Glossen 22

Wissen ist Nacht.[1]
Elementare Begriffe der Medientheorie von Alexander Kluge und Oskar Negt
Rainer Stollmann

Industrialisierung - Globalisierung

-- Kann man überhaupt von einer Medientheorie Alexander Kluges sprechen?

-- 1970, kurz nach dem Höhepunkt der Protestbewegung, als es in Deutschland so etwas wie „Medienwissenschaft" außerhalb der älteren Publikationswissenschaft noch gar nicht richtig gab, haben Kluge und Negt verabredet, ein Buch über die Medien zu schreiben. Aktueller Anlaß waren die in Wirtschaft und Parteien umlaufenden Pläne zur Gründung eines „Medienverbundes". Heraus kam 1972 Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit. Ein Titel, der nur in dem Begriff „Öffentlichkeit" an die „Medien" erinnert. Die Autoren haben während der Arbeit immer deutlicher bemerkt, daß man nicht über die Medien schreiben kann wie über etwas, das bloß außer uns liegt.

- Warum nicht?

- Weil man den Begriff dann verdinglicht, weil man dann der „gespenstischen Gegenständlichkeit", wie Marx sagen würde, dem „Schein des Faktischen" aufzusitzen Gefahr läuft. Was ist denn ein Medium, ein „Mittel" der Kommunikation? Kluge bezeichnet den Ausdruck als „Tarnkappe" (IB: 67). Etwa Buch und Fernsehen oder auch Film und Fernsehen gleichermaßen zuerst einmal als „Medium" zu bezeichnen, um dann über Unterschiede nachzudenken, führt leicht zur Verkennung wirklich entscheidender Differenzen. Das Buch ist im 15. und 16. Jahrhundert ein Mittel der Aufklärung in einer feudalabsolutistischen Welt, der Film ist an seiner Wurzel ein proletarisches Jahrmarktvergnügen und eine wissenschaftliche Erkenntnismethode, das Fernsehen ist die virtuelle Fortsetzung des Versandhauses: eine Ware wird durchgereicht bis ins private Wohnzimmer, ohne daß jemand an der Tür klingeln muß. Was soll es für einen Sinn haben, so verschiedene Erfindungen, die jeweils ganz charakteristisch in einer besonderen Epoche verankert sind, aus ihrem historischen Zusammenhang zu lösen und so zu tun, als ob sie zusammengehören? Das erinnert an die frühen Ökonomen, die Pfeil und Bogen genauso zum „Kapital" erklärten wie ein Eisenhüttenwerk.

Innerhalb von Gesellschaftstheorien sind „Medien" nie bloß eine Reihe von Dingen wie Buch, Zeitung, Film, Fernsehen. Es geht im Zusammenhang mit Medien immer um die Erkenntnis gesellschaftlicher Erfahrungsformen. Für Habermas ist Sprache (in Differenz zur industriellen Arbeit) das Medium der Emanzipation. Luhmann bezeichnet als „symbolisch generalisierte Medien": „Wahrheit, Liebe, Eigentum / Geld, Macht / Recht; in Ansätzen auch religiöser Glaube, Kunst und heute vielleicht zivilisatorisch standardisierte &Mac226;Grundwerte'".[2]

Wenn man, bewaffnet mit einem erweiterten Begriff von „Medium", auf das schaut, was wir heute „Medien" nennen, also etwa auf das Fernsehen, dann erkennt man, daß es sich zunächst um eine Fortsetzung des industriellen Prozesses handelt. Das ist der Kern des Begriffs „Massenmedium", das ist im 19. Jahrhundert die Industrie, die industrielle Arbeit, sie hat heute auf das Bewußtsein übergegriffen. England industrialisierte sich ab Ende des 18. Jahrhunderts auf Grundlage der Wollindustrie. Kontinentaleuropa, besonders Preußen / Deutschland war damals in Gefahr, zu einer Kolonie Großbritanniens zu werden. Die Bewahrung der ökonomischen Selbständigkeit konnte nicht gelingen mit einem Aufbau derselben Industrie, weil man darin England hoffnungslos unterlegen war. Sie gelang mit dem Aufbau der Kohle- und Stahlindustrie, besonders mit dem der Eisenbahn, später mit dem der Autoindustrie. Die USA, geschützt durch die Distanz von Europa, durch politische Unabhängigkeit und durch die Größe des Kontinents, wurde im 20. Jahrhundert führend in der Automobilindustrie, dem Flugzeugbau, später der Raumfahrtindustrie und allgemein der Konsumgüterindustrie bis hin zur industrialisierten Landwirtschaft. Die westliche Welt ist äußerlich durchindustrialisiert, wir können nicht ein zweites Eisenbahnnetz neben das erste bauen, auch Autobahnen lassen sich nicht noch einmal erfinden, ein Auto hat praktisch jeder, der Luftraum über der Welt ist in Besitzrechte aufgeteilt. Die Industrialisierung kann jetzt nur noch in den Weltraum (Raumfahrtindustrie) und ins Innere der Menschen bzw. der Natur (Genindustrie, Bewußtseinsindustrie)gehen.

Schon im 20. Jahrhundert schob sich die Film-, später die Fernsehindustrie in den Vordergrund. Die Filme Hollywoods beerben die Architektur des europäischen Absolutismus: Sie repräsentieren weltweit die Macht der Finanzwelt der amerikanischen Westküste so wie Versailles die Macht der Bourbonen.[3] Daß Kolonisierung ein wesentlicher Aspekt der Globalisierung ist, bestreiten auch die optimistischsten Wissenschaftler nicht. Wenn im Zusammenhang von Globalisierung so viel von „Kultur" („Multi-", „Inter-" „Transkulturalität") die Rede ist, dann deshalb, weil die Bewußtseinsindustrie ganz ähnlich wie die Stahlindustrie im Europa des 20. Jahrhunderts die heute leitende, markterschließende Branche ist. China wird sich nicht über Züge, Autos oder materielle Konsumgüter industrialisieren, sondern über das Fernsehen und die Neuen Medien. Mit diesem Geschäft sein Lebenswerk zu krönen, darauf wartet Rupert Murdoch und legt seinen weltweit abstrahlenden TV-Stationen deshalb schon einmal den Maulkorb um in Sachen kritischer Berichterstattung über die Volksrepublik.

Das ist der Grundgedanke der Medientheorie bei Kluge und Negt: man muß das Fernsehen, die Neuen Medien innerhalb der Geschichte der Industrialisierung betrachten. Es geht weniger darum, daß Schrift durch Bilder abgelöst wird - etwas, das nur begrenzt richtig ist -, daß das öffentlich-rechtliche vom Privatfernsehen verdrängt wird, oder daß wir zu Hause an Computern arbeiten, sondern es geht um den Zugriff der Industrie auf das Innere des Menschen. Nun hat natürlich die alte Industrie das Innere nicht unberührt gelassen, vielmehr ist der wesentliche Prozeß der Industrialisierung die insbesondere zeitliche Disziplinierung der Menschen, die Herrschaft des abstrakten Arbeitstages über alle anderen natürlichen, biologischen und kulturellen Zeiten. Aber das geschah quasi als Nebenprodukt der Warenproduktion. Mit dem Fernsehen und besonders mit den Neuen Medien jenseits des Fernsehens erleben wir zum ersten Mal den direkten Zugriff der industriellen Produktionsweise auf das Bewußtsein. In der westlichen Welt ist außen nichts mehr zu industrialisieren, auf das Flugzeug folgt das Fernsehen bzw. die Neuen Medien. Das menschliche Bewußtsein ist heute das, was im 19. Jahrhundert Afrika war, ein unerschlossener riesiger Kontinent, der niemandem gehört.

-- Nun gehörte aber Afrika sehr wohl jemandem.

-- Das haben die Kolonisatoren lange Zeit ignoriert, indem sie die Bewohner für Tiere hielten, die man jagen durfte, jedenfalls aber für minderwertig und dumm; bis es nicht mehr zu ignorieren war, hat es ein Jahrhundert gedauert.

-- Das könnte mit der Kolonisierung des Bewußtseins ähnlich sein?

-- Gewiß. Denn daß die Natur des Menschen, immerhin in 2 Millionen Jahren entstanden, und das Bewußtsein gehört ja dazu, sich wirklich industrialisieren läßt, ist ausgeschlossen.

Es geht in der Kritischen Theorie im Grunde nie um Objektivität, sondern um subjektiv-objektive Beziehungen, das ist die Objektivität von Philosophie und Soziologie. Wenn es um Medien geht, dann geht es also nicht um „Sender" und „Empfänger", also um Rundfunkanstalt und Fernseher, sondern immer notwendigerweise um Menschen, die in den Fernsehapparat hineinblicken. Und die kann man nicht auf „Empfänger" reduzieren, wenn sie doch das Lebendige darstellen, ohne das diese Dinge, Instrumente, Medien nicht existieren können. Die Erfindung von Mitteln, die Erfahrung transportieren, z.B. Sprache, Schrift, Bilder, Buchdruck usw. ist Teil der Zivilisationsgeschichte. An jeder dieser Erfindungen hängen Zweifel, die sich auf deren spezifische Mängel beziehen. Wer gut reden kann, mag der authentische Sprecher von anderen sein, er kann aber auch mittels der Sprache Macht über andere ausüben. Habermas' „herrschaftsfreier Diskurs" ist die Ausnahme von der Regel. Manche haben, weil Reden Herrschaftsinstrument ist, über das Schweigen nachgedacht [4] und verlangt, daß es in den Kommunikations- und Emanzipationsprozeß einbezogen werde. („Die Pause am Ende einer Mozart-Sinfonie, bevor das Publikum klatscht, ist auch von Mozart.") Oder wenn sich z.B. Sokrates weigerte, seine Gedanken in Schriftform niederzulegen mit dem Argument, daß für das Denken unbedingt ein zweites Gegenüber nötig sei, ein Gesicht, in das man blickt und mit dem man redet, daß also die Grundform des Denkens der Dialog sei und eben nicht der Monolog, zu dem das Aufschreiben unweigerlich verleite, auch wenn man, wie Plato, die Dialogform schriftlich beibehält, dann ist das eine Kritik an dem neuen Medium des Buches, die diesem für den Rest seiner Geschichte anhängt, und zwar auch dann, wenn wir Bücherliebhaber sind. Die mögliche Verdinglichung des Schriftlichen, die falsche Autorität, die sich Bücher anmaßen können, kritisiert dann Kant ganz ähnlich über 2000 Jahre später, wenn er darauf beharrt, daß kein Buch (und damit meint er zuerst das Buch aller Bücher, die Bibel) für einen Leser „Verstand" haben könne, den muß der Leser selbst entwickeln.[5]

Ähnliche Kritik und Selbstkritik ist für jedes andere Medium formuliert worden, für die Kunstgeschichte, die Oper, die Zeitungen, die Fotografie, den Film, das Radio, die Cartoons, natürlich für das Fernsehen. Medienkritik ist daher so alt wie die Medien selbst, sie bezieht sich auf den spezifischen Mangel, den ein besonderes Medium im Vergleich mit oraler, lebendiger Kommunikation oder dem Ideal menschlicher Kommunikation oder den Leistungen anderer Medien besitzt, dh. auf die besondere Nahtstelle, den Übersetzungsmechanismus, der ein Medium mit der unmittelbaren menschlichen Erfahrung verbindet.

„Das Fernsehen steht kopf", sagt Kluge manchmal, und damit meint er die vor allem in den Fernsehsendern selbst bestehende Vorstellung, daß die Fernsehzuschauer bloße „Empfänger" seien, die Unterhaltung, Bildung oder Nachrichten „empfangen" wollen, während sie doch in Wirklichkeit die Produzenten ihres eigenen und damit auch des gesellschaftlichen Bewußtseins sind, das „Medien" eben bloß auf die ein oder andere Weise „vermitteln", aber nicht produzieren können. Das Fernsehen kann Öffentlichkeit herstellen, aber nicht Bewußtsein. Es glaubt aber, es könne das, und die Neuen Medien befestigen diesen Irrglauben noch mehr.

-- Heute werden die Neuen Medien mit der Globalisierung in Verbindung gebracht, weniger mit der Industrialisierung.
-- Negt beschreibt Globalisierung sehr klar wie folgt:

„Ich unterscheide vier Wirklichkeitsschichten im Globalisierungszusammenhang, bei denen es sämtlich um Veränderung der Raum-Zeit-Koordinaten geht - geordnet nach dem Verfahren der abnehmenden Abstraktion, also nach geringer werdenden Geschwindigkeiten und Beschleunigungen in den Bewegungsformen von Menschen und Dingen: von der Börse über den Freihandel und die weltweiten Flüchtlingsmassen bis hin zum Gemeinwesen vor Ort. Je konkreter wir in die sozialen und kulturellen Lebenszusammenhänge der Menschen eindringen, desto schwerfälliger, widerständiger und eigensinniger ist der Veränderungsrhythmus der Realitätsschicht, der zusätzlich durch manche Reaktionsbildung unterbrochen oder verlangsamt wird. Den objektiven Schichtungen entsprechen Differenzierungen im Weltverständnis des einzelnen. Es wäre jedoch eine völlig verfehlte Relativierung, wollte man diese Schichtungen auf subjektive Merkmale, auf Bildung, religiöse Zugehörigkeit, Empfindungen und Erfahrungen reduzieren. Die Menschen reagieren vielmehr auf objektive Tatbestände, als deren Opfer sie sich fühlen, die sie subjektiv verarbeiten oder in tätiger Gewalt beantworten."[6]

Internationalisierung der Finanzmärkte, Migration vor allem in die Freihandelszonen und sogenannte „Glokalisierung", Auswirkungen von Globalisierung im Alltag - das ist der sozialwissenschaftlich nüchterne Begriff von Globalisierung, der von den Nebelschwaden und Rauchkerzen, die ihn in der öffentlichen Diskussion umgeben, absieht.[7]

Faßt man ergänzend dazu zusammen, was Kluge zur Globalisierung an verstreuten Stellen gesagt hat, dann würde das ungefähr so lauten:
Die erste Globalisierung sind unsere Körper. Wir mögen uns nach Hautfarbe, Sprache, Größe usw. unterscheiden, aber ist es nicht eigenartig, daß alle Menschen eine Körpertemperatur von knapp unter 37° haben? Das ergibt eine gute gemeinsame Basis für unser aller Gefühlsleben (die Grundunterscheidung von warm / kalt) auf der gesamten Erde. Was wäre, wenn die Bewohner der Nordregionen Kaltblüter wären? Wenn Dschungelbewohner ein drittes Auge hätten? Wie ein Kran verschraubt ist, kann ein deutscher Arbeiter einem interessierten chinesischen auch ohne Sprachkenntnisse zeigen. Ist es nicht frappierend, wie leicht wir Mitteleuropäer japanische (Autoren-) Filme (übersetzt oder mit Untertiteln) verstehen? Die gemeinsame Geschichte der natürlichen Evolution, die Mutter-Kind-Beziehung, die nackte Haut, die Leidensfähigkeit, der innere Geist der Unruhe, die Kommunikationsfähigkeit u.a. bilden ein globales Gefühlsfundament, den materiellen Kern des Begriffs „Menschheit".

Die zweite Globalisierung ist die neolithische Revolution, die Erfindung des Ackerbaus und der Seßhaftigkeit, die über 10000 Jahre eine auf der ganzen Welt recht ähnliche Prägung (jeder ist Bauer) der menschlichen Natursubstanz produzierte.

Die dritte Globalisierung ist die industrielle Revolution des 19. Jahrhunderts, deren Weiterführung mit anderen Mitteln, vor allem dem der Industrialisierung des Bewußtseins, heute „Globalisierung" genannt wird.

Es gibt, was ältere Medien wie das Buch zeigen, immer schon zwei Formen von kultureller Globalisierung; Don Quixotte von Cervantes (1547-1616) ist auf der ganzen Welt bekannt, gleichzeitig ist es das spanischste aller spanischen Bücher, mit Shakespeare, Dante, Schiller, Heine usw. verhält es sich nicht anders. Und dann gibt es Bestsellerlisten, dh. Bücher, die gleich für einen globalen Markt geschrieben werden, die sind gewöhnlich nach zwei Jahren und Millionengewinnen vergessen. Die Mainstream-Filme aus Hollywood funktionieren genauso. Im Film gab es ein europäisches Bewußtsein und einen Austausch in den 70er Jahren der Nouvelle Vogue und des Neuen Deutschen Films, von dem man sich heute, wo die EG im Ergebnis lächerliche europäische Projekte (Historienfilme), bei denen die Teams international gemischt sein müssen, mit viel Geld zu fördern versucht, gar keine Vorstellung mehr macht. Das alles heißt: Es gibt eine authentische Globalisierung und eine abstrakte. Die authentische Globalisierung im Film war inklusive der USA, also des New Hollywood (Coppola, Scorsese) in den 70er Jahren stärker als heute. Der sentimentale Provinzialismus und der christliche Fundamentalismus etwa der Regierung Bush gehen Hand in Hand mit der abstrakten Globalisierung unter Führung der Finanzmärkte.

-- Was genau ist Industrialisierung des Bewußtseins?

-- Die Industrielle Revolution, deren bekannteste Variante die englische ist, die mit der Vertreibung der englischen Landbevölkerung von den Äckern in die großen Städte Mitte des 17. Jahrhunderts begann, war insofern abstrakt, als sie gegen den Willen der Landbevölkerung stattfand und daher im ganzen Westen ein prekäres Stadt-Land-Verhältnis etablierte. Es ist für einen Bauern im 11. Jahrhundert relativ leicht, sich das Leben im 17. Jahrhundert vorzustellen, Schlösser und Kirchen sehen etwas anders aus, aber sonst hat sich nicht viel geändert. Stellen wir uns dagegen einen Bauern an der Ruhr im Jahre 1825 vor. Einen solchen Landbewohner fragen, was „Industrialisierung" ist, und heute fragen, was „Industrialisierung des Bewußtseins" ist, das ist ungefähr dasselbe. Niemand kann das heute genau wissen. Noch 1845 kann sich keiner den ersten „Eisenbahnkrieg" von 1870 vorstellen, 1871 spricht Friedrich Engels zum ersten Mal von „Weltkrieg", aber niemand kann sich die Welt im Jahre 1912, geschweige denn die von Verdun 1916 vorstellen. Wir befinden uns heute auch etwa in dem ersten Drittel eines solchen Prozesses, und es läßt sich nicht absehen, was am Ende dabei herauskommt. Aber daß es sich um einen ebenso eingreifenden und folgenreichen Prozeß handelt wie die Veränderung der äußeren Landschaften durch die Kohle- und Stahlindustrie, das ist sicher. Die Proletarisierung, dh. die Enteignung und Akkumulation des Bewußtseins, der intelligenten Tätigkeiten des Kopfes und der Seele, sind in vollem Gang.[8] Aber ob es sich, wie Kluge sagt, um eine Industrialisierung der „Bewegungsarten des Geistes", seiner „Inhalte", um die Industrialisierung der „Leistungen des Bewußtseins", um die der „Speicher" oder des „Austausches" oder um noch etwas anderes handelt, das ist nicht abzusehen. (IB: 54) Die Industrialisierung des Bewußtseins ist aber jedenfalls die Fortsetzung der ersten Industrialisierung, die auch schon „falsch" verlaufen ist. Man muß gewissermaßen eine erste Industrialisierung erfinden, die unter Zustimmung und nicht unter Enteignung der Bauern und Landbewohner verläuft, die sähe aber anders aus als die, die wir haben. Von dieser Basis aus muß man an die zweite Industrialisierung herangehen. Man kann nur eins sagen, daß das Festhalten an einer vorindustriellen Gesellschaftsform um 1850 sinnlos war. Das heißt, wir müssen an dem Projekt der Industrialisierung des Bewußtseins mitarbeiten, selber arbeiten. Die Industrialisierung des 19. Jahrhunderts hat uns all die schönen Sachen wie Züge, Fahrräder, Waschmaschinen, Licht, erschwingliche Möbel usw. gebracht, ohne die wir heute nicht leben wollten. Sie hat aber auch ein 20. Jahrhundert der Kriege nach sich gezogen (erster und zweiter Weltkrieg, dann kalter Krieg, jetzt asymmetrischer Krieg, also praktisch Krieg von 1914-1989 und darüber hinaus). Heute wissen wir etwas besser, an welchen Fronten man damals hätte kämpfen und arbeiten müssen. Es kommt aber darauf an, diese Stellen heute zu finden, um die neue Stufe der Industrialisierung von so schrecklichen Kosten zu befreien. Sie führen dazu, daß Zweifel an dem ganzen Projekt aufkommen können. Insbesondere für Deutschland, in dem die Industrialisierung des 19. Jahrhunderts getrennt vom Gemeinwesen in einer Allianz von Staat und Kapital abgelaufen ist, hat man oft den Eindruck, daß insgeheim eine Mehrheit am liebsten immer noch in einer Handwerker- und Bauerngesellschaft leben möchte, ganz wie Goethe, der auf das „Klappern der Webstühle" mit Fluchtreflex reagierte. In der gegenwärtigen Trägheit und dem Pessimismus Deutschlands, eigentlich einem allmählichen Verschwinden von Politik, unabhängig von aller neoliberalen Propaganda, verbirgt sich eine Art Sehnsucht nach unmittelbarer Erfahrung, die um 1850 entstanden ist und sich auf romantische Weise der industriellen Mittelbarkeit, der Wiederholung und Flüchtigkeit, die jedem industriellen Prozeß anhaftet, entzogen hat. Die hat Goebbels teilweise in der „stählernen Romantik" fatal mobilisieren können, heute wirkt sie als bloße Verweigerung. Sie vermischt sich im Osten unseres Landes mit der durch unmittelbare Erfahrungen im Gefolge des Anschlusses gestützten Gefühlslage, daß das System der DDR bei aller Unerträglichkeit in der Beschreibung des Gegners doch nicht ganz unrecht hatte. Für dieses Gefühl, diese Erfahrungen fehlt jede Vermittlung, jedes Medium. Dann kann ihre Kraft in den Rechtsradikalismus gehen.

Öffentlichkeit - klassisch und abgeleitet

-- Es gibt bei Kluge und Negt mehrere Begriffe von Öffentlichkeit: In Öffentlichkeit und Erfahrung vor allem die „bürgerliche" und die „proletarische Öffentlichkeit". In seinem Aufsatz Industrialisierung des Bewußtseins spricht Kluge dann von „klassischer" und von „abgeleiteter Öffentlichkeit".

-- In Öffentlichkeit und Erfahrung ist auch noch von „Produktionsöffentlichkeit", von „Medienverbund" sowie von anderen Öffentlichkeitsformen („politische Öffentlichkeit", „Kinderöffentlichkeit" u.a.) die Rede. Der Begriff der „proletarischen Öffentlichkeit" ist zunächst gegen die Ausgrenzungen der bürgerlichen Öffentlichkeit gerichtet: den Unternehmensbetrieb und das Private. Das umgreift auch der Begriff der „Produktionsöffentlichkeit", den Negt und Kluge in Geschichte und Eigensinn auf die Geschichte Deutschlands anwenden: In einem nicht ganz leicht abgrenzbaren Teil des westlichen Mitteleuropa produzieren über ein Jahrtausend Menschen ihre eigene Geschichte. Was für ein Bild ergibt sich, wenn man diesen Vorgang als öffentliche Produktion ernst nimmt?

Die Begriffe der „klassischen" und der „abgeleiteten" Öffentlichkeit ergeben sich bei einer etwas engeren Perspektive auf das Fernsehen und die ihm nachfolgenden Neuen Medien. „Klassisch" sind alle bürgerlichen Öffentlichkeiten samt den Einsprengseln anderer, also auch proletarischer Öffentlichkeiten bis zum Fernsehen. Vom Fernsehen sagt Kluge, es sei ein „Zwitter", halb (eher gegen seinen Programmwillen) noch klassische, halb schon abgeleitete Öffentlichkeit. Die abgeleiteten Öffentlichkeiten sind Ausschnitte von Produktionsöffentlichkeiten, nämlich abgeleitet von der industriellen Produktion der führenden, neuen Industrie, der Medienindustrie.

-- Was kann man sich unter „abgeleiteter Öffentlichkeit" vorstellen?

-- Abgeleitete Formen von Öffentlichkeit haben die Tendenz, den Zugang zur Quelle aller Öffentlichkeit, nämlich zur unmittelbaren menschliche Erfahrung zuzuschütten. Klassische Öffentlichkeiten bilden sich nur heraus und bleiben lebendig im Kontakt zu dieser Quelle. Heute ist die dominante Form der Fernsehöffentlichkeit die Unterhaltung (daneben Nachrichten / Information und „Bildung"). Immer mehr an Stoff muß durch dieses Nadelöhr, d.h. die Fernsehprogramme leiten sich hauptsächlich ab von einer fixen Idee von „Unterhaltung". Es ist sicher kein Zufall, daß dieser überaus schwammige Ausdruck eine solche Karriere gemacht hat. Eine Unterhaltung auf der Straße zwischen lebendigen Menschen ist etwas, wovon wir alle sozial zehren, ein unbedingt notwendiges Element der Lebenswelt, auf das sich dieser vieldeutige Mischausdruck „Unterhaltung" auch noch beruft. In Wahrheit passiert aber im Fernsehen etwas ganz anderes als zwischen lebendigen Menschen, Unterhaltung ist dort eine Mischung von Genrefilmen (Krimis, Suspense, special effects, Action, Schnulzen, Serien), Spielen, Talkshows für Zielgruppen, meist eingerahmt von entsprechender Werbung, Musiksendungen, unterhaltende Wissenschafts- und Bildungsprogramme usf. Unterhaltung, sagt Dieter Prokop, ist das „Geld des Fernsehens", d.h. so wie Geld zum Kauf von irgendetwas nötig ist, tendiert das Fernsehprogramm immer mehr dazu, nichts mehr mindestens ohne unterhaltenden Nebeneffekt zu senden. Unterhaltung ist der kleinste gemeinsame Nenner zwischen Programm und Zuschauer - so wie Käufer und Verkäufer auf das Geld (nicht gefälscht, auch morgen kann ich dafür noch etwas kaufen) vertrauen, so muß wenigstens der Unterhaltungswert des Fernsehens stimmen.

Kluge beschreibt diese industrielle (wie am Fließband hergestellte) Form von Unterhaltung mit unterschiedlichen Begriffen: „Angebot, Eigensteuerung wegzunehmen und die Fremdsteuerung zu begrüßen" (IB: 104), „Bibbern" in „fremden Leben" (115), „verschiedene Arten, hektisch zu sein" (108), Fortfall von Pausen, so daß sich Zuschauer Zeit für eigene Phantasie nur durch „Unaufmerksamkeit" (106) beschaffen können. Für die dominante Form amerikanischer Unterhaltung, den „suspense", gibt es, wenn man genau hinsieht, „verblüffend wenige Handlungskonstellationen, die ihn auslösen", Kluge nennt 12 „Muster", das stärkste davon ist die Bedrohung eines Liebespaares, etwas starkes Drittes (Gewalt, Tod, Irrtum, Ungleichheit, Krankheit) droht, Liebe zu beenden.

„Der Suspense lenkt die Aufmerksamkeit auf den noch in der Schwebe gehaltenen Schlag des Schicksals. Die Dramaturgie des Suspense verharrt nirgends gründlich auf glücklichen Momenten; die Erzählung bewegt sich, gefesselt, um Schuld, Strafe, tödlichen Schlag und leichten Sinn. Suspense arbeitet mit der Angstlust. Die Bewußtseinsindustrien antworten auf eine in den Bevölkerungen endemisch angelegte psychische Struktur, die die Schuldgefühle der Kinderzeit erotisiert. (IB: 117)

Trauer ist im suspense und in der Unterhaltung abwesend. Die Fernsehwoche enthält etwa 150 bis 500 Leichen, aber getrauert wird nicht. Das ist „abgeleitete Öffentlichkeit", abgeleitet von einem fiktiven Ideal von Spannung, Fröhlichkeit, Sentimentalität usw., die mit unmittelbarer Erfahrung etwa der des Todes, nichts mehr zu tun hat.

-- Nun gibt es aber auch noch andere Programme, Dokumentationen z.B.

-- Bei der Anmoderation von etwas Traurigem muß die Ansagerin darauf achten, daß sie nicht gewohnheitsmäßig „Wir wünschen Ihnen spannende Unterhaltung" sagt, aber es gelingt ihr nicht, am Ende der Ansage das Abschlußlächeln zu unterdrücken, das zu diesem untypischen Film nicht paßt. An solchen Pannen kann man die Macht der abgeleiteten Öffentlichkeit erkennen. In der Tagesschau kommt viel Trauriges vor, aber darüber kann dort auch nicht getrauert werden, es bleibt bei Informationen des Schreckens oder des Unfaßbaren. Eventuelle spätere Expertenrunden trauern auch nicht. Genau diese programmatische Zerlegung in Sparten (Unterhaltung, Bildung, Information) ist die Verschüttung der Quelle zur unmittelbaren Erfahrung - programmatische Öffentlichkeit anstelle von klassischer.

-- Und was wäre an einer Oper klassische Öffentlichkeit?

-- Jeder hat die Erfahrung gemacht, daß etwas in einem Buch, Film, in der Oper einen unmittelbar trifft. Im Fernsehen kommt das fast nie vor. Legt man sich darüber Rechenschaft ab, was dort getroffen wurde, so stößt man auf individuelle Erfahrungsmomente und -ketten, die man keinem Fremden, in keinem Universitätsseminar, oft nicht einmal dem engsten Vertrauten mitteilen möchte, oft auch nur schwer oder gar nicht in Sprache fassen könnte. Wenn in einem Theater- oder Kinosaal ein Publikum bemerkt, daß viele so empfinden, obwohl die angerührten individuellen inneren Romane alle verschieden sind, so handelt es sich um die Verknüpfung unmittelbarer Erfahrungen in der klassischen Öffentlichkeit. Das genau ist ihre Macht. Allein einen Film im Fernsehen sehen, ist niemals dasselbe - die komischen und die bewegenden Stellen, eben die Nahtstellen mit unmittelbarer Erfahrung verschwinden. Klassische Öffentlichkeit kann sich auch herstellen, wenn ein Politiker, der Vertrauen genießt, die treffenden Worte oder die passende Geste findet (wie z.B. Willy Brandt bei seinem Kniefall in Warschau). Was hier entsteht, ist zunächst ein Innehalten, ein innerer Zeitgewinn. Ein Film war dann gut, wenn ich den Übergang auf die Straße nicht recht wahrnehme, sondern ein Stück der Filmzeit mit heraustrage (Zugewinn an Zeit).

Da abgeleiteten Öffentlichkeiten dieses Moment des Zugangs zu unmittelbaren Erfahrungen fehlt, dominiert in ihnen die Hektik und die Sentimentalität, das Rasen und das Schleimige. Sie müssen das Publikum permanent vom Gravitationspunkt der eigenen unmittelbaren Erfahrung wegzerren. Innerlich nur dann „abschalten" zu können, wenn der Fernseher angeschaltet ist, heißt, die Enteignung von Erfahrung zu genießen versuchen. Das hat das Fernsehen nicht erfunden, sondern es ist z.B. das Prinzip des Hollywood-mainstream-Kinos. Betritt man nach solchen Filmen die Straße, man blickt seine Freunde an, so will man dort nicht sein. Man braucht eine Weile, muß einen gewissen Ärger unterdrücken, um sich an seine eigene Wirklichkeit wieder zu gewöhnen. Was den abgeleiteten Öffentlichkeiten, der Enteignung von Erfahrung von seiten der Menschen entgegenkommt, ist, daß „alle Formen der Selbstbestimmung ... wenig unterhaltend" sind. „Lernprozesse der unmittelbaren Erfahrung sind atavistisch, anstrengend, in der Mehrzahl vom libidinösen Haushalt entkoppelt." (IB: 99) Worauf das Fernsehen und noch mehr die ihm folgenden Neuen Medien spekulieren, das ist der „moderne Höhlenmensch" (IB: 98):

Heiner Müller[9]

FERNSEHEN
Margarita says my father
Was Howard Hughes a member
Of the next / last generation
Which doesn't move its ass
From the tv-chair because
Outside lives man the beast
On the screen at least
It is flat and doesn't watch you

Müllers Gedicht beschreibt den Kern des Vorzugs oder der Lust mittelbarer Erfahrung: Man kann alles sehen (oder hören, lesen), ohne selbst dreidimensional, dh. wirklich dabei zu sein. Unter diesem Genuß-Aspekt leidet ernsthafte Kunst bisweilen selbstzweiflerisch, während entertainment unter seiner Dominanz alles an Rohstoffen verdaut. Alle Medien und schon der Mensch mit dem ich rede, je fremder er mir ist und umso weniger ich weiß, ob ich ihm vertrauen kann, haben es ausschließlich mit mittelbarer Erfahrung zu tun: ich kann es nicht selbst erlebt haben. Es gibt mittelbare Erfahrung in der Funktion der Realitätsflucht, aber ebenso ist der Reichtum aller vergangenen und fremden Erfahrung (von anderen lernen) auf Mittelbarkeit, auf Medien angewiesen.

Womit man länger zu tun hat, was man täglich braucht, davon verlangt man Qualität. Ein Klempner würde sich weigern, mit einer billigen Rohrzange aus dem Baumarkt zu arbeiten, mit der ein Laie für gelegentlichen Gebrauch zufrieden sein kann. Ein Übersetzer benutzt ein gutes Lexikon und kein knappes für Touristen. Business-men, Politiker tragen erstklassige Anzüge; wer nur für Beerdigungen und Hochzeiten einen braucht, ist mit billigerer Ware zufrieden. Kriterien für Qualität sind also Dauer und Verläßlichkeit. Qualität ist an die langfristigen Interessen der Menschen gebunden, die aber gleichzeitig nicht die Ausnahmefälle, nicht das Besondere sind, sondern ihren Sitz im täglichen Leben haben. Fernsehen, das sich auf die langfristigen Interessen der Menschen bezieht, genauer: sich mit ihnen verbindet, stellt klassische Öffentlichkeit her.

Das heutige Fernsehen hat sich dagegen fast ausschließlich mit den kurzfristigen Interessen der Menschen verknüpft. Kurzfristige Interessen sind: Ich komme erschöpft von der Arbeit nach Hause und will in den nächsten zwei Stunden an nichts Problematisches erinnert werden.

Neil Postmans Einsicht, Unterhaltung als quasinatürlicher Rahmen von allem Inhalt zerstöre Erfahrung, ist vollkommen richtig.[10] Andererseits ist die menschliche Erfahrungsfähigkeit harte Materie. Man müßte schon Kinder im Alter von 2-6 Jahren täglich zu sechsstündigem TV-Konsum billiger Comics zwingen, um sie zu ruinieren. Das würden sich Kinder aber nicht so einfach gefallen lassen. Insofern kann man im Durchschnittsfernsehen, auch wenn dessen Haupttendenz auf Missachtung von Erfahrung geht, noch immer und an unterschiedlichsten Stellen den störenden Einfluß langfristiger Interessen beobachten.[11]

Das Fernsehen hatte einmal von sich das Ideal, ein „Fenster zur Welt" in jedem Wohnzimmer zu sein. Es ist vollkommen klar, dass dieses Ideal in 80% der Programmzeit, in der eben ins Studio geblickt wird, missachtet wurde. Die Verhältnisse auf dem amerikanischen Markt haben aber seit den 70er Jahren dazu geführt, dass dieses Ideal auch noch von den restlichen 20% vernachlässigt wurde. Die Unterhaltungsindustrie, Disney, Warner Bros., Studioproduktionen, Filmverwertung, merchandizing hatten die Tendenz, es auf 100% zu bringen. Das Ergebnis davon war Ted Turners CNN. Ein wirklicher Unternehmer, also jemand, der nicht bloß das Vorhandene verwaltet, findet auf dem Fernsehmarkt die Lücke und bündelt die Realitätsinteressen der Menschen, die es neben den Unterhaltungsinteressen eben auch noch gibt, in einem eigenen Geschäft.

Herkömmliche Unterhaltung schleift auf der Unterseite Fragmente von Lebenserfahrung mit sich. Denn es ist ja nicht so, dass in Schlagern, soap-operas, kitschigen Liebesfilmen, Krimiserien usw. die entscheidenden, langfristigen Lebensinteressen der Menschen nicht vorhanden wären, vielmehr geht es doch gerade im mainstream-TV immer um die große Liebe, den Sinn des Lebens, die Rettung der Welt vor Katastrophen, große Gefühle, aber auch alltägliche Beziehungen. Nirgendwo fallen bedeutungschwangerere Sätze, appellieren die Bilder so an innerste seelische Kerne wie gerade dort. Nur eben: nicht ernsthaft, sondern immer so, als ob man einen Elektriker mit einem Werkzeugkasten aus dem Baumarkt nach Tschernobyl zur Reparatur schickte. Geschieht dies 50 Jahre lang, so machen sich Gegenstimmen bemerkbar. Cartoon-Serien wie die „Simpsons" oder „South Park" halten bemerkenswert lange Berührung mit Geschichte, Kultur, Politik, wirklichen menschlichen Beziehungsverhältnissen. Auch bestimmte late-night-shows stellen im Bruch mit der political correctness, im größeren, historischen und kulturellen Horizont ihrer Themen Alternativen zum prime time entertainment dar, weil sie wieder an unmittelbare Erfahrung anknüpfen.

Qualitativ kann sich das im mainstream-TV vorhandene Qualitätsfernsehen von den Formen des entertainments nicht weit entfernen. Die „Simpsons" greifen zwar auf die Bildersprache der frühen Comics zurück und beziehen alle möglichen wirklichen Probleme ein, aber sie bleiben doch in Aufbau, Effekten, Dramaturgie und Komik an das Genre gebunden. Der Nachrichtenmarkt enthält eine andere Verzerrung, die aus der Feindschaft und Konkurrenz zum entertainment herrührt. Wir kennen alle die Bilder der Bombardierung Bagdads, die teilweise von Militärkameras aufgenommenen Sequenzen vom serbischen Krieg. Dem Inhalt nach ganz abgekoppelt von dem, was das entertainment betreibt, kann sich Nachrichtenjournalismus gerade nicht von der Konkurrenz mit dem entertainment freimachen. Wenn die Einschaltquoten bei CNN während katastrophischer Ereignisse höher liegen als bei Spielfilmen oder game-shows auf NBC, ABC, CBS, dann deswegen, weil der wirkliche Krieg spannender ist als ein Spielberg-Film. CNN schlägt Hollywood, weil die atemlose Angstlust, auf die beide im Publikum spekulieren, sich hier auch noch einreden kann, sie habe es mit Wirklichkeit zu tun. Dass CNN inzwischen wieder in den Schoß des entertainments zurückgekehrt ist, entbehrt daher nicht der Logik. Wir können 20 Jahre Nachrichten sehen, uns also permanent über alle Weltereignisse informieren und werden am Ende doch nicht etwas besitzen, das man mit einigem Recht als „politisches", „gesellschaftliches" oder „historisches Bewußtsein" bezeichnen könnte. Der Grund ist die Fragmentierung der Fakten, der fehlende Zusammenhang zur Geschichte, zu einem wirklichen Horizont und die Dominanz des suspense.

Nun kann man noch die Formate nennen, die in größerer Distanz zum Markt angesiedelt sind und für sich Qualität beanspruchen, „Kultursendungen", „politische Magazine", „investigativer Journalismus", „Dokumentationen", „anspruchsvolle Filme" u.ä., also alles, was Arbeit und Geld kostet, Schwieriges transportiert und geringe Quoten hat. Auch ganze Kanäle wie ARTE, Phönix, XXP, 3Sat, um nur die deutschen zu nennen, gehören dazu. Das alles macht aber trotz einzelner bemerkenswerter Erfolge wie der „Simpsons" kaum mehr als 10% der weltweiten Produktion aus.

Was haben wir im Fernsehen über den 11. September 2001 gesehen? Zunächst immer wieder die gleichen wenigen zufällig, laienhaft aufgenommenen Bilder. Es war ein Glücksfall, dass diese Bilder unprofessionell sein mußten, sie transportieren in ihrem Zittern, dem schiefen Focus, dem mitgefilmten Nebensächlichen, die Realität des Angriffs auf das WTC viel authentischer als ein CNN-team dies vermocht hätte. Auch die fortgesetzte Wiederholung hat sie nicht beschädigt, man gewann als Zuschauer Zeit, überhaupt zu akzeptieren, dass es sich hierbei um Wirklichkeit handeln konnte. Das professionelle Fernsehen, das darauf folgte, bestand aus Bildern vom Unglücksort, Politiker-Interviews, Experten-Interviews, Kurzbefragungen von Augenzeugen, Abfilmen von offiziellen Trauerfeiern, Talk-Runden und schließlich einem enttäuschenden, weltweit in Prime-Time ausgestrahlten Film über eine New Yorker Feuerwehrstation, der den Eindruck vermeiden wollte, aber nicht konnte, daß die armen Feuerwehrleute an dem Tag völlig hilf- und ratlos gewesen sind. Damals und heute noch immer besteht ein aktuelles Interesse am Terrorismus. Der Begriff wurde in der französischen Revolution geprägt und war positiv auf den neuen Staat und gegen seine Feinde bezogen. Wenn der amerikanische Präsident einen Krieg gegen den globalen Terrorismus erklärt, wäre es dann nicht interessant, etwas mehr über die Ursprünge dieser Sache zu erfahren? Die französische Revolution, die Geschichte der Partisanen, seitliche Fragen wie z.B. die nach Amokläufen, Kamikaze, die Frage, was ist überhaupt Krieg, wie wird er definiert, wie entstehen Feindbilder, was ist ein Feind, welche Verhaltensweisen haben Menschen im Umgang mit Feinden entwickelt, oder auch: wie bewältigen Menschen große Katastrophen, was ist überhaupt Trauer, wie sind Menschen sonst mit solchen Schrecken umgegangen usf. Für das alles wäre ein weltweites großes Publikum da gewesen oder ist es vielleicht immer noch. Warum hat kein Fernsehsender einmal einen ganzen Tag oder sogar eine ganze Woche solchen Themen gewidmet? Eine Vielfalt von Formaten wäre dazu möglich gewesen. Es hätte allerdings vorausgesetzt, dass man von dem sechs Wochen im voraus geplanten und in TV-Zeitschriften abgedruckten Programm abgewichen wäre und dass nicht einzelne Redaktionen und Abteilungen ihren Sendeplatz, ihr Ressort und ihren Einfluß eifersüchtig bewachen würden. Zu einer solchen Form von klassischer Öffentlichkeit sind öffentlich-rechtliche Fernsehsender ihrer hochbürokratischen Struktur nach nicht in der Lage, kommerzielle ihrer mangelnden Kompetenz wegen. Fernsehen als klassische Öffentlichkeit scheitert nicht am Interesse des Publikums, auch nicht unbedingt an den Marktverhältnissen, und nicht an den Kompetenzen, die unter Journalisten vorhanden wären, sondern an der Struktur der Institutionen. Fernsehsender, ob private oder öffentlich-rechtliche, sind palastartige hochragende Treibhäuser, avancierte technologische Fabriken mit einzelnen Fachabteilungen, die darauf spezialisiert sind, wirkliche Zusammenhänge so zu zersplittern und zu bearbeiten, dass sie den gewohnten Ablauf des Tages, d.h. das Programm nicht sonderlich stören.[12] Sie können auf die den Betrieb eigentlich störende Wirklichkeit nicht adäquat reagieren, ohne ihre Struktur aufzugeben. Um das genauer zu verstehen, kann man z.B. in der Soziologie den Systembegriff (Luhmann) studieren.


Unmittelbare und mittelbare Erfahrung

„Der Reichtum der Erfahrung und das Geschichtenerzählen sind die Grundlagen der klassischen Öffentlichkeit." (IB: 73) Die Differenz zwischen unmittelbarer und mittelbarer Erfahrung ist aber nicht identisch mit der Erfahrung zwischen lebendigen Menschen einerseits und etwa dem Dazwischentreten eines dinglichen Mediums. Zwar ist Medienerfahrung immer mittelbar, aber es wäre schon eine Verdinglichung, ausschließlich sie für mittelbar zu erklären, wenn doch schon jede mündliche Erzählung eines anderen von etwas, das ich nicht selbst erlebt habe, ebenfalls fremde unmittelbare Erfahrung mitteilt, „vermittelt".

Ein Lehrer erklärt das Schwimmen. Davon lerne ich es aber nicht so weit, daß ich sagen könnte: Ich kann schwimmen. Man muß ins Wasser, und je nach Veranlagung, Vertrauen zum Lehrer, Vorerfahrung mit dem Wasser, den Umständen der ersten Schwimmstunde und anderen Momenten lernt es einer schneller oder langsamer. Auf dem Weg nach Hause teilen sich Kinder ihre unmittelbaren Schwimmerfahrungen mit. Jetzt tauschen sie sich über das Medium der Sprache (auch der Körpersprache) aus, unmittelbare Erfahrungen vernetzen sich, es entsteht interessierte Öffentlichkeit. Die Form dieses Austausches ist die von (kleinen) Geschichten: was geschah, als ich zum ersten Mal im Wasser keinen Boden unter den Füßen hatte.

Das ist der elementare Zusammenhang: unmittelbare Erfahrung, die über ein Medium zur mittelbaren, in Geschichten mitteilbaren wird und sich mit anderen Geschichten zur Öffentlichkeit, einem Resonanzraum, einem erweiterten Erfahrungsraum („so wie der werde ich beim nächsten Mal auch zu schwimmen versuchen") entwickelt.

In vielen Zusammenhängen ist unsicher, ob unmittelbare oder mittelbare Erfahrungen von größerem Gewicht sind. Mit einem guten Schwimmlehrer, den die Kinder lieben, werden sie rascher lernen. Wenn sich nach Erscheinen von Goethes Werther eine Anzahl junger Männer aus Liebeskummer das Leben nimmt, so ist der fatale Einfluß mittelbarer Erfahrung (des Lesens) unstrittig. Trotzdem ist unmittelbare Erfahrung originär, sie prägt; in der Kindheit gibt es zunächst keine andere. Wie sehr einer bereit ist, mittelbare, mitgeteilte Erfahrung sich zu eigen zu machen, ist eine Frage des Vertrauens. Das gilt für Menschen ebenso wie für Zeitungen, Film, Fernsehen und Neue Medien.

Eine Schulklasse wird sich im Lauf der Jahre nicht nur über Schwimmen unterhalten, sondern je nach Intimität und Zusammenhalt einen mehr oder weniger großen Reichtum an Erfahrungen austauschen. „Für diesen Verkehr gelten die Kriterien: Einmaligkeit und Dauer." (IB: 77) Einer erzählt, was er selbst so wie kein anderer erlebt hat, und es entsteht keine Öffentlichkeit, kein Erfahrungsaustausch, wenn er nicht jeweils alles erzählen kann, was dazu gehört. Pausenglocke, Fachunterricht, Themen der Stunde, die zeitliche Begrenzung der Schulstunde selbst behindern die Dauer. Andererseits wäre ohne Schulpflicht die Möglichkeit des reichen Erfahrungsaustausches von Kindern nicht entstanden. Medien, die den Zugang zu unmittelbarer Erfahrung suchen und offenhalten, bilden die klassischen Öffentlichkeiten. Historisch gehören dazu u.a. die oralen Traditionen der Mythen, Märchen, Legenden, das Theater, der Markt, der Jahrmarkt, der Boulevard, die Passagen, Caféhäuser, die Flugschriften, Zeitungen, Bücher, Literatur, Romane, Wissenschaft, Philosophie, das Parlament, die Oper, das Radio, Versammlungen, Demonstrationen, politische Parteien, das Kino. Das Fernsehen ist ein „Zwitter", halb noch klassische, halb schon abgeleitete Öffentlichkeit.

Eine klassische medientheoretische Schrift ist der sog. Kunstwerk-Aufsatz von Walter Benjamin. Er analysiert darin den Film und seine Bedeutung in der Kunstgeschichte, die aber immer auch exemplarisch für die Geschichte der Wahrnehmung steht. Alle Medien zuvor, so könnte man Benjamin interpretieren, das Theater, das Buch, die Malerei, die bildende Kunst und die Fotografie, sind Medien der Sammlung, der Konzentration, der Versenkung. Das ist die Erfahrungsform, auf die sie angewiesen sind. Der Film aber verlange die „Zerstreuung". Er besitze keine „Einmaligkeit" und „Dauer" (= Aura). Dem widerspricht Kluge. Man kann, sagt er, die Aura nicht bloß auf das Ding, das Kunstwerk, beziehen. Auch wenn es vom Film kein „Original" gibt, sondern nur Kopien und daher auch keinen einmaligen geographischen Ort, so gibt es doch einen einmaligen sozialen Ort, das Kino. Dort versammelt sich das Publikum, und wenn es dunkel wird, entsteht eine einmalige öffentliche Intimität, die man ebenfalls als „auratisch" bezeichnen kann. Wie keine andere Kunstform vermöge nämlich der Film sich unmittelbar an die subjektive Erfahrung des Assoziationsstroms, des lebenslangen inneren Films anzuschließen.

„Es gibt nichts in der Geschichte des Kinos, das sich Menschen nicht auch, ohne Filme gesehen zu haben, vorstellen könnten. Aber dadurch, daß solche Erfahrungen in Form öffentlicher Bilder an einem bestimmten Ort ... zu sehen sind, während ich bemerke, daß noch andere als ich Zuschauer sind, erhalten die Erfahrungen ein anderes Selbstbewußtsein, eine zusätzliche Sprache, zusätzlich zu der täglich entmutigten meines bloßen Innern." (IB: 68)

Im Vergleich mit Büchern und deren abstrakten Buchstabenwelten erscheint der Zugang des Films zur unmittelbaren Erfahrung sogar direkter. Alles, was Benjamin über das Kino sagt, gilt nach Kluge eigentlich erst für das Fernsehen.

Der Gegenbegriff zu den auf unmittelbarer Erfahrung basierenden Medien ist das Programm. Das hat zunächst nichts mit Technik zu tun. Vorläufer des Programms sind die Genres der Literatur und des Kinos. Lese ich einen Krimi (aus einem Krimiprogramm eines Verlages mit einem programmatischen Titel), so weiß ich, daß ich so etwas nie erleben werde und daß auch die unmittelbare Wirklichkeit selbst sich sehr selten, eigentlich nie zu solch spannenden und überraschenden Handlungsfolgen zusammensetzt, in denen am Ende meist die Gerechtigkeit siegt. Auch die die Filmgeschichte überschattende programmatische Zweiteilung von Dokumentar- und Spielfilm ist bereits gegen die Vielfalt unmittelbarer Erfahrung gerichtet. Ein Dokumentarfilm über die Kirchen Wiens schneidet z.B. die neben den Kirchen in die gleiche Höhe ragenden Hochhäuser und den Schornstein der Müllverbrennungsanlage aus, die jedes lebendige Auge wahrnehmen muß. Ein Dokumentarfilm über Venedig wird vermutlich abwarten, bis die gerade im Hafen liegende kleine Flotte von Schlachtschiffen, die ich als angereister Tourist verwundert wahrnehme (und für etwas Einmaliges halte), wieder ausgelaufen ist, um sich den Gondeln widmen zu können. Umgekehrt dokumentieren alle Spielfilme, die in freiem Gelände gedreht werden, den Schauplatz zu einer bestimmten Zeit. Bestimmte Themen sind dokumentarisch gar nicht zu erfassen: Kieslowski wollte in seiner frühen Zeit einen Dokumentarfilm über das erste Ehejahr eines Paares drehen. Es stellte sich aber heraus, daß die Anwesenheit der Kameras in der Wohnung das Verhalten der beiden Eheleute so stark beeinflußte, daß der Film abgebrochen wurde. Die Vermittlung von Authentizität der alltäglichen Liebe und Ehe braucht offenbar die Inszenierung des Spielfilms.

Das Programm ist eine künstliche Ordnung, die die Anstrengungen und Verwirrungen (= Reichtum) unmittelbarer Erfahrungen reduziert. Es stellt Bewußtseinswaren her: Wenn ich einen Liebesroman kaufe oder ein bestimmtes Fernsehprogramm anschalte, weiß ich, anders als bei unmittelbarer Erfahrung, genau, was ich erwarten kann und bekommen will. Trotzdem unterscheiden sich die Genres der alten Medien - und eine Tragödie oder Komödie des klassischen Theaters ist auch ein Genre [13] - deutlich in der Offenheit gegenüber unmittelbarer Erfahrung im Vergleich mit den Programmen des Fernsehens. Keine große Theaterkomödie ohne tragische Momente oder tiefe Untertöne. Die Kriminalromane von P. Highsmith beerben den großen Gesellschaftsroman, Genres können innerhalb ihres Schemas viel Freiraum, Themen, Gefühle enthalten, die für unmittelbare Erfahrung zugänglich sind. Beim Film liegt nach Kluge der springende Punkt in den Nebenvalenzen, „dem zum Teil winzigen Informationsüberschuß von Bildern und Bewegungen, den Zwischenwerten zwischen Bildern, Tönen, Inhalten und Bewegungen. Der Unterschied zwischen bloßem Gebrauchsprodukt und Filmkunst zeigt sich regelmäßig in sog. Zwischenvalenzen, die außerhalb des Filmprodukts nicht greifbar sind und zum großen Teil bereits beim Vorzeigen des Films im Fernsehprogramm verschwinden." (IB: 72)

Das Fernsehprogramm ist eine Übergangsstufe zu den Neuen Medien. Im deutschen öffentlich-rechtlichen Fernsehen ist etwas nur sendefähig, wenn es entweder Unterhaltung oder Bildung oder Information ist. Redaktionelle Arbeit läuft fast ausschließlich in diesen Sparten ab. Man macht entweder das eine oder das andere. Dieses Programmschema ist eine neue Stufe der Abkoppelung von der Einheit lebendiger, unmittelbarer Erfahrung. Die sachlich-offiziöse Form der Tagesschau, ihr programmatischer Ton widersprechen den einmaligen Nachrichten, die sie vermittelt. So einmalig die Neuigkeiten (News) jeden Tag sein mögen, die moderate Form, die Sprachregelungen, der Schein der Autorität der Vermittlungsform zersetzen die Einmaligkeit. Das ist die Wahrheit des bekannten McLuhanschen Satzes „The medium is the message". Und von adäquater Dauer kann bei üblichen Nachrichtenschnipseln überhaupt nicht die Rede sein, so daß sich hier klassische und abgeleitete Öffentlichkeitsformen mischen. An den Rändern des Fernsehens gibt es dann auch leichte Gegenbewegungen: Ein Arte-Themenabend versucht, an einem Thema diese Programmgrenzen wieder aufzubrechen, indem Nachrichten, Dokumentationen, eine Diskussion und ein Spielfilm zum selben Thema gezeigt werden. Das sog. Infotainment ist noch einmal etwas anderes, nämlich der gewaltsame Übergriff programmatischer Unterhaltung auf die Nachrichten.

Digitalisierung ist technologische Gestalt des Programms, die Zerlegung der Welt in Ja-Nein-Alternativen. Sie erscheint harmlos, solange es sich bloß um die bequemere Speicherung oder die Beschleunigung des Datentransfers handelt. Spätestens dann, wenn sie die Produktion von Bilderwelten ergreift, beginnt eine neue Stufe der Herrschaft abgeleiteter Öffentlichkeit. Dies ist der Unterschied zwischen dem „Zwitter" Fernsehen und den Neuen Medien.

„Die Grenze zwischen neuen Medien und klassischer Öffentlichkeit liegt also eher zwischen Kino und Fernsehen, vermutlich aber noch jenseits des Fernsehens an der Schwelle zur Digitalisierung und bei der Kombination von neuartiger Medientechnik und sich darauf gründendem Privatunternehmertum." (IB: 73)

In den Cultural Studies wird immer wieder darauf verwiesen, daß die Homogenisierung der Kulturen nicht gelinge, daß westliche Serien, Stoffe der Telenovelas in der lebendigen Kultur von Stadtvierteln, Milieus oder des Karnevals nur Mittel der Bereicherung einer unabhängigen Kultur seien. Das mag empirisch so festgestellt werden können. Aber man täusche sich nicht darüber, daß die abgeleiteten Öffentlichkeiten Krieg führen gegen alle Kultur (= Pflege) unmittelbarer Erfahrung. Es ist sicher richtig, daß Menschen im Grunde nicht zu industrialisieren sind, aber es gibt keinen Grund, sich dabei zu beruhigen. Die Beobachterperspektive, die sich auf „Kulturimperialismus", „Homogenisierung", ja oder nein verläßt, ist undifferenziert. Ganz gewiß leben Menschen von unmittelbarer Erfahrung wie vom täglichen Brot. Kleine Geschäfte in unseren Städten überleben gelegentlich nur, weil sie eigentlich Sozialarbeit betreiben. Die Alten, die dort zu Fuß hinkommen, holen sich ihre tägliche Ration lebendiger Ansprache, und sie zehren von der Freundlichkeit der Kassiererin mindestens ebenso wie von dem Wenigen, das sie dort kaufen. Solche Verhältnisse mögen zum individuellen Überleben ausreichen, zur Steuerung von Gemeinwesen reicht das nicht. Es ist prekär, im Zusammenhang mit Fernsehprogrammen von „Erfahrung" oder gar „Lebenserfahrung" zu sprechen, wenn diese doch auf deren Erosion oder Verschüttung gerichtet sind.[14] Die Gefahr besteht dabei nicht darin, daß menschliche Köpfe und Gefühle einfach homogenisiert oder imperialisiert werden, sondern darin, daß die Basis der unmittelbaren Erfahrungen und deren Vermittlung immer kleiner wird, daß aber die Individuen sich auch als gesellschaftliche Menschen immer noch darauf verlassen werden. Ein immer ärmlicherer Rest von unmittelbarer Erfahrung kontrolliert und verwendet immer größere Massen an mittelbarer Erfahrung.

„Wird mittelbare Erfahrung absolut, so gehen Kontrolle und Steuerungen praktisch für das Individuum verloren. Sie sind dann durch keinen denkbaren institutionellen Prozeß wiederzugewinnen. Es entsteht Wirklichkeitsverlust, nicht weil zuwenig gewußt wird, sonden weil man zuviel weiß, ohne irgendetwas davon steuern zu können." (IB: 99)

Endnoten

1 In dem Buch Walter Moers: Die 13 1/2 Leben des Käpt'n Blaubär. Frankfurt am Main 1999, S. 129, gibt es einen Professor Nachtigaller, der die Dunkelheit des Universums noch dunkler machen will und zu dem Zweck die Schwarzen Löcher untersucht. Er sagt: „Wissen ist Nacht." - Der folgende Aufsatz stützt sich vor allem auf A. Kluges Essay: "Die Macht der Bewußtseinsindustrie und das Schicksal unserer Öffentlichkeit. Zum Unterschied von machbar und gewalttätig." In: Klaus von Bismarck / Günter Gaus / Alexander Kluge / Ferdinand Sieger: Industrialisierung des Bewußtseins. München 1985, S. 51-129 (= IB). Wiederabgeduckt in: A. Kluge: In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod. Hg. von Christian Schulte, Berlin 1999, S. 165-223 - Ferner auf Oskar Negt / Alexander Kluge: Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit. Frankfurt am Main 1972 - Wiederabgdruckt in Oskar Negt / Alexander Kluge: Der Unterschätzte Mensch. Frankfurt am Main 2001, Bd. I

2 Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Frankfurt am Main 1987, S. 222

3 Vgl. Helmut Färber: Baukunst und Film. Aus der Geschichte des Sehens. München 1977, S. 37: „Der Film ist eine Episode zwischen Architektur und Fernsehen."

4 Vgl. Heinrich Böll: Dr. Murkes gesammeltes Schweigen. 1955 - Braucht eine Cutterin im Rundfunk eine Pause, so schneidet sie sie aus demselben Material aus: Die Authentizität des Raums und der Zeit einer Aufnahme sind unverwechselbar. Unbespieltes Band oder eine Pause aus andere Aufnahmen würden stören.

5 Immanuel Kant: "Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?" In: W. Weischedel (Hg.), Immanuel .Kant, Werkausgabe XI, Frankfurt am Main 1977, S.53: „Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, einen Fernsehapparat, der mir ein Bild von der Welt liefert usw., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen und die Fernbedienung drücken kann."

6 Oskar Negt: Arbeit und menschliche Würde. Göttingen 2001. S. 61f

7 Ein Beispiel für eine solche „verfehlte Relativierung" ist: J. Beidenbach / I. Zukriegl: Tanz der Kulturen. München 1998

8 Daß man sich in 30 Jahren Sprachchips unter die Haut pflanzen lassen kann, die unser Gehirn mit dem Wortschatz fremder Sprachen versorgen und damit die Berufe der Sprachlehrer und des Sprachenstudiums so entwerten wie in den letzten 10 Jahren die Berufe der Maschinensetzer, Buchdrucker und Uhrmacher durch Chips entwertet wurden, ist jedenfalls wahrscheinlicher als die absurde Reklameidee, mittels eines Cyberanzugs könne jedermann mit Marylin Monroe Sex betreiben. Unsere Körpereigenschaften (s. erste und zweite Globalisierung) sind nicht so leicht zu ersetzen wie Eigenschaften, die erst in der kurzen dritten Globalisierung entstanden sind.

9 Heiner Müller: Gedichte. Berlin 1992, S. 94 - H. Hughes (1905-1976), zuerst Flieger, dann Filmproduzent, der den Suspense radikalisierte, endete als ein Höhlenmensch in seinem Luxushotel, getrieben von panischer Angst vor Keimen und Bazillen.

10 Wenn in einer Unterhaltungssendung auf Pro7 eine hübsche, schick gekleidete junge Frau von 20 Jahren aus dem Publikum befragt wird, was „FDP" bedeute und sie widerstrebend zugeben muß, das wisse sie nicht, der ihr nächstsitzende junge Mann dann sagt, SPD stehe für „soziale Partei Deutschlands", dann hat die Verdummungsmaschine der Unterhaltungsindustrie ihr Ziel erreicht. Und nun muß man die Etats der Bildungsausgaben mit dem vergleichen, was an Kapital in den Neuen Medien steckt, um eine Ahnung davon zu bekommen, wie unterschiedlich unsere Gesellschaft die langfristigen (Politik) und die kurzfristigen menschlichen Interessen und Bedürfnisse (Unterhaltung) gewichtet.

11 Es gibt natürlich auch langfristige Verwertungs- und Herrschaftsinteressen. So haben große Konzerne (Siemens, Daimler-Benz, BMW) im Februar 2005 ihre Werbeagenturen darauf aufmerksam gemacht, daß ihr Markenimage beschädigt werden könnte, wenn sie im Rahmen des Gossenfernsehens („Holt mich hier raus", bestimmte Talk-Shows) in Erscheinung treten. -- Dieser Aspekt ist in Öffentlichkeit und Erfahrung, S. 183ff behandelt, wird hier aber nicht berücksichtigt.

12 Das Fernsehen hilft den Menschen dabei, am Ende des Tages ihre innere Balance zu finden, so daß sie am anderen Morgen leichter aufstehen und sich ihrem Tagwerk widmen können. Die menschliche Natur reduziert den gesamten gigantischen Idiotismus des Fernsehens auf diese banale Grundfunktion. Darin liegt die Wahrheit der Formulierung Enzensbergers, das gesamte Fernsehen sei nichts weiter als ein „Wattebausch für die Augen".

Ähnlich hatte sich früher schon einmal Erwin K. Scheuch geäußert, als er davon sprach, daß das Fernsehen eigentlich nur das „Dösen" ersetze, das z.B. in primitiven Gesellschaften ohne Fernsehapparate gang und gäbe ist. Die Zeit, in der man nichts zu tun hat, sitzt man vor der Hütte und „döst", das Fernsehen sei daher gewissermaßen nichts anderes als in äußere, bewegliche Bilder gebrachtes Dösen. Bloß: Ist es nicht etwas deprimierend, wenn ein so gewaltiger Vorrat an industriellen Ressourcen, Arbeitskraft und Intelligenz in Betrieb gehalten wird, nur um das Dösen, das ja eigentlich auch von selbst passiert, in Gang zu halten?

13 Der Begriff Genre stammt aus der klassischen holländischen Malerei, die sich darauf spezialisierte, Interieurs, Stilleben zur Schmückung der Kaufmannshäuser zu malen. An Shakespeare ist aber interessant, daß fast alle seiner Stücke zwischen Komödie und Tragödie schwanken.

14 Vgl. z.B.: John Tomlinson: "Internationalismus, Globalisierung und kultureller Imperialismus." In: Andreas Hepp / Martin Löffelholz: Grundlagentexte zur transkulturellen Kommunikation. Weiheim, Basel u.a. 2002, S. 141 und passim