Glossen 22

Deutschsprachige Gegenwartsliteratur seit 1989. Zwischenbilanzen - Analysen - Vermittlungsperspektiven, Hs. von Clemens Kammler und Torsten Pflugmacher (Heidelberg: Synchron, 2004). 283 Seiten.

Bei den in diesem Sammelband zusammengefaßten Untersuchungen handelt es sich vorrangig um Vorträge, die im Jahre 2003 auf einer Tagung gehalten wurden, die sich mit der Literaturszene nach der geschichtspolitischen Zäsur von 1989 befaßte. Es geht den Herausgebern um die Frage, ob sich in der nun gesamtdeutschen Literatur bereits - wie auch immer lückenhaft - eine Art Gesamtbild der historisch bewegten Jahre und deren zentrale Problemstellungen herausdestillieren läßt. Eine solche vage Übersicht in einem Wust literarischer Produktionen kann man dem Zusammenspiel der achtzehn Studien, die in den drei Kapiteln "Zwischenbilanzen", "Analysen" und Vermittlungsperspektiven" gesammelt sind, tatsächlich entnehmen. Vorgestellt wird ein breites Spektrum neuer literarischer Themen, neuer Autoren, neuer Rezeptionsbedingungen und neuer intermedialer Textsorten; weiterhin wird geboten ein Blick auf die reduzierte gesellschaftliche Rolle der Literatur innerhalb einer anschwellenden Medienkultur, auf geschichtsaufarbeitende Literaturdebatten, auf den schulischen Lesekanon der letzten Jahre und auf die neue marketing-orientierte Rolle der Verlagslektoren. Was von dem Neuen, von dem hier berichtet wird, allerdings in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren Bestand haben wird, ist ungewiß. Der Band ergibt ein mosaikartiges Bild diverser literarischer Landschaften mit unterschiedlichen Ansprechpartnern, wobei man sich wohl - der Eindruck entsteht - für die letzten Jahrzehnte wie auch für die kommenden Jahre endgültig vom Konzept einer typisch deutschen Literatur verabschieden muß.

Als besonders gelungen kann der einleitende Artikel von Clemens Kammler bezeichnet werden, der eine allgemein überblickende kritische Einschätzung der Literatur der letzten Jahrzehnte gibt: Literatur in der Mediengesellschaft, ihr Gemessenwerden an modischen Trends und Leitbegriffen wie Postmoderne, Pop, Wendeliteratur, Avantgarde, Generationswechsel; Kammler wendet sich am Schluß seiner Analyse wieder dem Einzelautor (z. B. Sebald, Jirgl) zu, von dessen Texten er annimmt, daß sie, gerade weil sie sich dem modischen Mainstream widersetzen, "hoffentlich" Bestand haben werden. Im Ganzen gesehen geben die einzelnen Studien dieses Bandes viele wertvolle Anregungen und zeigen gründliches Einzelwissen über die verschiedenen Problemkreise. Besondere Erwähnung verdient m.E. Reinhard Wilczeks ausgewogener, sachlich dokumentierter Artikel über "Die 'Luftkrieg'-Debatte im Spiegel von Prosa und wissenschaftlicher Essayistik", dem ein ausführliches Literaturverzeichnis beigegeben ist. Hervorzuheben sind ebenfalls Arne de Windes gründliche Darstellung der "Foucault-Rezeption des Schriftstellers Reinhard Jirgl" und Susanne Knoches informative Ausführungen über "Netzliteratur", die so manchem Forscher, der sich schwertut mit der Technik, Hilfestellung leisten.

Der Sammelband ist lesenswert, und die einzelnen Beiträge sind lesbar geschrieben. Der Leser gewinnt für die Zeitspanne von etwa fünfzehn Jahren einen Überblick, aus dem sich Bilanzen ziehen lassen, soweit das fünfzehn Jahre nach dem Mauerfall überhaupt möglich ist. Ein durchaus empfehlenswertes Buch.

Christine Cosentino
Rutgers University