a peer reviewed scholarly journal on literature and art in the German speaking countries after 1945

ISSN 1093-6025

published at

Dickinson College
Carlisle, PA

 

 
 Glossen 21: Gespräch

Helga Schubert im Gespräch

Anfang des Jahres feierte Helga Schubert ihren 65. Geburtstag. Glossen gratuliert und stellt die Autorin mit vier kurzen Lesungen

-- Der Baum
-- Himmel
-- Da drinnen
-- Ein Satz

und mit der Transkription einer in ihrer Berliner Wohnung produzierten Videoaufzeichnung vor. Ihr Ringen um eine neue schriftstellerische Identität im wiedervereinigten Deutschland steht dabei im Mittelpunkt. - Ihrem Lebensgefährten Johannes Helm und seinen Bildern macht sie eine Liebeserklärung in einem Satz. Einige Bilder von Johannes Helm waren gerade (Mai 2002) in der Berliner Galerie „Ost-Art“ ausgestellt.

Christel und Heinz Blumensath konnten mit Helga Schubert in ihrer Berliner Wohnung ausführlich sprechen. Das Interview führte Christel Blumensath, Bild- und Tongestaltung: Heinz Blumensath.

Du hast in den letzten Jahren Bücher über Opfer und Täter in der NS-Zeit geschrieben. Was waren Deine Beweggründe?

Ich hab zwei Bücher geschrieben über Täter und Opfer in der Nazi-Zeit, das erste heißt Judasfrauen, das zweite heißt Die Welt da drinnen. In einem Fall sind die Opfer die denunzierten Menschen, die dann vor Gericht gekommen sind in der Nazizeit, die dann auch zum Tode verurteilt wurden oder ins Konzentrationslager kamen und die Täterinnen sind Frauen gewesen, die diese Menschen verraten haben. Das waren ganz normale Menschen, sogenannte normale Menschen. In meinem zweiten Buch sind die Opfer geisteskranke Menschen, sogenannte geisteskranke Menschen, auch in der Nazizeit, und die Täter sind Männer und Frauen, nämlich das medizinische Pflegepersonal und auch die Bürokraten, die die Tötung angeordnet haben.

Es handelt sich in meinem zweiten Buch Die Welt da drinnen um die sogenannte Euthanasie der Nationalsozialisten, und ich habe diese beiden Themen gewählt. Sie stehen für mich in einem ganz starken Zusammenhang, weil sie in beiden Fällen die eigentlich ja fast alltäglichen Probleme des Verhaltens in einer Diktatur zeigen. In beiden Fällen konnte man sagen: „Ich war es nicht, Adolf Hitler ist es gewesen“. Das hat ein anderer Mensch angeordnet, ich musste ja nur.

In beiden Fällen habe ich die furchtbaren Folgen gezeigt, die dadurch entstehen, dass Gewaltenteilung aufhört.

Ich hab die Probleme in einer Diktatur gezeigt und zwar im Extrem - jedes Mal hat es im Tod geendet, ich hab die Probleme von Menschen gezeigt, auch Täter zu werden, und ich zeige eigentlich auch, dass sowohl die denunzierenden Frauen in Judasfrauen als auch die tötenden Ärzte und Schwestern in Die Welt da drinnen nicht zu Mördern geworden wären, wenn sie in einer offenen Gesellschaft gelebt hätten.

Die offene Gesellschaft ist ein viel stärkerer Schutz vor der eigenen Destruktivität. Meiner Meinung nach ist es eigentlich indirekt dann auch ein politisches Problem, ich bin ja politisch sehr interessiert und hab ja selbst in einer Diktatur gelebt, die ich in ihrer Struktur durchaus auch mit der Nazizeit vergleiche, die Ziele der herrschenden Ideologie sind andere gewesen, aber dass auch dort die Struktur der Gewaltenteilung fehlte ist ja ähnlich gewesen.

Ich kann also sozusagen einen Abglanz der totalitären Gesellschaft, in der ich gelebt habe, sehen. Und ich konnte sie sehen. Ich habe in der DDR-Zeit ja ganz genau die Zwänge auch erlebt, in denen man lebt und arbeitet und auch schreibt, und konnte die Akten, die ich aus der Nazizeit gefunden habe, dadurch eigentlich besser verstehen und habe auch meine eigene Zeit, in der ich in der DDR lebte - die Judasfrauen habe ich ja in der DDR-Zeit schon geschrieben - besser für mich verstehen und auch das gefährliche in jeder geschlossenen Gesellschaft besser sehen als ich es verstanden hätte, wenn ich ohne diese Akten und ohne die Darstellung dieser Akten aus der Nazizeit in der DDR gelebt hätte. Das ist vielleicht etwas kompliziert ausgedrückt, aber für mich ist es selbst eine Hilfe gewesen.

Ich habe an den Akten der Nazizeit gesehen, wie die Destruktivität in einer Gesellschaft auch zu einem Selbstzerfall führt. Wie ein zerfallender Giftpilz ist das, weil es sich dann schließlich nicht mehr mit der Unterstützung der Bevölkerung halten lässt, sondern eigentlich nur noch mit „teile und herrsche“ und Terror, der Vernichtung der Geisteskranken und der Vernichtung jeder anderen politischen Meinung.

Judasfrauen ist für mich so ein typisches Merkmal einer geschlossenen Gesellschaft, wie es die Nazizeit war, dass ich daran für mich persönlich die Struktur erkannt habe und darum ist das für mich jetzt sozusagen erledigt, ich verstehe diese Gesellschaftsordnung.

Wie erfährst du heute selbst den Unterschied einer Schrifstellerexistenz als Autorin in der DDR und nach der Wende, der Wiedervereinigung?

Mir ist die offene Gesellschaft ja eigentlich immer noch unbekannt. Ich habe, als ich in der geschlossenen Gesellschaft der DDR gelebt habe, die offene Gesellschaft eigentlich unheimlich idealisiert. Und war auch sehr froh, dass die DDR zusammengebrochen ist und mit ihr diese Struktur. Ich hab eigentlich gedacht, dass sich noch mehr Menschen darüber freuen werden, dass sie ähnlich denken wie ich. Und bin eigentlich zunächst von meinen eigenen Mitmenschen sehr enttäuscht gewesen. Während der Wende war ich unheimlich stolz auf meine Mitbürger in der DDR, dass sie sich auf die Straße getraut haben und eigentlich ja auch dann das alles so satt hatten. Diese DDR, diesen Mief, diesen Terror des Kleinbürgertums, so habe ich es empfunden. Und dann war ich von ihnen enttäuscht, dass sie so wenig die Chancen dieser offenen Gesellschaft sahen und habe mich eigentlich innerlich so ein bisschen entfernt von meinen eigenen Mitbürgern. Und das hat mir nicht gut getan, weil ich mich in der DDR-Zeit innerlich ganz nah gefühlt habe und da war ich eigentlich auch ganz liebevoll eingestellt zu meinen Mitbürgern. Das hat sich im Schreiben gezeigt, ich habe den Alltag in kurzen Erzählungen beschrieben und war eigentlich ganz auf der Seite meiner Leser. Besonders auch der Frauen.

Jetzt bin ich nicht mehr auf der Seite meiner Leser und hab mich ganz in die Vergangenheit begeben. Jetzt, wo ich das zweite Buch, das sich um die Nazizeit dreht, abgeschlossen habe, merke ich, denn ich bin ja nun außerdem auch noch nach West-Berlin gezogen, dass ich innerlich meine Wurzeln verlassen habe.

Das ist, was den Alltag betrifft, dem Schreiben nicht gut bekommen. Das ist mir auch politisch nicht gut bekommen. Obwohl: Ich habe gar nichts zurückzunehmen in meiner Begeisterung für die offene Gesellschaft, mir ist vollkommen klar, dass hier der Markt herrscht und dass das Schreiben lange nicht mehr eine solche Bedeutung hat, es ist überhaupt keine Lebenshilfe mehr, ich muss nichts mehr ausdrücken, was andere Leute sonst nicht wagen auszudrücken, weil ich ein Hofnarr bin. Das ist alles weg gefallen. Das fand ich aber sowieso nicht gut. Ich habe die Rolle der Schriftstellerin in der DDR, die etwas sagen darf, was andere nicht sagen dürfen, die sozusagen etwas genehmigt sagen darf, nie genossen. Ich habe es nicht gut gefunden, dass ganz normale gebildete, interessierte Leute da unten bei irgendeiner Buchhändlertagung sitzen und meinen Geschichten zuhören, die ich in dem Land, in dem sie leben, nicht veröffentlichen kann.

Das ist eine solche Absurdität gewesen. Die wollten das doch lieber selbst lesen als hören. Das ist eine völlig absurde Situation gewesen und wir Schriftsteller sind, ob wir nun angegriffen oder nur teilweise veröffentlicht oder vom Staatssicherheitsdienst beobachtet wurden, natürlich auch zu Ruhm und Ehre der DDR gefördert worden. Das ist ja klar. Die Hofnarren dürfen viel mehr als die übrigen Untertanen, ich war mir dieser Rolle in der DDR bewusst.

Das alles ist jetzt weggefallen, die Hofnarrentätigkeit ist jetzt weg. Ich bedaure es nicht. Was ich bedaure ist, dass ich nicht auf der gleichen Augenhöhe geblieben bin wie meine damaligen Leser, ich hab sie zum Beispiel gestern bei einer Lesung wieder gesehen: Das war so ein DDR-Publikum zum größten Teil wie früher und ich hab gedacht: Das sind ja eigentlich noch die selben gebildeten freundlichen Menschen, sie sind durch diese Westwelt verschüchtert , die ihnen nun ein bisschen niedrigere Renten gibt als denen im Westen, also die sind eigentlich dieselben geblieben und ich darf sie nicht verachten. Und ich muss mir klar werden, dass ich ja gerade durch diese Hofnarrentätigkeit viel eher privilegiert war und viel eher diese offene Gesellschaft gesehen habe im Westen, wenn auch nur besuchsweise, so dass ich vielleicht in dieser Beziehung ein bisschen weiter bin, auch mit den Illusionen, die ich nicht hatte.

Also, die Illusionen, die bei vielen meiner Mitbürger zerstört worden sind durch die offene Gesellschaft, mussten bei mir nicht zerstört werden, weil ich sie nicht hatte. Ich hatte in materieller Beziehung keine Illusionen. Ich hatte meine Hoffnungen nur in die Freiheit der Information gesetzt, in die Freiheit der Rede und ich habe hauptsächlich gelitten in der DDR unter der Enge und der Geschmacklosigkeit und der Lüge. Und das ist alles weggefallen, ich verdiene wesentlich weniger als damals, ich kann mir aber jetzt alle Zeitungen kaufen. Ich kann um die Ecke gehen und mir alle Zeitungen kaufen, die ich will, ich kann in die Staatsbibliothek gehen, kann mir für 2 Euro 10 eine Fahrkarte kaufen und dort alle Zeitungen von heute durchlesen ohne überhaupt zusätzlich Geld dafür zu bezahlen. Also ich habe den Zugang zu den Büchern, die jetzt geschrieben werden. Ich habe den Zugang zu den Zeitungen, zu den Gedanken und das ist das für mich wesentlichste gewesen.

Wenn ich jetzt als Schriftstellerin wieder meine Mitbürger, die diese Illusion ja hatten und jetzt alle wieder begraben müssen, wenn ich die jetzt kriegen könnte, dann wäre ich wieder näher bei meinen Wurzeln. Ich weiß aber gar nicht, ob ich das schaffe, weil ich mich so stark in die Geschichte verflüchtigt habe. Mit den Judasfrauen, in mit Die Welt da drinnen hab ich mich immer in der Zeit um 1941 aufgehalten, dass eigentlich der Abstand zu Leuten immer größer wird, die den Vorteil und die Menschlichkeit einer Demokratie nicht erkennen.

Sind die Aufgaben für Schriftsteller in Ost und West gleich? Erschließen sie nicht immer die Welt?

Das ist genau mein Problem, dass ich zu stark in letzter Zeit mich selbst politisiert habe. Ich bin weg vom Beschreiben einfacher und existenzieller Probleme und habe dadurch eigentlich die Gemeinsamkeit der Probleme von Menschen in der ganzen Welt vernachlässigt. Ich habe zu stark eigentlich recht haben wollen. Ich wollte zu stark sagen: „Nun seht doch mal endlich ein, dass ihr einen furchtbaren Mist hinter Euch gelassen habt.“ Und das ist ja kein schriftstellerisches Anliegen, sondern das ist eigentlich ein politisches Anliegen, das ich da habe. Wenn ich als Schriftstellerin weiter arbeiten will und das will ich doch auch, dann muss ich wieder genau auf die menschliche Ebene zurück. Ich muss weg von der allgemeinen Erleichterung, die ich immer noch habe, zu den menschlichen Problemen, die mich doch sehr interessieren, die aber für mich völlig überlagert waren von der Freude, dass die DDR zu Ende ist. Und alle sagen, wieso, ein 12-jähriges Kind war damals noch gar nicht auf der Welt.

Ich habe einen echten Diktaturschaden in einem Maße erlitten, dass ich im Schreiben gehindert worden bin, weil ich immer noch der ganzen Welt sagen will: &Mac226;guck mal, in welcher Scheiße haben wir gelebt!‘ Aber inzwischen merke ich, dass das überhaupt niemand bestreitet, und ich muss das niemandem beweisen und ich muss auch meine Erleichterung nicht immer äußern. Die ist auch überhaupt nicht literarisch.

Ich habe ein wirkliches Problem, in der jetzigen Welt existenzielle Probleme zu finden, die ich als Schriftstellerin beschreibe, weil ich immer denke, die Ohnmacht eines Menschen in einer geschlossenen Gesellschaft ist so groß, dass sie nicht vergleichbar ist mit der Ohnmacht desselben Menschen in einer Lebenssituation, aus der er sich in dem Moment nicht befreien kann. Ich denke immer, daraus kann er sich befreien, das hab ich aber früher immer als Synonym genommen. Ich habe Eheprobleme und andere menschliche Probleme immer so in ihrer ganzen Verknotung dargestellt, weil ich auch selber immer gedacht habe, es gibt einen Ausweg. Ich wollte immer früher Mut machen, das war aber immer auch ein Mutmachen, sich aus der gesamten Gesellschaft und dieser Struktur eventuell auch befreien zu können. Und jetzt möchte ich mich aus dieser Gesellschaft nicht befreien, das ist ganz merkwürdig, ich stehe nicht im Gegensatz zu ihr. Und ich hab mir schon Gedanken darüber gemacht, was ich als nächstes wieder schreiben könnte. Ich denke, ich müsste wieder in die Vergangenheit gehen.

Es ist mir klar, dass Frauen in Ost und West oder auch Menschen oder Männer in Ost und West Liebesprobleme haben, aber sie interessieren mich in der Darstellung jetzt nicht so. Das habe ich verstanden. Und ich kann immer nur als Schriftstellerin Dinge beschreiben, die ich noch nicht verstanden habe. Also eigentlich ist es traurig, nicht? Die DDR ist zu Ende (lacht), mein größter Feind ist tot. Als er noch in den Gedanken der Leute war, hab ich ihn immer noch bekämpft, aber jetzt ist er auch in den Gedanken der Leute nicht mehr. Und nun brauche ich eigentlich einen neuen Feind.

Ich bin ja keine Journalistin. Ich bin keine Historikerin und ich kann als Schriftstellerin nur das darstellen, was mit meinen eigenen existenziellen Problemen zu tun hat.

Ich habe ganz starke existenzielle Probleme.

Das sind die Probleme der Wirklichkeitssicht. Zum Beispiel der Zweifel, ist meine Sicht auf die Wirklichkeit überhaupt mehrheitsfähig? Bin ich damit ganz allein auf der Welt? Und die Beobachtung, daß in Deutschland autoritäre Strukturen aus der Nazizeit jetzt noch wirken, im Osten mehr als im Westen. Das ist etwas, was mich als Schriftstellerin nicht interessiert. Es ist etwas, worunter ich leide.

Ich gehe gerne in eine freundliche Atmosphäre und ich liebe es, freundlich behandelt zu werden. Ich möchte auch selbst andere freundlich behandeln. Ich möchte in einer Welt leben und ich wünsche mir, dass es auch in Deutschland so ist, in der man offen für die Vergangenheit ist. In der man einfach die Gegenwart dieser Vergangenheit spürt, in der man sich nicht davor verschließt und in der man davon nicht gelangweilt ist.

Das wünsch ich mir alles. Aber das wünsch ich mir als Mensch. Das wünsch ich mir als Staatsbürgerin.

Aber als Schriftstellerin, als Helga Schubert, kann ich nur Probleme darstellen, die mit Entfremdung zu tun haben, persönlicher Entfremdung zu tun haben, die mit dem Wunsch zu tun haben, andere Leute als verrückt, andere Leute niedriger als sich selbst hinzustellen, mich interessiert im Grunde genommen ausschließlich die Manipulation eines Menschen durch den anderen.

Das ist mein schriftstellerisches Thema.

Und dann interessiert mich, darzustellen, ob sich ein Mensch dagegen wehren kann oder nicht und unter welchen Umständen er einer solchen Manipulation schutzlos ausgeliefert ist. Das habe ich bisher für mich beantwortet in den letzten Büchern, dass das in der geschlossenen Gesellschaft eben besonders gefährlich wird.

Jetzt müsste ich weiter gehen und müsste dran bleiben und müsste sagen, alles was ich bisher an Hypothesen hatte stimmt nicht, es liegt überhaupt nicht an der geschlossenen Gesellschaft, sondern es liegt an den Menschen, die böse sind und gut gleichzeitig. Ich müsste viel stärker unpolitischer werden, um jetzt unter der Gegenwart zu leiden. Und dann müsste ich, wenn ich unpolitischer wäre und wieder ganz zu den menschlichen Problemen käme, nämlich der Manipulation und des Manipuliertwerdens, des individuellen Manipuliertwerdens, dann müsste ich die gegenwärtige Gesellschaftsorganisation eigentlich für nebensächlicher halten, für austauschbarer halten, und das habe ich in den letzten 14 Jahren nicht getan, weil ich sehr viel immer auf die politische Struktur geschoben habe. Und die Frage, die ich jetzt hier zu beantworten habe, ist für mich als Schriftstellerin unheimlich wichtig, ich bin öfter gefragt worden: Warum geben Sie eigentlich der Struktur der Nazizeit so viel Schuld in dem Buch Judasfrauen? Diese Frauen hätten ja gar nicht denunzieren brauchen. Denn ich sage ja immer, die geschlossene Gesellschaft macht die Leute erst zu Verbrechern. Es würde bedeuten, daß ich stärker von meinem politischen Denken wegginge. Das würde bedeuten, dass ich wieder authentisch schreiben könnte, aber dafür müsste ich mich von sehr vielen Hypothesen der letzten Jahre verabschieden. Und das ist bitter.

Muss man denn unpolitisch werden, um andauernde Strukturen darzustellen?

Es ist eine menschliche Aufgabe, es ist ein Reifungsproblem, vor dem ich stehe. Ich müsste wirklich Schubladen aufgeben.

Ich habe, um mich zu schützen und um überhaupt Klarheit zu finden in dieser Übergangszeit von der Diktatur in die offene Gesellschaft, auch Menschen in Schubladen getan. Ich habe mich von Menschen abgewandt, die die DDR noch in irgendeiner Weise gut gefunden haben, weil ich das Gefühl hatte, das sind Untertanen, das sind Vasallen, das sind Leute, die sind gefährlich. Die wollen wieder eine geschlossene Gesellschaft haben. Ich habe wirklich Angst vor denen gehabt. Ich müsste diese Schubladen aufgeben. Ich müsste diese gesamte, auch ein wenig starre Einteilung, die ich gemacht habe, die sehr stark politisch bedingt war, aufgeben und müsste die rausholen und neu zusammenmischen mit Hefe und einen neuen Kuchen backen. Wenn ich jetzt Alltagsgeschichten schreibe, kommt es mir so vor, als ob ich wieder mehrere Stufen runter ginge. Aber ich muss dieses Runtergehen schaffen. Das ist meine menschliche Aufgabe, die ich in der nächsten Zeit habe, das ist auch meine künstlerische Aufgabe.

Ich habe unheimlich viele Geschichten im Kopf, und ich denke, es ist zu alltäglich, was ich da sehe. Ich bin immer noch in diesem Hochgefühl. - Wenn jetzt am 16. Juni zum ersten Mal der Ring der S-Bahn in Berlin wieder fährt, dann möchte ich extra aus Mecklenburg kommen, um in einem der ersten Züge zu sitzen. Mir kommen die Tränen, wenn ich daran denke.

Siehst du dich da nicht zu eng, du kannst doch wunderbar genau beobachten?

Im Schreiben schaff ich es, und ich merke das Hindernis so stark. Das ist Angst. Ich habe wirklich Angst gehabt, dass es Kräfte gibt, die die DDR oder in irgendeiner anderen Form die geschlossene Gesellschaft wiederherstellen wollen. Am Anfang hab ich Angst gehabt, die machen einen Putsch, bis ich mitgekriegt habe, die profitieren ja von der offenen Gesellschaft.

Staatssicherheitsoffiziere, hohe Staatssicherheitsoffiziere sind jetzt einflussreiche Immobilienmakler, also von denen droht gar keine Angst, denen geht’s jetzt viel besser, die machen immer das, womit sie am meisten verdienen, in der DDR war es so, jetzt ist das wieder so. Man müsste ein bisschen herablassender denken können, auch über die jetzige Gesellschaft. Wenn ich weniger Angst hätte, dass sie abgeschafft wird, dann könnte ich auch ironischer sein.

Manchmal bin ich voller Neid, also Neid wäre jetzt zu negativ, aber ich höre mir politische Kabarettisten an und denke, das ist eine solche Leichtigkeit, wie sie voller Vertrauen auf diese Gesellschaft diese in ihren Auswüchsen völlig fertig machen. Das können nur Leute sein, die in dieser Gesellschaft groß geworden sind und ein tiefes Vertrauen haben, dass sie nicht kaputt geht. Und ich habe immer noch das Gefühl, sie könnte wieder kaputtgehen.

Was reizt dich am dokumentarisches Schreiben?

Mein Schreiben ist nicht dokumentarisch, sondern ich benutze Dokumente, um vom Leben etwas zu verstehen. Um es noch genauer zu verstehen. Mich interessieren Menschen, und ich liebe Menschen. Und ich vergesse nach kürzester Zeit, dass jemand zum Beispiel schwerbehindert ist. Gestern hat eine Frau vor mir gesessen, das muss eine Conterganfrau gewesen sein, mit so lustigen Augen, sie war so klein und ihre Hände waren am Körper angewachsen, da hatte ich in kürzester Zeit vergessen, dass sie ja eigentlich nur ein ganz kleiner Zwerg ist. Ich hätte zum Beispiel gestern bei dieser Lesung am liebsten von jedem Menschen das ganz genaue Leben gewusst und das auch nacherzählt.

Ich habe auch gemerkt, als ich die Akten gelesen habe, dass ich nach kurzer Zeit den roten Faden fand- ich suche den roten Faden in einem Leben und dann finde ich ihn auch - und wenn ich ihn gefunden habe, dann ist die Geschichte da. Ich erlebe auch viel als Geschichte. Wenn mir jemand etwas erzählt, frage ich mich schon dabei: Wie könnte ich diese Geschichte erzählen?

Ich schreibe also ganz genau, was ich höre und was ich auch in den Akten lese, weil ich voll Bewunderung vor der Vielgestaltigkeit des Lebens nur mir selber klarmachen will, wie individuell und wie unverwechselbar jedes Leben ist, also auch mein eigenes. Das hat auch was mit der dauernden Bemühung um die Selbstachtung zu tun, auch vor mir, vor mir selbst, die ich vor mir selber haben muss.

Das Ausdenken ist für mich völlig uninteressant. Weil ich sowieso mein ganzes Leben gegen meine Phantasie kämpfe. Es ist so, dass das Dokumentarische, das genaue, im Grunde genommen aus meinem Bedürfnis kommt, etwas zu erden. Ich möchte ankoppeln ans Leben. Und wenn ich mir etwas ausdenke, dann geh ich ja weg. Dann mach ich mir ja eine weitere Interpretation, dann mach ich mir ja ein weiteres Bild. Du sollst Dir kein Bild machen von den Menschen, heißt es ja. Das möchte ich mir am liebsten mal an die Wand malen. Ich mach mir aber dauernd ein Bild. Mein genaues Beschreiben, mein genaues Hingucken ist eigentlich ein Kampf gegen meine eigene Art, dauernd zu schöpfen. Und dieses dauernd zu schöpfen und dieses dauernde Interpretieren und gleich mehrfach verschiedene Interpretationen hintereinander zu denken, entfernt mich von der Wirklichkeit. Ich möchte ja ran an die Wirklichkeit. Und das Ausdenken ist mir ja eigentlich gefährlich.

Ich gefährde mich, wenn ich von der Wirklichkeit so stark weggehe, also muss ich dokumentarisch schreiben. Ich hab ja auch so lange in der Psychotherapie gearbeitet und da haben mich auch am meisten die menschlichen Schicksale interessiert und es hat mich am meisten interessiert, ob ich es verstehen konnte, was der andere sagt. Nicht so sehr, ob der andere sich verstanden fühlte. Ist eigentlich was sehr Egozentrisches. Und das Schreiben bei mir ist auch etwa sehr Egozentrisches, es ist eigentlich ein Vergleich mit anderen Lebensläufen.

Darum ist für mich Ausdenken uninteressant. Ich lese auch nichts Ausgedachtes, das kommt noch dazu.

Ist die Psychologin der Autorin eher im Weg oder reicht sie ihr eher die Hand?

Ich arbeite jetzt nicht mehr in der Psychotherapie, sondern schreibe nur noch. Als ich beides gemacht habe, ging es gut. Als ich Psychologin und Schriftstellerin gleichzeitig war und ich die Kraft hatte, beides gleichzeitig zu machen, da ging es mir seelisch ganz gut. Weil ich beim Schreiben immer Gegenentwürfe machen konnte zu dem, was ich so gehört hatte von den Leuten.

Ich hab mir die Lebensgeschichten meiner Patienten einfach anders ausgedacht und auch erzählt, also ganz genau die Ausgangssituation, aber dann mit einem anderen Schluss, mit einer anderen Möglichkeit der Lösung.

Als ich dann Therapie machte, hab ich mich von diesem Bild befreien können und dann einfach zugehört und neues Material wieder gesammelt, was aber auch dem Patienten gut getan hat, weil ich dann versucht habe, mir kein Bild von ihm zu machen. Das hatte ich mir ja als Schriftstellerin gemacht. Das ging ganz gut. Das ist aber so was Multiples im Kopf.Es ist eigentlich eine zweigeteilte Sicht auf Menschen.

Schlimm wurde es, als ich mit den Judasfrauen anfing. Da musste ich 1987 dann aufhören mit der Psychotherapie, weil ich aus der Vergangenheit 1941 aufgestiegen bin - praktisch immer, wenn ich in die Therapie ging, war ich im weißen Kittel - und musste plötzlich in der Gegenwart die mir völlig banal erscheinenden Probleme anhören und habe gedacht: Mensch, wenn ihr wüsstet, mit eurem Ehekram jetzt, das ist noch gar nicht lange her, an dieser Stelle hier in Berlin ist jemand umgebracht worden, nur weil er einen Witz über Hitler erzählt hat.

Ich habe praktisch alles relativiert aus dem Alltag gegenüber der Geschichte. Und als ich das gemerkt habe, dass ich relativiere, musste ich aufhören. Da muss ich sagen, ist mir also die Schriftstellerin so der Psychologin total quer gekommen und hat so gesiegt, dass sie nur noch alleine da ist. Und jetzt hat sie die Psychologin nicht mehr so, die immer sagt, ja aber jedes Schicksal ist doch alleine und einzeln und jedes ist wichtig und so.

Da ist sozusagen die Psychologin immer weggezerrt worden, auch von der politisch denkenden Person in mir, dass ich jetzt auch gar nicht mehr richtig Schriftstellerin sein kann. Also da muss ich wieder richtig drum kämpfen. Ich müsste sozusagen die Psychologin zulassen,und ich habe das auch schon bedacht, dass ich da wieder ein bisschen arbeite, bin also zum Pfarrer der nächsten Gemeinde gegangen und habe ihm das gesagt. Darauf er: Na ja, in Ehetherapie, da sei er selber ganz gut ausgebildet, aber was er braucht, das wäre ein Mensch, der sich über Jahre mit den verwaisten Eltern beschäftigt. Das würde bedeuten, ich müsste jetzt, als Buße, um mich als Schriftstellerin zu retten, die nächsten Jahre mit trauernden Eltern, die ihre Kinder durch Selbstmord oder Unfall verloren haben, in Gruppen zusammensetzen, ich müsste sie einzeln sprechen, unentgeltlich, weil das nur eine ehrenamtliche Arbeit in der Kirche wäre - und da bin ich mir noch nicht sicher, ob ich mich so total in so eine traurige Welt, in eine so durch den Tod abgeschlossene und so unverschuldet abgebrochene Welt begebe. Ob das der Preis ist, dass ich wieder ganz auf die Erde komme?

Ich denke, da müsste es noch einen anderen Weg geben.

Siehst du dich selber in einer literarischen Tradition?

Ich hab gedacht in letzter Zeit, ob es vielleicht so ein bisschen wie Alexander Kluge ist, der diese Schlacht um Stalingrad so dargestellt hat, so vermischt mit den Meldungen aus dem Reich von dem Sicherheitsdienst. Oder ob ich das vielleicht so ein bisschen wie Kempowski mit dem Echolot mache, nicht wie Grass. Ich seh mich ganz im Gegenteil zu Günther Grass zum Beispiel. Also ob ich mich vielleicht in dieser Linie sehe, auch wie Sebald, der jetzt verunglückt ist. Zu dem hab ich bei einer Lesung Verwandtschaft entdeckt, also der ist ja auch in die Geschichte gegangen bei den Auswanderern oder auch bei den Lebensläufen der Auswanderer.

Ich seh mich in einer Tradition bei den Schriftstellern, die Lebensläufe in möglichst guter und literarischer Form aufheben. Ich gehöre vielleicht wirklich zu den Archivschriftstellern, also zu den Aufbewahrern, die dauernd Brücken in die Vergangenheit bauen. Nicht zu denen, die historische Romane schreiben, sondern die das wirklich aufbewahren. Zu denen sollte ich mich vielleicht wirklich innerlich gesellen.

Ich hab immer gedacht, meine Tradition käme von Tschechow oder sie käme von Katherine Mansfield. Aber wahrscheinlich bin ich in einer noch viel ernsteren Tradition. Ich sollte die Fähigkeiten, die ich durch meinen Beruf als Psychologin habe, vielleicht wirklich nutzen, weil ich Menschen wirklich gut verstehen kann. Jetzt müsste ich sie bloß eben noch ironischer sehen können. Das hab ich mir in letzter Zeit nicht so erlaubt.

Du lebst in der Großstadt Berlin und in einem mecklenburgischen Dorf auf dem Land. Was bedeutet das für dein Schreiben?

Ich hab mir jetzt den Computer aufs Land geholt, und meine gesamte technische Ausstattung ist dort. Da hab ich ein gutes Arbeitszimmer, sehr viel Ruhe, und wenn es so wäre, dass ich hintereinander über viele Wochen ein Buch fertig stellen müsste, dann habe ich dort geradezu ideale Arbeitsbedingungen, unabgelenkt und technisch alles in Ordnung, ich komme durchs Internet an die Welt, mein Mann ist da, der mich immer wieder versucht, aufs neue zu beruhigen und auch zu schützen, auch seelisch zu schützen. Was mir dort fehlt ist genau das, was hier jetzt in der Wohnung da ist, die große Stadt, die Anonymität, die Kodderschnauze, der Berliner, dieser totale Umbruch, der hier in Berlin ist, diese vielen verschiedenen Menschen aus den unterschiedlichen Ländern, die vielen Sprachen, die vielen Gerüche, die Märkte. Hier in Berlin ist der Reiz, hier ist die Welt, die ich mir immer vorgestellt habe, als ich in der engen DDR lebte. Die hab ich jetzt und die hängt mir vor der Nase, wie dem Esel das Futternetz direkt vor dem Kopf hängt, und ich kann gar nicht alles riechen und schmecken und sehen, weil ich dann überhaupt gar nicht mehr schreiben könnte. Ich könnte ertrinken in den Reizen, die ich alle wollte, die ich ja mein Leben lang wollte. Ich hab auch körperlich zugenommen, weil ich das alles mal ausprobieren wollte. Gestern Abend haben wir auch wieder hier am Savignyplatz in der Pizzeria Alibaba auf der Straße gesessen, und ich hab eine Pizza gegessen, die vor meinen Augen gerade hergestellt wurde, ich habe dort in der Welt gesessen, in der ich sein wollte, ich habe das getan, was ich wollte. Aber es erschöpft mich. Die Überreizung erschöpft mich. Das alles verarbeiten und zu Geschichten machen, zu extrahieren, also sozusagen den Cognac aus den vielen Weintrauben zu machen, das kann ich nur auf dem Land.

Wenn ich allein leben würde in dieser Wohnung, ohne Mann, ohne dass ich rausgehe, nur hier an meinem Arbeitstisch, da hab ich ja auch alles, Internetzugang, Laptop, alles da, aber dann müsste ich mich hier vollkommen zumachen und dann wäre die Versuchung größer, in diese Welt zur Ablenkung zu gehen. Ablenkung ist dort auf dem Land fast null, da kann es noch so schön sein, da können die Rehböcke vor meinem Fenster stehen und draußen kann es blühen, über viele Wochen merke ich gar nicht, dass der Flieder oder der Ginster blühen.

Im Moment sind die Rapsfelder gelb, mein Mann fährt auf dem Fahrrad und guckt sich das an, er erzählt mir von den Rapsfeldern und ich gehe über Wochen nicht mal auf die Straße, ich gehe nicht mal vor mein Fenster. Ich bleibe im Haus und das zeigt ja eigentlich, dass ich dieses Land zur Reizabschirmung nutze und dazu, dass der Wein gärt und abgefüllt werden kann, es ist das, was mein Gehirn alles leisten müsste in der normalen Welt an jedem Ort und bei vielen Menschen. Das habe ich auf diese Wiese ausgelagert. Ich lasse praktisch mein Leben mich schützen.

Gibt es eine Farbe für deine Zukunft?

Grün, so ein ganz schönes Flaschengrün, sehe ich richtig vor mir. Nicht smaragdmässig und auch nicht jade, es ist nichts Stumpfes, also eigentlich ist es was Leuchtendes, Blaugrünes, ich bin eigentlich voller Hoffnung!

 


as of 11/4/2004