Glossen 22

Noch einmal: “vindobona” (Volker Braun)
Christine Cosentino

In der Nummer 21 (2005) der Glossen wurden Volker Brauns “7.4.03 vindobona. Betrachtungen über mich selbst” zum ersten Mal veröffentlicht, ein Text, der eine scharfe Replik in Gedichtform von Thomas Ferdinand, betitelt “Weißes Feld - zu VBs vindobona-Notiz”, auslöste. Beide Texte seien noch einmal wiederholt, denn auch ich möchte Stellung nehmen:

vindobona. betrachtungen nicht über mich selbst.
sagt dem cäsar keiner, daß der krieg verloren ist? (er
war von anfang an verloren.) in diesen massakrierten
städten ist kein amerikanischer frieden zu machen. aber
die vorsehung, die nicht auf die straße geht, hat der
supermacht zugerufen: schafft eins, zwei, viele viet-
nams.--bush hat den feldzug trajans 114-117 nicht
zur kenntnis genommen, dessen legionen,von antiochia
aus, mesopotamien fast ohne gegenwehr eroberten, aber
zermürbt von überfällen, sandstürmen, wassermangel und
dem abfall der eben noch kniefälligen kleinkönige die
unbeherrschbaren provinzen wieder räumen mußten. -mi-
litärsprecher thorp spricht von der “sehr überlegten
strategie”, die zeigen soll, “daß wir dort hin gehen
können, wo wir wollen und wann wir wollen” (es ist sein
latein). ziel sei die dezimierung des gegners. - es ist
der feigeste krieg, der sich denken läßt. gegen ein
land, das von sanktionen geschwächt, ausspioniert und
abgerüstet ist. das mit infamsten waffen, urangeschos-
sen und splitterbomben überzogen wird. von einer armee,
die den feind nicht sieht, die nicht kämpft, die ma-
schinell vernichtet. dieses übermaß an zerstörungswil-
len kennzeichnete die amerikanische kriegsführung schon
immer, im sezessionskrieg gegen die südstaaten wie im
bombenterror gegen 160 deutsche städte.
(notiert in Wien in der Mark-Aurel-Straße)


Dazu Th. Ferdinand:


1
Der Meister dialektischen Denkens bemängelt
daß Bush den trajanschen Feldzug ignorierte
als er das neue Kthesiphon eroberte
und daß die feigen Amis
schon immer feige Kriege
geführt hätten
zum Beispiel
gegen die Südstaaten
oder deutsche Städte.
Das hätte bei denen Tradition.

2
Lieber Diktatur
Oder Sklaverei
Oder Nazionaler
Sozialismus

3
Oder?

Na ja, wenn sie mutige
Kriege geführt hätten
So Mann gegen Mann
Im Graben …

Oder?

4
“Schön ist es, das Wort zu ergreifen”
in der Wiener
Marc-Aurel-Straße
(ehemals Interalliierte Zone)
Gibt es das Café noch?
Das aus dem “Dritten Mann”?
Täßchen Kaffee mit Zucker und Sahne?



Beide Texte enthalten m.E. Überzogenheiten, wirken wie ein provozierender Dialog zwischen ärgerlichen Kontrahenten. Das allerdings ist durchaus im Sinne Braunscher Schaffensintention, denn damals wie heute ist Poesie für den Dichter ein öffentlicher kritischer Austauschprozeß, ein Vorgang zwischen den Menschen. Es ist kaum anzunehmen, daß Th. Ferdinand mit dem Titel seines gekonnt strukturierten Textes, “Weißes Feld”, auf Brauns frühes, Ende der sechziger Jahre entstandenes, noch sozialismusgläubiges DDR-Gedicht “Das weite Feld” anspielt, obwohl ein Versatzstück daraus das für Braun nach wie vor typische Schreibanliegen markiert: provozierendes Ansprechen brennender Probleme, also “aufbrechen/ Das Blickfeld!” Innerhalb einer USA-Irak-Debatte scheint Ferdinands' Titel “Weißes Feld” eher die “terra incognita” einer im Moment noch völlig unbekannten, unberechenbaren geschichtlichen Entwicklung und Kriegsführung zu suggerieren, der die Menschheit im neuen Jahrtausend ausgeliefert ist und der Braun mit Ratlosigkeit gegenübersteht.

Es ist nicht überraschend, daß Ferdinand Versatzstücke aus Brauns Text in sein Gedicht montiert, die - behält man das Geamtschaffen des Dichters während der letzten Jahre nicht ständig im Auge - pauschal wirken. Es handelt sich primär, scheint mir, um die Beispiele für amerikanische Arroganz, das “übermaß an zerstörungswillen […] im sezessionskrieg gegen die südstaaten wie im bombenterror gegen 160 deutsche städte.” Isoliert von der von Braun in seinem Werk etablierten USA-Irak Folie, wirkt das simplifizierende Zusammenschweißen von zwei historisch völlig unterschiedlichen Zeitebenen mit unterschiedlichen Zeitproblemen unkritisch.

Braun hat vorrangig um die Jahrtausendwende eine Reihe von Texten über das antike Rom geschrieben, die gegenwärtige, auf die USA bezogene Zustände reflektieren. In einer “Karte aus Kairo spricht er von einer “Umbesetzung des Personals aus dem Antikensaal in die Industrielandschaft”. Unverblümter und schärfer faßt er es in einem Interview zu seinem Stück Limes. Mark Aurel (2002), in dem er keinen Zweifel an seiner USA-Kritik läßt: “Es gibt eine anzügliche Verwandtschaft zwischen solch großen Imperien […]. Also pax romana, die Befriedung der Welt, die natürlich Krieg ist.” Das blendet in die von Jürgen Habermas geäußerte Kritik an den USA, die die Irak-Politik Bushs als “Muster der Pax Americana, [den] selbst-zentrierten Kurs einer abgebrühten Supermachtpolitik” analysiert (“Fundamentalismus und Terror”). Zu nennen von Brauns Werken mit USA-Bezügen wären die Stücke Limes. Mark Aurel und Was wollt ihr denn (2004), dann Gedichte aus dem Band Tumulus (1999) wie “Der Totenhügel”, “Plinius grüßt Tacitus” sowie “Lagerfeld”; auch in dem erst kürzlich erschienenen Band Auf die schönen Possen (2005) erschienen wieder drei USA-Irak-Texte, die Gedichte “Das IMPERIUM SCHAUT AUF DIE WELTKARTE”, “Gestaltungseinfluß” und “Die Weltmacht”. Brauns kapitalismuskritische Haltung ist in all diesen Zeitdiagnosen zwar deutlich spürbar, seine Texte selbst jedoch sind multidimensional, hintergründig, ironisch hinterfragend, suggestiv, ohne ideologische Sichtblende.

Die auf die römische Siedlung, das heutige Wien rekurrierende Notiz “vindobona” dagegen mit ihren Statements über traditionellen amerikanischen Zerstörungswillen im Sezessionskrieg und über den Bombenterror gegen 160 deutsche Städte überzeugt nicht; herausgelöst - das muß betont werden - aus dem Komplex der in den neunziger Jahren und um die Jahrtausendwende geschriebenen USA-Irak-Gedichte sowie der Texte Brauns über die Bombardierung Dresdens macht “vindobona” den Eindruck von Einseitigkeit, wo man Vielseitiges von Braun erwartet hätte. Behält man Brauns akute antimilitaristische “dresdner Haltung” im Auge, so wäre ein differenzierendes Sich-zu-Wort-Melden über den Bombenterror auf deutsche Städte im Kontext der von W.G. Sebald 1997 ausgelösten, immer noch fortwährenden und generell ausgewogen geführten Luftkriegsdebatte sinnvoll gewesen. Kurz, der Text “vindobona” scheint vom Zorn diktiert. Ein Montagegedicht des Dichters, “Wüstensturm” aus dem Band Die Zickzackbrücke (1992), führt zur Quelle dieses Zorns und erklärt die böse Provokation. Auf eine Zeile daraus - “Saddam Hussein der lästige Lieferant/ Dekoriert mit den Waffen seiner alten Kunden” - spielt Braun in seinem emotionalen Antikriegs-Essay von 1995, “Dresdens Andenken”, an, der sein dichterisches Credo spiegelt: “Ich werde für diese Zeilen gerügt; die Kritik des WÜSTENSTURM im Irak wird als antiamerikanische Gesinnung gewertet. Sie ist meine dresdner Haltung”; und diese dresdener Haltung ist ein beharrliches, unbequemes “An-Denken gegen die Vernichtung”, d.h. gegen jegliche Form militärischer oder ökonomischer Machtgelüste. Man mag Brauns generelle Kritik am realexistierenden Kapitalismus und an der Alleinherrschaft der USA teilen oder nicht; im Blickpunkt der oben erwähnten Texte steht Krieg, spezifisch der Irak-Krieg, der überall in der westlichen Welt auf Widerstand gestoßen ist. Nach wie vor hinterfragt der Dichter den Zustand unserer aus den Fugen geratenen, vom Terrorismus bedrohten Welt, einen Zustand, an dessen Unabänderlichkeit er sich keineswegs gewöhnen mag.

Th. Ferdinands im dialektischen Sprachgestus vorgetrage provokative Alternative zum amerikanischen “zerstörungswillen” - “Lieber Diktatur/ Oder Sklaverei/ Oder Nazionaler/ Sozialismus/ Oder?” - scheint ebenfalls dem Ärger entsprungen zu sein. Den in der ehemaligen DDR und der BRD unbequemen Dichter Braun als palavernden Weltverbesserer im gemütlichen Caféhaus in Wien abzukanzeln - “Täßchen Kaffee mit Zucker und Sahne?” - deutet auf Unkenntnis der Mark-Aurel-Symbolik in Brauns Schaffen der letzten Jahre. Im Text “vindobona” ist es die Mark-Aurel-Straße, die den kontroversen Text auslöst. Der selbstquälerische, empfindsame, sich in der Lehre der Stoa übende Kaiser Mark Aurel, die persona einer ganzen Reihe Braunscher Texte, verkörpert für den Dichter einen fundamentalen Widerspruch, der ein durchaus moderner ist, ein akutes, heutiges Paradoxon: die Befriedung der Welt im Kampf gegen die Barbaren ist gleichbedeutend mit Krieg, neuem Barbarismus, Gewalt: “ein Agieren unter allem Bewußtsein” (Braun). Braun selbst bekennt sich geradezu zum seiner dresdener Haltung entspringenden Bösesein. Erinnert seien Worte aus seiner “Rede zur Verleihung des Büchner-Preises 2002”: “Ich wuchs in Trümmern auf, und unter Brüdern, ich trank die Milch einer Witwe. Ich schmeckte Gerechtigkeit, ich atmete Despotie. Mein Widerstand wohnt im Gewebe, mein Gram, mein Verlangen. Es ist bei mir weit hinein böse.”