a peer reviewed scholarly journal on literature and art in the German speaking countries after 1945

ISSN 1093-6025

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Dickinson College
Carlisle, PA

 

 
Glossen 21: Rezension

Richard Wagner, Habseligkeiten, Berlin: Aufbau-Verlag, 2004

Richard Wagners literarische Texte weisen den Autor als einen Kenner, Verächter und Genießer des Simulakrums Stadt aus. Er ist ein Erbe des Expressionismus und der Neuen Sachlichkeit, der sich in der Lyrik Paul Celans genau so gut auskennt wie im Werk Walter Benjamins, der Kapitalismuskritik Herbert Marcuses und den „hits“ der Rolling Stones. In seinen Gedichten, Erzählungen und Romanen entlarvt er mit kaltem Herzen und scharfer Feder durch Werbung und Popkultur vorgegebene urbane Verhaltens- und Ausdrucksweisen – man denke an seine Romane In der Hand der Frauen(1995), Lisas geheimes Buch (1996), Im Grunde sind wir alle Sieger (1998). Doch stets schwingt in seinen der Mediensprache angepassten Kurzsätzen, knappen Dialogen und zur Sentenz neigenden Erzählerkommentaren auch anderes mit: die resignierende Melancholie eines Moralisten, dessen Worte wenig Gehör und dessen Erfahrungen sich im allgemeinen Geplapper der Mediengesellschaft aufzulösen scheinen. Wagners Texte zielen bei allem Verweilen an der Oberfläche der Erscheinungen stets auf Existentielles, hierin denen des jungen Botho Strauß verwandt. Jedenfalls verweist das gewollt „coole“, aber auch das unstet Suchende und die fahrige Gebrochenheit seiner literarischen Helden auf diese Tiefendimension.

Werner Zillich, der Erzähler in Wagners jüngstem Roman Habseligkeiten (2004), ist so ein Gebrochener. Er ist der letzte Nachfahre deutscher Bauern und Handwerker, die nach dem Sieg des Habsburger Prinzen Eugen über das Ottomanische Reich in den Grenzregionen der Monarchie angesiedelt wurden und nun entweder dort aussterben oder ins „Reich“ zurückkehren, wie sie das moderne Deutschland noch nennen. Zillich ist so ein Ausreiser, dem es nach einer erniedrigenden Prozedur gelingt, der Brauchtumsenge deutscher Dörfer innerhalb des diktatorischen Ceaucesku-Regimes zu entkommen. Allerdings verbindet er mit seinem Weggehen in den Westen keine größere Hoffnung auf persönliches Glück – danach scheint ihm die Welt weder hier noch dort eingerichtet zu sein.

In Deutschland angekommen bestätigen sich seine Ahnungen. Seine Frau trennt sich von ihm, seine Tochter will vorerst nichts mehr von ihm wissen, und als Bauleiter arbeitet er für ein marodes Unternehmen. Trotzdem geht alles irgendwie „gut“ aus. Auf der Rückfahrt von der Beerdigung seines Vaters hängt sich die Hure Clara an ihn, seine Exfrau stirbt, die Tochter söhnt sich mit dem Vater aus und wird zur besten Freundin Claras, seiner neuen Frau. Und auch beruflich geht es bergauf. Das eigentlich bankrotte Bauunternehmen wird durch die Investitionen zwielichtiger Freunde aus Ungarn – sie betreiben nebenher einen Prostituiertenring und eine Pornofilmgesellschaft --, und seine von ihm autorisierten fragwürdigen „Abrechnungen, Preisabsprachen, Mauscheleien mit dem Subunternehmer, dem Rohbauer und dem Elektrounternehmer“(241) prächtig saniert. Zwar ist Zillich die Symbiose von Gangstertum und bürgerlicher Gesellschaft, auf die er sich da eingelassen hat, nicht ganz geheuer, es wäre aber alles legal, versichert ihm ein sachkundiger Bekannter. Zillich ist beruhigt. Er kann mit seiner neuen Familie am Ende des Romans sorglos an den indischen Ozean fahren, am Strand liegen, aufs Wasser starren und sich vorstellen, dass irgendwo dort ganz weit hinten Madagaskar liegt – sie „lagen vor Madagaskar“. Womit er vor seiner Umsiedlung in den Westen nicht gerechnet hatte: Seine Lage ist zwar auch hier hoffnungslos, aber weder ernst, noch gar unangenehm wie im Lande Ceaucescus. Ganz im Gegenteil, allen seinen Bedürfnissen wird Rechnung getragen. „Gegenwart ist angesagt, ewige Gegenwart, sagte ich mir. Wir können es uns erlauben.“ (280)

Aber warum erzählt Zillich dann die Geschichte seiner Familie, seines Dorfes und damit auch die der Banater Schwaben? Anlaß ist die Beerdigung seines Vaters, zu der er sich einige Tage Zeit nimmt, in das Haus seiner Familie mit dem vom Vater als „Wahrzeichen und Sitzbank“ aufgestellten Mühlstein zurückzukehren. Die Begegnung mit der Mutter in der Landschaft seiner Kindheit und Jugend evoziert Erinnerungen, die sich mit einem längeren Bericht seines Vaters aus einem russischen Arbeitslager zu einer Familiengeschichte fügen, die vier Generationen, zwei Weltkriege und die Deportation der Deutschen in Rumänien nach Russland umspannt.

Die physische Rückkehr in das Banat und damit in den imaginären Zeitraum der Kindheit, „wo das Nichts noch einen Namen hatte“ und er noch „die Angst kannte, jemanden zu verlieren“, böte hinreichend Stoff für eine nostalgische Sicht auf das Dorf mit Geruch der selbst gemachten Räucherwurst und der „Ewigkeit im Gesicht der Bauern“(48), aber Wagner lässt diese Sicht nicht zu. Sein Erzähler bemerkt die Enge, die Klischees und Rituale, in deren Rahmen das Leben auch dort abläuft. Er bemerkt aber auch, wie wenig er eigentlich vom Leben dieser Menschen weiß, die vor ihm gekommen sind. Zum Beispiel vom Leben seines Vaters. Daher ist die Erzählung Zillichs, besonders dort, wo er seinem Vater das Wort lässt, auch ein wenig Wiedergutmachung eines Sohnes, der seine Klischees über „seine Leute“ zu hinterfragen beginnt, freilich, ohne an ein Ziel zu kommen. So ist die Figur auch nicht angelegt.

Richard Wagner ist für die Habseligkeiten von der Literaturkritik, die ihn vor allem als einen Familienroman sah, mit recht gewürdigt worden. Was aber übersehen wird ist, dass der Roman einerseits ein gewichtiger Beitrag zur Beschaffenheit der Moderne und dem leichten Leben im urbanen Nexus ist. Hier ist der Erzähler eine Warnfigur – das „verweile doch, es ist so schön“ in der pervertierten „Wiederkehr des Gleichen“ hat eher dystopische Eigenschaften. Es sei denn, man sähe die Auflösung des Ich als ein erstrebenswertes Ziel. Andererseits ist er aber auch eine Wortmeldung in gegenwärtigen politischen Diskussionen um Heimat, Migration und ein neues europäisches Geschichtsbewußtsein. Wagner geht es hier darum, das Schicksal der Banater Schwaben als integralen Teil der deutschen und europäischen Geschichte in das kollektive Gedächtnis der „Kern“- Deutschen zu schreiben, die, von ihnen nichts oder wenig wissen und auch nichts wissen wollen. Bernhard Schlinks Mittelpunktsfigur, die Analphabetin und KZ-Wächterin Hanna, aus seinem Roman Der Vorleser, entspricht so etwa dem gängigen Klischee. In diesem Zusammenhang spielt der Erzähler eine positive Rolle, denn durch ihn erfährt man ja erst die Geschichte der Banater, von ihrem Bauerntum, ihrer Reichsseligkeit, die sie zu Anhängern des Führers gemacht hatte, und dem Verrat des rumänischen Staates, der sie in russische Arbeitslager deportieren half, wo sie dessen Kollaboration mit dem Hitlerregime unter Tausenden von Todesopfern abarbeiten mussten.

Dieser Doppelfunktion des Erzählers als Warnfigur und Aufklärer scheint der teilweise ironische, sarkastische und sogar zynische Ton des Romans geschuldet. Doch gibt es eine große Ausnahme, der ergreifende Erlebnisbericht des Vaters über seine Deportation in ein russisches Arbeitslager nach dem 2. Weltkrieg, lange Zeit eines von vielen Tabuthemen des Nachkriegs. Soll man die Fiktion des Autors, dass es die Hure Clara ist, der Werner Zillich diesen Bericht vorliest, verallgemeinernd als allegorische Darstellung des Verhältnisses von Autor und Leser sehen oder als einen Kommentar des Autors zur Wankelmütigkeit der deutschen Öffentlichkeit verstehen?

 


as of 11/4/2004