoslawen' zu kritisieren, aber er referiert immerhin die Meinung seines
Freundes Zlatko, der behauptet, die Bonzen hätten „das alte Jugoslawien ruiniert". (107)

14 Der Kino-Fan Handke fragt sich sogar, "ob die westliche Welt nicht jegliche Unterscheidungskraft und mit der Unterscheidungskraft ihre Seele, und mit dieser ihren freien vielfältigen Blick verloren hat
ab jener Zeitschwelle, da die stupid-selbstgerechten Filme eines Clint Eastwood im selben Atemzug genannt wurden mit jeden John Fords?"

15 „Die Bomben haben immerhin bewirkt, daß wenigstens eine Jugend auf der Welt geheilt ist von CC und McD - (Achtung, antiamerikanisch!)." (44)

16 Handkes Trauer befremdet diesen Beobacher etwas, da die Utopie in den meisten Werken des Schriftstellers eher individuell-ästhetisch als philosophisch-politisch ist.

17 Peter Handke, Rund um das große Tribunal (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003). Seitenangaben
im Text der Arbeit.

18 Handke fügt zwar hinzu, "Aber vielleicht irre ich mich", aber das ist kaum ernst zu nehmen.

19 Er weist z.B. auf Fotos im Spiegel und anderswo hin, die nicht die Leute zeigten, die in den
Bildbeschreibungen erwähnt wurden (33-34).

20 Beim Stichwort "tragisch" macht Handke deutlich, dass er nicht mit rechtskonservativen bzw. nach rechts gewendeten Intellektuellen wie Botho Strauß in einen Topf geworfen werden möchte. In Unter Tränen fragend spricht er vom „ewig tragische[n] ... Amselfeld-Kosovo" und fügt in Klammern gleich hinzu: „nicht mit 'Bocksgesang' zu übersetzen" (132).

21 "On m'a accusé d'être serbophile comme si j'étais nécrophile." [Bernard Molino interviewt
Peter Handke.] Le Figaro littéraire, 15. April 2004. Zitiert nach Martina Meister, "Berichte des
Messdieners. Handkes Serbien im 'Figaro'", Frankfurter Rundschau, 16. April 2004.

22 Transkribierte Rede von Peter Handke an der Universität Salzburg, abgedruckt in der Frankfurter Rundschau, 20. Juni 2003.

23 Norbert Gstrein, Das Handwerk des Tötens (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003). Seitenangaben
im Text der Arbeit.

24 "'Ich werde bei jeder Berührung mit der Wirklichkeit beklommen.' Ein Gespräch mit Norbert Gstrein über Jugoslawien, Peter Handke und den Schreibtisch als gefährlichen Ort", Süddeutsche Zeitung, 28. April 2004. [Das Interview wurde von Julia Encke und Ijoma Mangold geführt.] Weitere Zitate aus diesem Interview im Text des Vortrags.

25 Quelle: http://www.3sat.de/3sat.php?http://www.3sat.de/kulturzeit/specials/51251/

26 Für einen Roman sei ein "kalte[r] Blick" notwendig. Das sagt Gstrein im 2004er Interview (s. Anm. 24).

27 ebenda.

28 Der Hinweis auf "bis dahin mehr oder weniger unbescholtene Leute", die Täter wurden, muss wohl auf Christopher Browning (Ordinary Men) und Daniel Goldhagen (Hitler's Willing Executioners) zurückgeführt werden, obwohl die beiden Forscher nicht namentlich genannt werden.

29 So darf z.B. der "Angriff der Hakenkreuzbomber auf Belgrad am 6. April 1941" nicht fehlen, auch nicht die Erschießung von serbischen Geiseln als „Vergeltungsmaßnahme" (198f.) oder die Gerüchte vom Anfang des Krieges, die Österreicher wollten mit den Slowenen ein „Viertes Reich" errichten (271).

30 Es ist bemerkenswert, dass eine Besprechung von Handkes Unter Tränen fragend mit folgenden Worten schließt: „Ja, man darf Partisanen-Sehnsucht heraushören: Ich, ich, ich - will schießen." Aus: Ina Hartwig, „Totalnihilismus vor Seelenlandschaft", Frankfurter Rundschau, 22. April 2000.

31 Abgesehen von der Idealisierung der schönen Helena neigt Gstrein dazu, als nachgeborener Macho an Frauen kein gutes Haar zu lassen. Die Jugoslawienfahrt von Julie Zeh, die ihr eigenes Buch zur Krise publizierte (Die Stille ist ein Geräusch. Eine Fahrt durch Bosnien, 2002), wird als „Irrfahrt eines deutschen Girlies" (235) belächelt. Die Frau des mysteriösen Autors Waldner hat Arme und Schenkel, die „bleich und teigig" sind, und sie redet mit einem „auf- und zuklappende[m] Fischmaul" (291) Der mutmaßliche kroatische Kriegsverbrecher Slavko spricht „zärtlich fast, verführerisch wie eine Frau" (347). Dazu passt überhaupt nicht, dass Paul von Männern aus seinem Tiroler Dorf spricht, „die ihre Tiere besser behandelten als ihre Frauen und ihre Kinder" (367). Man darf vermuten, dass der auf einem Dorf aufgewachsene Gstrein selbst solche Männer zur Genüge kennt.

32 Andreas Breitenstein, "Allmayers Wahn", Neue Zürcher Zeitung, 29. Juli 2003.

33 Gerrit Bartels, "Die Dauerfälscher", taz, 9. Aug. 2003.

34 Sigrid Weigel, "Alles wahr, weil erfunden", Frankfurter Rundschau, 3. Januar 2004.

35 Martin Droschke, "Norbert Gstrein: Das Handwerk des Tötens", Literatur, 13. Aug. 2003.[http://www.idowa.de/idowa/bereich_de/nachrichten/nachricht.html?redaktion_id+1047;nachrichten_id=
451941]

36 Roland Mischke, "Tod eines Kriegsberichterstatters", Rheinischer Merkur, 7. August 2003.

37 Eine Wortmeldung stammte von Grüners Lebensgefährtin Beatrix Gerstberger. Vgl. Ihr eigenes Grüner-Porträt im von ihr herausgegebenen Band Keine Zeit zum Abschiednehmen (München: Marion von Schröder Verlag, 2003).

38 Norbert Gstrein, Wem gehört eine Geschichte? Fakten, Fiktionen und Beweismittel gegen alle Wahrscheinlichkeit des wirklichen Lebens (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2004).

39 Zitiert nach Marianne Scheuerl, "Buchtipp der Woche: Das Handwerk des Tötens", Norddeutscher Runkfunk, Sendetermin 12. August 2003. [http://www.ndrinfo.de/ndrinfo_pages_std/0,2758,OID141918_REF648,00.html]

40 Interview mit dem Hessischen Runkfunk auf der Frankfurter Buchmesse, 12. Oktober 2003. [http://www.hr-online.de/d/specials/buchmesse2003/special_standard_einzel_jsp/key=special_standard_580547.html Die privaten Beweggründe verdrängten anscheinend eine Einsicht, die Gstrein selbst formuliert hat:
„Eigentlich sind diese jugoslawischen Kriege fast noch zu nah, als dass man literarisch darüber schreiben könnte." Aus: „Von Liebe und Hass. Österreichische Autoren auf der Frankfurter Buchmesse 2003." http://www.3sat.de/3sat.php?http://www.3sat.de/kulturzeit/specials/51423

41 Aus dem Interview mit dem Hessischen Rundfunk (Anm. 40).

42 "Das Relative ist das Spezialgebiet Norbert Gstreins." Aus: Paul Jandl, „Diese nicht aufhören wollende Sehnsucht", Neue Zürcher Zeitung, 27. August 2001.

43 Stellvertretend für viele sei hier die Formulierung von Richard Kämmerlings angeführt: Gstreins Werk sei ein „großer Roman über die Unmöglichkeit, sich ein wahres Bild vom Krieg zu machen". Aus: R.K., „Jede Schrift bleibt immer nur ein Manöver", Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2. August 2003.

 


as of 11/4/2004