Glossen 22

Der langsame Untergang des Begriffs „Deutsches Reich" in West- und Ostdeutschland [1]
Horst Dieter Schlosser

1. Politische Zäsur und Sprachwechsel

Die bedingungslose deutsche Kapitulation vom 8. Mai 1945, die alliierte Besetzung und Zerteilung des deutschen Territoriums mit Abtrennung großer deutscher Staatsgebiete und der damit verbundene faktische Untergang des Deutschen Reiches waren zweifellos eine nicht zu überschätzende Zäsur der deutschen Geschichte mit allergrößten Folgen für die Kommunikation der Deutschen, zumal diese Ereignisse Teil einer bis dahin unbekannten Spaltung der Welt in zwei antagonistische Machtblöcke wurden. Die Folgen für das Gesamt der deutschen Sprache haben sich allerdings erst im Verlauf der folgenden Jahre und Jahrzehnte eingestellt. In der Sprachgeschichtsschreibung herrscht inzwischen Einigkeit darüber, dass - zunächst in Westdeutschland - erst die Einführung der Marktwirtschaft mit der Währungsreform 1948 und die massenhafte Verbreitung des Fernsehens ab Ende der sechziger/zu Beginn der siebziger Jahre entscheidende Impulse sprachlicher Veränderungen gebracht haben, durch die sich die heutige Gegenwartssprache in vielem deutlich von dem sprachlichen Zustand unterscheidet, der zuvor ziemlich stabil geherrscht hatte.

Der Umbruch in der offiziellen Kommunikation von Gewohnheiten der Diktatur zu (vorerst nur potentiell) demokratischen Bedingungen war objektiv zweifellos sehr viel stärker als der Umbruch von der Monarchie zur Republik 1918/19, da 1945 buchstäblich über Nacht nichts mehr galt, was über ein Jahrzehnt das Denken, Fühlen und Sprechen der meisten Deutschen beschäftigt hatte. Mit den sächlichen wie sprachlichen Herrschaftsinstrumenten des NS-Regimes gingen ja auch die allermeisten Institutionen und Termini unter, die eine deutsche Staatlichkeit und das öffentliche Leben schon seit mindestens 1919 geprägt hatten, als man etwa trotz Revolution und Begründung einer Republik am Staatsnamen Deutsches Reich festhielt. Bis 1945 galten Termini und Wertvorstellungen, die sogar für Menschen mit Distanz und Gegnerschaft zur Diktatur unvermeidliche Bezugspunkte ihres persönlichen Lebens geblieben waren. Selbst wenn man Texte der deutschen Widerstandsbewegung untersucht, stößt man bei vielen Autoren und Gruppen auf Denk- und Sprachmuster, die äußerlich gesehen vom NS-Sprachgebrauch nicht sehr weit entfernt scheinen.

Dass sich aus einem politischen Umbruch schwerwiegende mentale Folgen ergeben müssen, versteht sich eigentlich von selbst, wird aber sogar nach einem ähnlichen Umbruch, dem Untergang der DDR und ihrer Lebensordnung, wodurch sich vergleichbare mentale Probleme ergaben, vielfach noch unterschätzt. Was sich 1945 als Bruch mit der Vergangenheit vollzog und in der DDR 1989/90 - wenn auch nur noch partiell - wiederholte, war im Vergleich mit anderen politischen Zäsuren insofern außergewöhnlich, als eine neue politische Ordnung zunächst über eine „neue Sprache" vermittelt werden musste. D.h. den Deutschen wurden gleichsam „von außen" ungewohnte Termini des öffentlichen Lebens wie weitgehend unvertraute politische und weltanschauliche Wertbegriffe vermittelt, denen sich erst nachträglich, in einem langen Lernprozess, die mentalen Strukturen anpassen konnten. Damit verglichen hatte sich etwa die NS-Machtübernahme 1933 kommunikations- wie sprachgeschichtlich auf einen geradezu gleitenden Übergang stützen können, da große Teile der deutschen Bevölkerung für die neuen Bedingungen des öffentlichen Lebens und für die politischen und ideologischen Begriffe schon prädisponiert waren.

Öffentliche Kommunikation und privates Sprechen lassen sich zu keiner Zeit völlig voneinander trennen. Insofern muss auch eine Rekonstruktion der sprachlichen Situation der unmittelbaren Nachkriegszeit die offizielle und die private Sprache in ihrem (oft unfreiwilligen) Wechselspiel ins Auge fassen. Die millionenfache Not der Besiegten etwa war sprachlich zumindest indirekt an die Bedingungen der offiziellen Versuche gebunden, diese Not zu erklären oder zu lindern. Wenn die Notsituation beispielsweise als Folge des von Deutschland verursachten und verlorenen Krieges dargestellt wurde, ergab sich daraus zwangsläufig eine Reaktion, die je nach politischem Standort die Klage über Repressionen und materielle Mängel in Enttäuschung, Wut oder resignative Hinnahme, vereinzelt auch in Selbstkritik münden ließ. Darum genügt es weder, nur die unzweifelhaften Umschwünge der Terminologie des öffentlichen Lebens zu konstatieren, noch nur die Besonderheiten alltäglichen Sprechens über die neue Situation als Faktoren eines Sprachwandels zu betrachten.

Meine These ist darum, dass sich Denken und Fühlen und damit auch das alltägliche Sprechen nicht über Nacht ändern können und dass wie bei jedem politischen und sozialen Wandel auch die offizielle Sprache nicht schlagartig umfassend ändern.

Man kann dies auch bei früheren historischen Umbrüchen feststellen, die allgemein kommunikativ und konkret sprachlich stets eine ganze Weile brauchten, bis sich das jeweils Neue im Bewusstsein der Menschen voll etablieren konnte. Weder der Wechsel von der Monarchie zur Republik 1918/19, bei dem wie gesagt sogar die 1871 eingeführte Reichs-Terminologie erhalten blieb, noch die Gründung des neuen Deutschen Reiches Bismarck'scher Prägung 1871 sind ohne „gleitende Übergänge" sprachlicher Art ausgekommen. Etliche Termini des Deutschen Bundes (bis 1866) und des Norddeutschen Bundes (bis 1871) sind damals in die Reichs-verfassung übernommen wurden, z.B. der Bundesrat als Gremium der Fürsten neben dem Reichstag. Ob wir einen ganz frühen Wechsel gesellschaftlicher Ordnung oder einen jüngeren politischen Einschnitt aufsuchen: sprachlich tut sich zumindest an der Oberfläche zunächst relativ wenig. Auch die staatliche Spaltung Deutschlands 1949 bedeutete für den Sprachgebrauch in Ost und West keineswegs einen völligen Neuanfang, zumal sich die Differenzierung der Denkmuster und der entsprechenden sprachlichen Fassungen vier Jahre lang vorbereitet hatte.1 Die deutsche Zweistaatlichkeit und die Herausbildung zweier verschiedener Kommunikationsgemeinschaften waren einerseits nur das vorläufige Ende eines Prozesses, der bereits 1945 begonnen hatte. Andererseits ist zu beachten, dass sich beide Seiten über die Daten des 23. Mai 1949 (Gründung der Bundesrepublik) und des 7. Oktober 1949 (Gründung der DDR) eine ganze Weile noch bewusst als provisorisch verstanden. Das erhielt in sprachlicher Hinsicht viele Übereinstimmungen am Leben, bis sie zuletzt immer äußerlicher wurden und vielfach nur noch zum Aneinander-vorbei-Reden verführten.

Und so passt selbst für die politisch einschneidendste Zäsur der deutschen Geschichte durch die bedingungslose Kapitulation und die alliierte Besetzung Deutschlands 1945 das gern bemühte Schlagwort von der Stunde Null überhaupt nicht. Man denke nur an den Gebrauch des inzwischen mehr oder weniger allgemein tabuisierten Wortes Führer für eine leitende Funktion: Führer konnte noch eine ganze Weile ungeniert weiterverwendet werden. Ob Kirchen- oder Wirtschaftsführer - überall wurde noch einige Jahre nach dem Selbstmord „des" Führers und dem Ende seiner uahlreichen „Unter-Führer" zumindest sprachlich weiter geführt.[2] Oder: trotz der Goebbels'schen Desavouierung des Begriffs Propaganda nannte sich noch einige Jahre nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes das, was wir heute in Unternehmen Werbe- oder Marketingabteilung nennen, Propagandaabteilung (die SED hatte sogar bis 1989 ein ZK-Sekretariat für Agitation und Propaganda).

Die einschränkenden Bedingungen der Besatzungszeit hatten insgesamt natürlich unmittelbare sprachliche Folgen für die Bewältigung des alltäglichen Lebens oder Überlebens. Die Beschaffung dringend benötigter Lebensmittel etwa war unabdingbar an das offizielle Versorgungssystem mit seinen Lebensmittelkarten und Bezugsscheinen gebunden. Das aber war ja eigentlich nicht Neues, und hier lässt sich am allerwenigsten von einer Stunde Null sprechen, da die Planwirtschaft der Kriegszeit auch terminologisch fast nahtlos in die Planwirtschaft der Besatzungszeit überging. Dagegen war eine wie auch immer notwendige Ortsveränderung - zumindest anfangs - meist auf die Erteilung eines Passierscheins oder eines weiteren Dokuments angewiesen, was selbst dem sonst an öffentlichen Dingen Nichtinteressierten die Existenz von Demarkationslinien und Zonengrenzen vor Augen führen musste. Die je nach Besatzungszone sprachlich unterschiedlichen Papiere für eine freie Fortbewegung waren tatsächlich etwas ganz Neues, ob engl. permit, russ. propusk oder frz. laissez-passer. Überhaupt war von Bedeutung, dass offizielle Bekanntmachungen, wichtig gerade für die Befolgung von Geboten und Verboten, plötzlich nicht mehr in deutscher Sprache, sondern in der jeweiligen Besatzungssprache die einzig authentische Version darstellten.

Zweifellos muss man trotz unbezweifelbarer Wechselwirkungen zunächst einmal zwischen den kommunikativen und sprachlichen Phänomenen, die sich auf einer für die meisten abstrakten, hochpolitischen und ideologischen Ebene zeigten, und den Elementen der Alltagskommunikation unterscheiden. Der schlagartige Wechsel in der sog. Institutionensprache, der Untergang zahlreicher Termini des öffentlichen Lebens - von Adolf-Hitler-Schulen über Blockwart, Gauleiter, HJ, SA, SS bis hin zu Wehrmachthelferinnen und Winterhilfswerk -, hätte sicherlich bei vielen mehr Aufmerksamkeit erlangt, wenn Grundbedingungen des täglichen Lebens und seiner Sprache durch das Ende des Krieges ebenfalls so radikal verändert worden wären. Im Alltag und seiner Sprache aber gab es mit dem NS-System eine Kontinuität, die - so paradox es klingen mag - den Verlust der verinnerlichten politischen und weltanschaulichen Rahmenbedingungen offenbar leichter verschmerzen ließ.

Die Sprache des Alltags, ob hinsichtlich der Bewirtschaftung (also Verknappung) der Lebensmittel, der Gefangenschaft von Vätern und Söhnen, der Trümmerbeseitigung oder Wohnungssuche, änderte sich 1945 so gut wie gar nicht. Obsolet wurden nur die bis zum 8. Mai 1945 täglich/nächtlich zu befürchtenden unmittelbaren Gefahren und damit deren Benennungen, für den Luftkrieg und die Kampfhandlungen, die sich zuletzt auf deutschem Boden selbst abgespielt hatten.


2. Unvermeidliche und demonstrative Weiterverwendung von Reich

Ein Zentralwort der Institutionensprache bis 1945 war der Staatsname Deutsches Reich. Allgemein wird wohl angenommen, dass ab dem 8. Mai 1945 mit dem Deutschen Reich endgültig Schluss war. Ob und gegebenenfalls wann das Deutsche Reich allerdings nach der Niederlage von 1945 tatsächlich auch völkerrechtlich untergegangen sei, war jahrelang durchaus umstritten. Noch in den Verhandlungen des Parlamentarischen Rates, der 1948/49 das Grundgesetz und damit die Gründung der Bundesrepublik vorbereitete, vertrat etwa der Staatsrechtler Carlo Schmidt die Überzeugung, dass der Staat Deutsches Reich 1945 keineswegs untergegangen sei. Die Gründung zweier deutscher Staaten und die alliierte Zuweisung staatlicher Teilsouveränitäten an die Bundesrepublik und an die DDR hat die juristische Diskussion faktisch überflüssig gemacht. Allerdings lässt sich aus der kontroversen Haltung der 1949 gegründeten deutschen Staaten etwa zu Fragen einer deutschen Rechtskontinuität oder zur Haftung für die Kriegsfolgen, nicht zuletzt zur Frage nach einer Wiedergutmachungspflicht gegenüber den NS-Opfern schließen, dass eine zumindest theoretische Weiterexistenz des Reiches durchaus erwägenswert war. Die simple Lösung der SED, die DDR vertrete einen völligen Neubeginn, während die Bundesrepublik als Nachfolgerin des „faschistischen" Reiches die alleinige Verantwortung für die kriminelle Vergangenheit Deutschlands zu tragen habe, war natürlich allzu durchsichtig.

Der seit 1871 gültige, aber schon in der Paulskirchenverfassung von 1849 formulierte Staatsname Deutsches Reich hatte auch die Revolution von 1918 überdauert. Die Weimarer Verfassung von 1919 hatte ihn gegen den am 9. November 1918 vom Sozialdemokraten Philipp Scheidemann proklamierten Staatstitel Deutsche Republik und erst recht gegen den vom Kommunisten Karl Liebknecht am selben Tag ausgerufenen Namen Freie sozialistische Republik beibehalten, wenn auch in einem Kontext, in dem der angestrebte Formulierungskompromiss zwischen dem Reichs-Gedanken und der Absicht, eine Republik zu schaffen, zwiespältig blieb und faktisch Zwietracht säte:

„Das Deutsche Reich ist eine Republik." (Weimarer Verfassung Art. 1, Satz 1)

Vollmundige NS-Varianten wie Großdeutsches Reich nach dem „Anschluss" Österreichs 1938 oder Germanisches Reich deutscher Nation (so Hitler noch in seiner Proklamation vom 30.1.1943) [3] haben völkerrechtlich keine Bedeutung erlangt. Es blieb bis zur Kapitulation vom 8. Mai 1945 offiziell bei Deutsches Reich. Danach blieben davon sprachlich - also nicht im völkerrechtlichen und staatsrechtlichen Sinne - insgesamt nur marginale, teilweise aber auch interessante Reste übrig, auf die im einzelnen noch einzugehen ist.

Bei Kriegsende und in den ersten Jahren der Nachkriegskriegszeit fehlte für die Bezeichnung des Gesamtraums, in dem die Deutschen ihr Leben zu organisieren hatten, ein quasi-staatsrechtlicher Alternativbegriff; denn die Aufteilung in Besatzungszonen und -sektoren bot zunächst keine griffige Benennung des Ganzen. Auffälligerweise benutzten sogar die aus dem KZ Buchenwald Befreiten noch den Terminus Reich, wenn sie in ihrem „Buchenwald- Manifest" vom 13.April 1945 u.a. forderten, „für das ganze Reich" sei ein Deutscher Volkskongreß einzuberufen, und wenn sie weiter verlangten:

„Das Reich ist unter Beseitigung des ganzen bisherigen Regierungsapparates der Länder nach wirtschaftlichen und sozialen Gesichtspunkten neu zu gliedern ..."[4]

Aber auch die wichtigsten wieder zugelassenen und neu gegründeten demokratischen Parteien hielten zunächst am Terminus Reich fest, so die CDU in ihren „Kölner Leitsätzen" vom Juni 1945, indem sie formulierte, man sei „fest entschlossen, dem deutschen Volk im Rahmen des Reiches mit allen Kräften zu dienen", und wenn sie am 1.3.1946 im „Neheim-Hüstener Programm" forderte, dass die Reichseinheit gewahrt bleiben müsse [5]; entsprechend hatte die CDU schon im Dezember 1945 in Bad Godesberg ein Reichstreffen veranstaltet. Die Deutsche Zentrumspartei präsentierte sich in ihrem „Soester Programm" vom 14.10.1945 einleitend sogar als „Hüter des Reichsgedankens", was sie in ihren „Arbeitszielen" allerdings präzisierte und relativierte; danach strebte sie an:

„1. Republikanische Staatsform und Reichseinheit auf sinnvoller bundesstaatlicher Grundlage. [...] Bereitschaft für die europäische Föderation."[6]

Die „Programmatischen Richtlinien" der Freien Demokratischen Partei, die zunächst eine westdeutsche Konkurrenz zu anderen liberalen Gründungen namens LDP war, diese später aber unter ihrem Namen als westdeutsches Gegenstück zur LDPD der SBZ vereinigen konnte, formulierte am 4.2.1946 u.a.:

„2. Das neue Reich soll in organischer Neugliederung als Ganzes einen Staat bilden. Dieser Staat soll auf breitester Grundlage von unten nach oben aufgebaut werden, in freier Selbstverwaltung sollen unten die Gemeinden, darüber die Kreise, im größeren Bereich die Länder ihre eigenen Angelegenheiten selbständig regeln. Die Grenzen dieser Selbständigkeit bestimmt das Reich. Das Reich allein führt und bestimmt die Politik."[7]

Selbst die Einheitsfront der antifaschistisch-demokratischen Parteien in der SBZ stellte sich am 14.7.1945 in Berlin in einem Aufruf unter der Überschrift „Ein bedeutsamer Schritt zum Wiederaufbau des Reiches" vor. [8] Noch am 2. und 3.März 1946, kurz vor ihrer „Metamorphose" zur SED, veranstaltete die KPD in Berlin eine „Erste Reichs-konferenz". Zu diesem Zeitpunkt hatte sich das der tatsächlichen Lage „angemessenere" Adjektiv interzonal noch nicht durchgesetzt. Ausläufer des Gebrauchs von Reich finden sich zwar auch noch 1947, z.B. in einer Schlagzeile der „Rheinischen Post" vom 25.1.1947: „Bayern für die Reichseinheit" oder in einer Rundfunkansprache Kurt Schumachers vom 31.5.1947, in der er von den Möglichkeiten einer zukünftigen Reichsverfassung sprach [9]; die Alltagskommunikation indes wollte nach dem 8.5.1945 von Reich außer in historischer Zitation kaum noch etwas wissen.

Ohne politische Hintergründe, sondern nur der Rechtssicherheit dienend blieben im Westen Deutschlands auch alte, mit dem Bestimmungswort Reich- gebildete Verordnungs- und Gesetzestitel wie Reichsheimstättengesetz (RHeimstG von 1920 bzw. 1937) u.ä. in Kraft. Aber auch die administrative Notlage nach Kriegsende machte es erforderlich, dass auf einer Reihe weiterer terminologischer Ebenen das Wort Reich weiterverwendet wurde. So liefen noch eine Weile in allen vier Zonen die alten Briefmarken mit der Aufschrift Deutsches Reich um, oft sogar noch mit dem Porträt Adolf Hitlers, das allerdings immer wieder geschwärzt oder überklebt wurde. Während die Deutsche Reichspost für alle Besatzungszonen in Deutsche Post umbenannt wurde, hatten Lebensmittelgutscheine wie die Reichsbrot-, die Reichseier- oder die Reichsfettkarte noch eine Zeit lang Gültigkeit.[10]

Von finanztechnischer und wirtschaftspolitischer Bedeutung war die Erhaltung der Deutschen Reichsmark (RM) als Zahlungsmittel. Neben der seit 1923 gültigen Rentenmark und der 1945 eingeführten Mark der Alliierten galt die Reichsmark in allen Besatzungszonen bis zur Währungsreform 1948, wobei die Namenskontinuität jedoch ebenfalls nur der Rechtssicherheit, im Zahlungsverkehr, diente. Bis auf die britische Zone hörte die Reichsbank 1946 zu bestehen auf (als Rechtssubjekt wurde sie freilich erst 1961 aufgelöst).

Als politisch neutral muss der noch bis vor wenigen Jahren gültige Organisationsname Reichsbund (Sozialverband Reichsbund e.V.) für einen Kriegsopferverband gelten, der bereits 1917 gegründet worden war und der (nach seiner Auflösung 1933) im Jahr 1946 im Westen Deutschlands wieder ins Leben gerufen wurde und der „aus erfolgreicher Tradition und aus Gründen der Identifikation" - wie es in einer Selbstdarstellung im Internet hieß - seinen alten Namen lange Jahre beibehielt.

Dagegen demonstrierte - ebenfalls 1946, aber natürlich nicht in der SBZ - einen sehr bewussten politischen Anschluss an eine imperialistische Reichs-Idee die Deutsche Reichspartei (DRP), die 1949 sogar fünf Bundestagsmandate errang, 1964/65 jedoch in der ideologisch verwandten Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD)[11] aufging. Bezeichnenderweise wurde eine 1948 erfolgte Abspaltung von der DRP, die Sozialistische Reichspartei (SRP), 1952 vom Bundesverfassungsgericht als „Nachfolgeorganisation der NSDAP" verboten.


3. Deutschland und Zone als „Ersatzbegriffe"

Auf Seiten der Siegermächte bestand von vornherein wenig Interesse, den durch das NS-Regime aggressiv-nationalistisch besetzten Staatsnamen Deutsches Reich am Leben zu erhalten. Hier setzte sich - mit Fernwirkung bis in die Benennung des bundesdeutschen Staates 1949 - der Gebrauch des „unverfänglicheren" Namens Deutschland durch, der die verfassungsrechtliche Binnenstruktur (Bundes- oder Einheitsstaat) wie auch die völkerrechtlichen Außenbeziehungen (nicht zuletzt die Grenzfragen!) offenließ.

Dieser Gebrauch, der den staatlichen Anspruch der Deutschen einschränkte, hatte sich schon früh abgezeichnet. Schon auf den Konferenzen der Alliierten vor Kriegsende, u.a. in Teheran 1943 und Jalta 1945, war stets nur von Germany (mit entsprechenden nichtenglischen Varianten) die Rede. Auch der erste Versuch der Sowjets, mit Hilfe gefangener deutscher Offiziere wie des Generals Friedrich Paulus, eine Nachkriegsordnung zu entwickeln, mündete 1943 in einen Namen für diese Initiative, der kaum zufällig auf einen Reichs-anklang verzichtete: Nationalkomitee Freies Deutschland. Auf den im Namen dieses Komitees an der Ostfront verbreiteten Flugblättern wurden allerdings in einer schwarz-weiß-roten Umrandung die den deutschen Soldaten vertrauten Farben der Reichskriegsflagge präsentiert, und es war darin auch noch - der Adressatengruppe gemäß - von der Zukunft des Reiches die Rede.

In der Kapitulationsurkunde vom Mai 1945 wird in allen Fassungen, den maßgeblichen in englischer und russischer Sprache sowie in der deutschen und in einer französischen, nur von Deutschland (engl. Germany, russ. Germánija, frz. l'Allemagne) gesprochen, und zwar in Abs. 4:

„Diese Kapitulationserklärung stellt kein Präjudiz für an ihre Stelle tretende allgemeine Kapitulationsbestimmungen dar, die durch die Vereinten Nationen oder in deren Namen festgesetzt werden und Deutschland und die Deutsche Wehrmacht als Ganzes betreffen."[12]

Dasselbe gilt für die „Mitteilung über die Dreimächtekonferenz von Berlin" (= Potsdamer Konferenz, 17.7.-2.8.1945), in der ebenfalls nur von Deutschland die Rede ist. Endgültig besiegelt wurde der sprachliche und de facto auch rechtliche Untergang des Deutschen Reiches auf dieser Konferenz. Der entscheidende Beschluss III.A.1 lautete:

„Entsprechend der Übereinkunft über das Kontrollsystem in Deutschland wird die höchste Regierungsgewalt in Deutschland durch die Oberbefehlshaber der Streitkräfte der Vereinigten Staaten von Amerika, des Vereinigten Königreichs, der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken und der Französischen Republik nach den Weisungen ihrer entsprechenden Regierungen ausgeübt, und zwar von jedem in seiner Besatzungszone, sowie gemeinsam in ihrer Eigenschaft als Mitglieder des Kontrollrates in den Deutschland als Ganzes betreffenden Fragen."[13]

Doch bereits vorher, am 5. Juni 1945, hatten die Alliierten in der „Berliner Erklärung" diesen Beschluss gleichsam vorweggenommen und den „Kontrollrat in Deutschland" eingerichtet, der die oberste Regierungsgewalt übernahm und damit allein über das staatliche Leben bestimmte. Der von Hitler als Nachfolger für das Amt eines Reichspräsidenten bestimmte Großadmiral Karl Dönitz und die von diesem eingesetzte Geschäftsführende Deutsche Reichsregierung unter Graf Lutz Schwerin-Krosigk hatten sich (zunächst von Plön in Holstein aus, dann in Mürwik bei Flensburg) immerhin noch zwei Wochen über das Kapitulationsdatum hinaus in der Rolle einer obersten deutschen Reichs-vertretung betätigt - allerdings auch mit alliierter Zustimmung in einer exterritorialen Zone [14], bis sie am 23. Mai auf Betreiben der Sowjets als Kriegsgefangene in Gewahrsam genommen wurden.[15] In einer Stellungnahme, die Dönitz danach in der Gefangenschaft verfasste, besteht der nominell letzte deutsche Reichspräsident freilich auf der These, dass mit seiner Absetzung das Deutsche Reich keineswegs zu existieren aufgehört habe.

Die Ereignisse im Mai 1945 in Mürwik waren die letzten, fast schon grotesken Nachwehen des Staates Deutsches Reich und seines offiziellen Namens, die in diesen turbulenten Tagen von kaum einem Deutschen noch wahrgenommen wurden. Dafür fanden sich alle, sofern sie sich nicht noch in einem der Gebiete aufhielten, die - ob rechtlich sanktioniert oder nicht - vom deutschen Staatsgebiet sofort oder später abgetrennt wurden, in einer der vier Besatzungszonen bzw. in einem der vier Sektoren von Berlin wieder. Die Termini Zone und Sektor wurden nun mindestens bis 1949 zu den administrativen Bezugsgrößen des öffentlichen Lebens, aber auch privater Erfahrungen.

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass sich mit der Gründung einer Wirtschaftseinheit aus amerikanischer und britischer Zone, offiziell Vereinigtes Wirtschaftsgebiet, inoffiziell Doppel- oder Bizone genannt, schließlich unter Einbeziehung der französischer Zone zur Trizone erweitert, der Zonen-Begriff allmählich wandelte, bis schließlich nur noch die Sowjetische Besatzungszone als Zone („die" Zone) galt.

Bis zur Gründung der Bundesrepublik fehlte den West- wie Ostdeutschen allerdings noch jeder Begriff einer Selbstidentifizierung. Dieses Defizit versuchte immerhin der 1949 sehr populär gewordene Karnevalsschlager von Karl Berbuer wenigstens auf humoristische Weise zu beheben, indem er singen ließ: „Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien..." Dieser humorvollen Bildung ging freilich bereits 1947/48 die von SED wie westdeutschen Kommunisten gehässig gemeinte Bildung Bizonesien, auch: Bizonien, vorauf, z.B. in westdeutschen Wandparolen 1947 wie „Bizonesien = Hungertod! Einheit Deutschlands bringt Frieden und Brot"[16] oder in der Diffamierung Bizoniens als Kolonie der Westmächte.[17]

Die Einbürgerung des Namens Deutschland für eine neue Staatlichkeit wurde natürlich auch durch die Neueinführung oder Wiederbelebung von Organisationsnamen unterstützt, etwa durch den 1945 gegründeten „Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands" (später „Kulturbund der DDR") oder durch die Parteien SPD = „Sozialdemokratische Partei Deutschlands" und KPD = „Kommunistische Partei Deutschlands" (in der SBZ ab 1946: SED = „Sozialistische Einheitspartei Deutschlands"). In der SBZ führten das Kürzel D für Deutschland auch die Parteien LDP („Liberaldemokratische Partei") und zeitweilig auch die CDU, nämlich als LDPD und CDUD, ebenso die NDPD („National-Demokratische Partei Deutschlands").[18] Das 1946 gegründete Zentralorgan der SED hieß, auch noch während der Distanzierung vom deutschen Einheitsgedanken (ab 1969), „Neues Deutschland", wie auch der auf einer älteren Tradition beruhende Name der SBZ-Rundfunkanstalt „Deutschland-sender" (1948 gegr., ab 1971: „Stimme der DDR"[19]) den Aufstieg des rechtlich und politisch vagen Deutschland-Begriffs an Stelle des obsoleten Reichs-Begriffs unterstützte.[20]

Darin wiederholte sich gleichsam auch eine historische Situation, in der der Name Deutschland nicht mehr (und nicht weniger!) als die politische Hoffnung auf eine staatliche Einheit aller Deutschen ausdrücken konnte, spätestens nach dem Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation 1806, wie sie u.a. im „Lied der Deutschen" von Hoffmann von Fallersleben in der seinerzeit noch als unprätentiös geltenden 1. Strophe zum Ausdruck kam: „Deutschland, Deutschland über alles..." (1841). Aber auch 1919, als die Deutschen zwischen Deutscher Republik (Philipp Scheidemann und der erste Reichspräsident Friedrich Ebert) und Deutschem Reich (Weimarer Verfassung) schwankten und noch nicht wussten, welche politischen Grenzen nach dem Versailler Vertrag der demokratisierte Staat haben würde (mit oder ohne Österreich, mit oder ohne Nord-Schleswig usw.), war Deutschland ein unverfänglicher Ersatzbegriff.


4. Berufungen und Kritik von Reich in Rückzugsgefechten

Was den Untergang des Staatsnamens Deutsches Reich angeht, erscheint es nicht unwichtig, darauf aufmerksam zu machen, dass - Ironie der Geschichte - bereits die NS-Propaganda zumindest einer semantischen Reduktion dieses Namens vorgearbeitet hatte. Mit der Massenflucht und -evakuierung der deutschen Bevölkerung aus den östlichen Reichsteilen, die von der vorrückenden Roten Armee bedroht waren, nahmen in NS-Medienberichten, etwa in der „Deutschen Wochenschau", ab 1944 Propagandaformulierungen zu, die von einer Rettung der Deutschen ins Innere des Reiches, teilweise sogar von einer Verbringung der Gefährdeten ins Reich sprachen. Da der Gebrauch des Wortes Flüchtlinge der NS-Propaganda verständlicherweise wenig schmeckte, wurde stattdessen häufig der Begriff Rückgeführte benutzt, was ebenfalls die Diskrepanz zwischen den offiziellen Reichsgrenzen und dem tatsächlichen Verlauf der Kampffronten zu verschleiern versuchte. Ein solcher Wortgebrauch förderte natürlich eine allgemeine Vorstellung von einem (angeblichen sicheren) „Kernreich" mit aufzugebenden „Außenposten" (immerhin ganze Provinzen wie Ostpreußen und Schlesien oder Teile von Pommern, die ja dann tatsächlich nicht mehr wieder Bestandteile eines deutschen Staates wurden). Und die entsprechenden Formulierungen gingen 1945 vorübergehend auch in die Alltagssprache ein, zumindest bei denen, die sich in solchen „Außenregionen" aufhielten. So ist etwa in einem Brief aus Danzig bereits am 24. Januar 1945 zu lesen, dass eine Helferin, „wenn sie überhaupt wegkommt, den Brief irgendwo im Reich einstecken soll"[21]; belegt auch durch einen der letzten Feldpostbriefe aus der „Festung Königsberg", in dem ein Stabsgefreiter am 4.April 1945, fünf Tage vor der Einnahme der Stadt, noch an seine Eltern schrieb:

„...schnell ein paar Zeilen an Euch Ihr Lieben. Sie sollen mit ins Reich gehen."[22]

Auch im „Sudetenland", also in den deutschsprachigen Regionen, die 1938/39 unter großer Begeisterung der dort lebenden Deutschen von der Tschechoslowakischen Republik abgetrennt und dem Deutschen Reich einverleibt worden waren, wurde nach Kriegsende plötzlich (wieder) zwischen „Sudetendeutschen" und „Reichs-deutschen", also zwischen Einheimischen und ab 1939 Zugezogenen, unterschieden - als hätte es nie die Parole der Henlein-Anhänger [23] vor 1939 „Heim ins Reich!" gegeben. Im übrigen verband sich mit dieser quasi-ethnischen Unterscheidung eine wechselseitige Illusion: nämlich die Hoffnung auf eine gnädigere Behandlung der jeweils eigenen Gruppe durch die Tschechoslowaken - hie „Sudeten-", da „Reichs-deutsche".[24]

Wie weit entrückt der politische Terminus Reich inzwischen ist oder nur noch mit einem stark eingeschränkten Blick auf die unseligste Epoche seiner staats- und völkerrechtlichen Geltung verknüpft wird, lässt sich schlaglichtartig an zwei aktuelleren Erfahrungen nachweisen. Zum einen: Noch in frischer Erinnerung ist der Eiertanz, den 1999 selbst sonst besonnene Zeitgenossen um die Frage aufführten, ob denn das neue Berliner Domizil des Deutschen Bundestages nach wie vor „Reichs-tag" heißen dürfe. Die Argumente in dieser Diskussion waren nicht intelligenter als die Befürchtung, dass eine historische Adelsresidenz wie das „Schloss [!] Bellevue" als Amtssitz des Bundespräsidenten ohne Umbenennung bei dem dort Residierenden absolutistische Neigungen wecken könnte.

Zum anderen: Die mentale Verknüpfung von Deutsches Reich mit der Deutung als Drittes Reich war 1990 bei Kritikern der Wiedervereinigung so sehr festgefahren, dass sie daraus eine Schmähung des wiedervereinigten Deutschland als Viertes Reich ableiten zu können glaubten. Angst vor einem Vierten Reich gab es indes schon in den frühen Nachkriegsjahren, etwa bei Victor Klemperer, der in seiner „LTI" von 1946 schrieb: „o Sprache des werdenden Vierten Reiches!"[25]. Auch im Ausland wurde diese Furcht zeitweilig geteilt [26], und der prominente Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki berichtet in seiner Autobiographie, dass er sich wegen der Diskriminierung des Wortes Reich als polnischer Konsul in London 1948 veranlasst sah, seinen eigentlichen Familiennamen Reich mit einem neuen, dem Namen Ranicki zu ergänzen![27]

Geradezu als Treppenwitz der deutschen Nachkriegsgeschichte muss indes gelten, dass ausgerechnet die DDR bis zuletzt an einem Reichs-Nachklang festhielt: an der Deutschen Reichsbahn, wie die Staatsbahn schon seit 1920 hieß. Wann immer DDR-Bürger sich in Schreiben an die Reichsbahn-Verwaltung über diesen „unsozialistischen" Unternehmensnamen verwundert gaben, griffen die Offiziellen zu wahrhaft abenteuerlichen Argumenten, etwa: man wolle durch eine Umbenennung die internationale Fahrplankonferenz nicht irritieren, oder eine Umbenennung verursache zu hohe Kosten... Tatsächlich aber ging es um nicht mehr und nicht weniger als um die Wahrung des Rechtsanspruchs auf die Bahnanlagen in West-Berlin, die der Deutschen Reichsbahn unterstanden, ein Anspruch, der mit einem Namenswechsel gefährdet gewesen wäre. Damit hielt sich der Staatsname Reich, dazu noch in einem politischen Kontext, am längsten; denn der 1920 eingeführte Name Deutsche Reichsbahn wurde erst zum 1.1.1994, mehr als vier Jahre nach dem Untergang der DDR, bei der Fusion mit der Deutschen Bundesbahn zur Deutschen Bahn AG aufgegeben.

5. Drittes Reich - ein aktueller Archaismus

Dennoch kann zusammenfassend gesagt werden: 1945, in mancher Hinsicht schon ab 1933, als der Begriff Reich endgültig zum geradezu mythischen Hochwertwort geworden war, hat der Terminus Deutsches Reich seine Bedeutung als politisch weitgehend neutraler Staatsname verloren und damit - in West wie Ost (auch hier über die Staatengründung von 1949 hinaus) den Aufstieg des Ländernamens Deutschland zum Quasi-Staatsnamen begünstigt.[28] Allerdings ist in den pragmatischen Weiterverwendungen von Reich im Post- und Geldwesen sowie in der Terminologie der Lebensmittelverteilung, die alltagspraktischen Motiven folgten, die schnelle Entmystifizierung des Begriffs zu beobachten. Wiederbelebungsversuche eines imperial motivierten Reichs-Begriffs hatten nur im Westteil Deutschlands eine gewisse, insgesamt jedoch sehr geringe Chance; sie schwankten zwischen Traditionserwägungen („Sozialverband Reichs-bund") und politisch extremer Gesinnung (DRP und SRP einerseits und Viertes Reich andererseits). Die Erhaltung des Namens Deutsche Reichsbahn, ausgerechnet auf dem Boden von SBZ und DDR, fällt aus dieser Entwicklung natürlich völlig heraus.

Der jähe Absturz des Staatsnamens Reich ist mit keinem anderen terminologischen Wechsel des 20. Jahrhunderts vergleichbar, zumal dieser Name bis 1945 von den Nazis noch weit über die verfassungsrechtlich gebotenen Benennungen hinaus ausgedehnt worden war und sich auch in sonst eigentlich staatsfernen Bereichen breitgemacht hatte, von der „Reichsbräuteschule" über den Reichsjägermeister (einer von den vielen Titeln Hermann Görings) und Reichsnährstand bis zum „Reichs-studentenführer", erst recht nachdem das zentralistische NS-Regime alle in der Weimarer Verfassung noch gewahrten föderalen Elemente rigoros beseitigt hatte. Der für einen Vergleich noch geeignet erscheinende Untergang des Staatsnamens Deutsche Demokratische Republik (DDR) zog sich fast ein ganzes Jahr hin (man denke nur an alltagssprachliche Benennungen des noch existierenden Oststaates zwischen dem Beschluss der demokratisierten DDR-Volkskammer, dem Grundgesetz der Bundesrepublik beizutreten, und dem Vollzug dieses Beschlusses am 3.10.1990, z.B. Noch-DDR). Mental erträglich war der plötzliche Abschied von Reich als zentraler Bezugsgröße wohl nur durch das auch sonst waltende Chaos in allen Lebensbereichen, das der Zusammenbruch der NS-Herrschaft hervorgerufen hatte und das den allermeisten Deutschen kaum Muße für eine Besinnung auf übergeordnete politische Vorstellungen ließ.

Eine semantisch merkwürdige „Zwitterform" indes überlebte das staatliche Ende des Deutschen Reiches bis heute: die rückblickende Benennung des NS-Regimes als Drittes Reich, die in der Weimarer Republik bei Anhängern der „Konservativen Revolution" - insbesondere seit A. Moeller van den Brucks Buch „Das dritte Reich" (1923) - und schließlich auch bei den Nationalsozialisten als Zielbegriff für einen neuen, einen „völkischen" Staat galt. Nach Durchsetzung der NS-Diktatur hat im übrigen Hitler persönlich die weitere Verwendung dieses Begriffs zu unterbinden versucht; er verschwand tatsächlich aus der offiziellen Sprache, lebte aber nach 1945 auf verschiedenen Ebenen des Sprachgebrauchs wieder auf, wobei ihm eine gewisse „Griffigkeit" zugute kam, mit der das Spezifische des NS-Staates kurz bezeichnet werden kann. Allerdings changiert seine Bedeutung heute zwischen (leiser) Kritik und ursprünglicher Überhöhung eines Staates, der mehr sein wollte als das „zweite Reich" Bismarcks (von 1871) und das „erste", das Heilige Römische Reich Deutscher Nation (bis 1806). Unterstellt man dem heutigen Gebrauch von Drittes Reich aber hauptsächlich Gedankenlosigkeit, könnte man mit Blick auf Hitlers Versuch, das Wort wieder aus dem Verkehr zu ziehen, durchaus jenen stereotypen Satz der Zeit vor 1945 noch einmal zitieren: „Wenn das der Führer wüsste!" -

Endnoten

1 Vgl. Schlosser, H. D. (2005): „Es wird zwei Deutschlands geben". Zeitgeschichte und Sprache in Nachkriegsdeutschland 1945-1949. Frankfurt a.M.

2 Nur in der SBZ und DDR tilgte man den Begriff bis zur Lachhaftigkeit. So gab es dort keinen Führerschein mehr, sondern nur noch eine Fahrerlaubnis. Auch der Fremdenführer musste sich eine Umbenennung gefallen lassen: er wurde zum Stadtbilderklärer.

3 Bereits in Mein Kampf träumte Hitler von einem Germanischen Staat deutscher Nation (85.-94. Aufl., München 1934: 362 = letzter Satz von Bd. 1, 1925, Kap. 11).

4 Vollnhals, C. (Hrsg.) (1991): Entnazifizierung. Politische Säuberung und Rehabitierung in den vier Besatzungszonen 1945-1949. München. S. 83.

5 Flechtheim, O.K. (Hrsg.) (1963): Programmatik der deutschen Parteien. Teil I. S. 31 bzw. 52.

6 Ebda. S. 244 f.

7 Ebda. S. 272.

8 Facsimile in: Spittmann, I./Helwig, G. (Hrsg.) (1989): DDR-Lesebuch 1. Köln. S. 101.

9 Erdmann, K.D. (1980): Das Ende des Reiches und die Neubildung deutscher Staaten (= Gebhardt: Handbuch der deutschen Geschichte. Bd. 20). München. S. 269.

10 Vorübergehend hielten sich auch einzelne der während der NS-Zeit extensiv verliehenen Zusatztitel deutscher Städte, etwa Reichsmessestadt Leipzig (noch 1946).

11 Die SBZ/DDR-Partei gleichen Namens (Kürzel NDPD, gegr. 1948) konnte sich als Blockpartei natürlich keine vergleichbare politische Haltung leisten, obgleich sie bewusst als Sammelbecken für ehemalige NS-Anhänger gegründet worden war.

12 Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland. Erg.Bl. Nr. 1. Berlin 1946. S. 6.

13 Ebda. S. 14.

14 In einem Bericht der alliierten deutschsprachigen Wochenschau Welt im Film, Folge 6, Juni/Juli 1945, heißt es unter dem Titel „Nachspiel in Flensburg" ausdrücklich: „Großadmiral Dönitz und sein Stab haben nun die Aufgaben erfüllt, die ihnen von der allierten Militärregierung gestellt wurden."

15 Dönitz konnte nach der Kapitulation sogar noch eine knappe Woche lang den Sender Flensburg für Ansprachen benutzen, bis der Sender unter alliierte Kontrolle gestellt wurde.

16 Priamus, H. J. (1985): Die Ruinenkinder im Ruhrgebiet 1945-1949. Düsseldorf. S. 29.

17 Neues Deutschland, 19.6.1948, S. 1. - Auch 1990 wurde aus der „Noch-DDR" gegen die Vereinigung polemisiert, die Westdeutschen wollten die DDR zur Wort Kolonie (mit der gegen den damaligen Bundeskanzler gerichteten Variante Kohlonie) machen.

18 Umgekehrt wurde der „Sozialistischen Partei" im Land Baden/französische Zone bis 1948 das D für Deutschland verweigert..

19 Das Quasi-Westpendant, der Deutschlandfunk, wurde erst 1960 ins Leben gerufen.

20 Im April 1960 verbot die Regierung der DDR allerdings, auf Landkarten die Bezeichnung Deutschland zu führen.

21 Nach einer Privatquelle zitiert.

22 Ebenfalls Privatquelle.

23 Konrad Henlein (1898-1945) begründete 1935 die „Sudetendeutsche Heimatfront", die 1938 unter seiner Führung in „Sudetendeutsche Partei" umbenannt wurde.

24 In Österreich wurden Deutsche aus dem ehemaligen Altreich im Mai 1945 kurzerhand zu Ausländern erklärt (vgl. Kästner, E. (1989): Notabene 45. München. S. 113, 134 u.ö.).

25 Zitiert nach der Reclam-Ausgabe, Leipzig 1975 (u.ö.). S. 166.

26 Stötzel, G./Wengeler, M. (1995): Kontroverse Begriffe. Geschichte des öffentlichen Sprachgebrauchs in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin/New York. S. 28 und 30 f.

27 Reich-Ranicki, M. (2000): Mein Leben. Stuttgart, S. 324 f.

28 Deutschland wurde 1949 zumindest offizieller Bestandteil des westdeutschen Staatsnamens „Bundesrepublik Deutschland" und kam noch in Art. 1 der ersten DDR-Verfassung vor: „Deutschland ist eine unteilbare demokratische Republik" und wurde auch in der DDR-Staatshymne „Auferstanden aus Ruinen..." besungen: „Deutschland einig Vaterland".