Glossen 22

Lilian Faschinger, Sprünge. (Graz: Leykam, 1994) 67 S.

Zum Repertoire der österreichischen Autorin und Übersetzerin Lilian Faschinger (1950-) gehören neben ihren erfolgreichen Romanen Wiener Passion (1999) und Magdalena Sünderin (1995) auch Kurzprosa, die literarische Selbstinszenierungen der Endlichkeit des Lebens thematisiert. In ihrem Erzählband Sprünge (1994), zu dem sich die Literaturkritik bislang nicht äu_erte, entwirft sie drei Suizidszenarien. Die Texte sind bei Gastaufenthalten als Stadtschreiberin in Krakau, München und in Südtirol entstanden.
Ein Zitat aus Janet Frame. An Angel at my Table, der Autobiographie der renommierten neuseeländischen Autorin, die Faschinger ins Deutsche übersetzte, stellt sie an den Beginn ihrer Kurzgeschichtensammlung. Frames Leben ist eine Gratwanderung zwischen Genie und Wahnsinn und geprägt von Schicksalschlägen: ein Bruder leidet an Epilepsie, zwei Schwestern ertrinken, sie selbst macht einen Selbstmordversuch. Nachdem sie darüber an der Universität im Literaturseminar eine Arbeit abgibt, wird sie in eine psychiatrische Klinik eingewiesen, wo sie die nächsten acht Jahre ihres Lebens verbringt. Ein Literaturpreis rettet sie vor einer Leukotomie, einer riskanten Gehirnoperation. Da für Janet Frame die Auslieferung intimster Details ihres Lebens an die Öffentlichkeit die Einlieferung in die geschlossene Anstalt zur Folge hat, steht ihr Kommunikationsversuch in krassem Gegensatz zu Faschingers fiktionalen Charakteren, die ihren psychischen Problemen auf radikalste Weise durch Suizid ein Ende setzen.
Faschingers Suizidäre sind allesamt Anarchisten “einer zweckrationalen Ordnung“ (Anz 185). Als Einzelgänger bewältigen sie ihren Alltag in einem emotionalen Vakuum, aus dem es nur noch einen Ausweg gibt - den Sprung in den Abgrund. Bezeichnend ist bereits der Titel des Bandes - Sprünge, der einen Zeitraum markiert, in dem sich Sekunden zu Stunden ausdehnen. Auch die lakonischen Titel der Kurzgeschichten betonen klar definierte Zeitrahmen: Zwei Tage, Ein Tag, Drei Tage. In allen drei Texten inszeniert sie den Exitus im offenen und öffentlichen Raum. Die Texte beginnen mit der psychischen und physischen Positionierung zum Abgrund. Der erste Satz lautet jeweils: “Ewa steht auf der Brücke über dem Flu_“ (11); “Pacher steht am Rand des Grabes seiner Frau. Das schwarze Loch tut sich vor ihm auf“ (35); “Die junge Frau öffnet die breite gläserne Balkontür“ (57). Die Texte enden mit einem bewußten Schritt in den Tod. Ewa erwartet das Kind eines Mannes, der sie nicht haben will und eliminiert sich aus dem System: “Sie fällt“ (29). Der Witwer verliert nach dem Tod der Lebenspartnerin sein Interesse am Leben: “Er lä_t sich fallen“ (52). Der passive Mathematikstudent tritt in Aktion: “Er springt“ (66).
In Faschingers Suizidszenarien fehlen subtile Psychologie und Emotionen, denn “(...) Gefühle [sollen] dadurch ausgedrückt werden, da_ man um die Gefühle herumschreibt. (...) es geht immer um Fakten. Und mit Hilfe dieser Fakten wird in den Kurzgeschichten in erster Linie klar gemacht, da_ Kommunikation, gefühlsmä_ige Kommunikation, unmöglich ist oder nur rudimentär stattfindet...“ (Roethke 94). Faschinger stellt Suizid als kommunikativen Akt dar, als irreversiblen Kommunikationsabbruch, der die völlige Unmöglichkeit der Kommunikation besiegelt. Die prägnanten Sätze spiegeln die Leere im Leben der Figuren wieder. Redundanz entsteht durch Faschingers Photographien, die friedliche, idyllische Orte als Schauplätze von Gewaltakten wie Mord und Suizid zeigen und die Texte kommentieren. Mit Ausnahme der ersten themenübergreifenden Bildsequenz, in der aus einem richtungsweisenden Pfeil allmählich eine schemenhafte Gestalt wird, zeigen die weiteren Bildsequenzen drei verschiedene Blicke auf zwei Kirchtürme, ein Bergmassiv und die Innenansicht einer Kuppel. Die drei Bildsequenzen zeigen allesamt menschenleere Räume, als wollte Faschinger damit die Leere der fiktiven Bild- und Sprachräume unterstreichen.
Was auf ein Eifersuchtsdrama deutet, in dem eine junge Frau, deren Mutter vor zwei Jahren ins Wasser ging, das Kind eines Mannes erwartet, der mit einer anderen Frau zusammen lebt, entwickelt sich in der ersten Kurzgeschichte “Zwei Tage“ zum mehrteiligen makabren Totentanz. Er zeigt sich im Brauchtum der Stadt, am ersten Frühlingstag Puppen in den Flu_ zu werfen; in der Stadtgeschichte als der Wettstreit zweier Brüder beim Kirchturmbau der Marienkirche im Mord endet - ein Faktum, das Ewa zu überlegen veranlaßt, “wie lange fällt man von einem hohen Turm. Man fällt lange. Man kann sich einiges überlegen, während man fällt“ (16); in einem religiösen Gemälde von einem Totentanz; in einem profanen Bauwerk mit einem Steinbalkon in der Form einer riesigen Fledermaus, dessen Bausubstanz in schlechtem Zustand ist und deren Bauch aussieht, als ob er aufgerissen wäre (21). Die im vierten Monat schwangere Ewa identifiziert sich mit der Skulptur und meint, da_ die steinerne Fledermaus stirbt.
Der Dialog Bild - Text wird im Text weitergeführt, als Ewa wiederholt in einem Buch über Schwangerschaft blättert. Da es auf Französisch ist und sie diese Sprache nicht beherrscht, konzentriert sie sich auf die Abbildungen des Embryos. Der Totentanz kommt durch ihren Sturz in den Tod auf jener Brücke zu Ende, auf der sie einige Tage zuvor Zeugin einer bizarren Szene war: Ein kleines Mädchen klatscht in die Hände, lacht, tanzt und hüpft von einem Fu_ auf den anderen, bei dem Gedanken, da_ die Mutter die Schwester wegen eines verlorenen Ohrrings schlagen wird. Als wollte sie sich rächen, zieht sie die jüngere Schwester, die panische Angst hat, da_ das Eis bricht, auf den zugefrorenen Flu_, um den Ohrring zu suchen.
In “Drei Tage“ geht es um den Verlust eines Ehepartners, der nicht erst durch den Tod eingetreten ist, denn “sie ist immer stummer geworden“ (35). Wörtliche und figurative Spiegelungen prägen diesen Text. Der künstliche Myrtenkranz, der sich im Spiegel mit Seitenteilen gleich dreifach spiegelt, weist auf das Unnatürliche seiner Ehe hin, dem Schweigen zu zweit. Das Schweigen bleibt die Lebensdevise des Witwers, dessen dominante, bevormundende Tochter wei_, was für ihn am besten ist. Unmißverständlich antwortet der 76-jährige mit seinem Todessturz vom Gipfel jener Bergwand, die er als junger Mann erklommen hat. Drei Tage nach der Beerdigung seiner Gattin, begeht er Selbstmord im grandiosen Bergmassiv zwischen samtgrünen Wiesen und tödlichen Abgründen. Die Gewalteinschreibungen in idyllischen Umgebungen gelten auch für die Unterhaltungsfetzen, die er im Postautobus von Fremden aufschnappt, wie der Kommentar über die Gallenkolik beim einzigen Auslandsaufenthalt in Spanien (47) oder die Erinnerungen an den Unfall in der Haarnadelkurve (48) auf der Panoramabergstraße.
In “Ein Tag“ geht es um Isolation in der Postmoderne und um den Ersatz der “Wirklichkeit durch die Imagination (...), weil sonst nichts da ist als eine Leere“ (Roethke 90). Wie Radargeräte scannen Individuen ihre Umwelt, ohne daran teilzunehmen. Der Protagonist bewegt sich durch Drehtüren durch ein Leben, in dem Glaswände den zwischenmenschlichen Kontakt unmöglich machen. Die Transparenz aus Glas macht den vereinsamten Mathematikstudenten zum Voyeur und ermöglicht ihm seine Obsessionen mit einer Frau, deren Bekanntschaft auf reiner Optik beruht, da er sowohl sie wie auch ihren Liebhaber nur von Beobachtungen durch seinen Feldstecher kennt. Sexualität bleibt in psychodelischen Phantasien über die Frau verkappt, bis schließlich aus imaginärem Lustmord Selbstmord wird. Zur einzigen zwischenmenschlichen Berührung kommt es nur bei seinem Sprung in den Tod, als er kurz vor seinem Aufprall einen Dozenten an der Schulter streift.
In allen drei Kurzgeschichten baut Faschinger Alternativen und konkrete Anknüpfstellen an das Leben ein, die die Charaktere allerdings nicht an - oder wahrnehmen. Sie reichen von Zufallsbegegnungen auf der Straße, dem Jungen aus der Nachbarschaft, zu Kollegen an der Universität.
Typisch für alle drei Texte sind verzerrte Raumkonstanten und fließende Grenzen zwischen privaten und öffentlichen Plätzen. In “Zwei Tage“ sieht Ewa bei einem Sonntagsausflug einen Baum, der mitten in einem verlassenen Raum wächst. Ihre Wohnung dient auch als Schneiderwerkstatt mit Kundenverkehr. Deshalb steht darin auch der todesmetaphorische schwarze Torso, den sie für ihre Arbeit benötigt. Als sie ins Schneegestöber starrt, meint sie: “Der Raum zwischen den fallenden Flocken öffnet sich“ (16). In “Drei Tage“ platzen neben der dominanten Tochter auch Kunstinteressierte unangekündigt in das Haus des Witwers, um die Kapelle zu besichtigen, die mitten im privaten Weingarten steht. Dazu kommt die Transparenz des Raumes in “Ein Tag“, in der öffentliche Plätze und private Wohnungen zur ständigen Beobachtung ohne effektiver Kommunikation herausfordern.
Faschingers Texte bestechen durch konsequente Linearität und stringentes Kompositionsprinzip, in dem das Lebensende der Figuren mit dem Ende der Erzählung zusammenfällt. Ihre kurzen Texte sind Schläge ins Gesicht und beinharte Abrechnungen mit dem Leben.

Eva Kuttenberg
Pennsylvania State University, Behrend