Glossen 23


Kurt Bartsch, Fanny Holzbein (Berlin: Ullstein Verlag, 2004). 237 Seiten.

In den letzten Jahren sind im Rahmen der von W.G. Sebald ausgelösten “Luftkrieg”-Debatte eine ganze Reihe von literarischen Texten - Essays, Lyrik, Romane - entstanden, die das traumatische Erlebnis des Bombenkrieges aufarbeiten. In einigen dieser Veröffentlichungen wird aus der Perspektive von Kindern oder Jugendlichen berichtet, und in der Tat sind die Autoren dieser literarischen Kriegsgestaltungen Vertreter jener während der dreißiger/vierziger Jahre geborenen “letzten Generation”, die das Trauma der Bombennächte als Augenzeugen miterlebt haben. Der Status des Kind-Seins in jenen Jahren schließt moralische, soziale und historische Schuldzuweisungen von Anfang an aus.

Der ehemalige DDR-Autor Kurt Bartsch, der 1980 in den Westen abgeschoben wurde, wurde 1937 in Berlin geboren und erlebte dort die Bombenangriffe. In seinem Roman Fanny Holzbein gibt er seinen Kriegserinnerungen in den Erlebnissen der literarischen Figur der dreizehnjährigen Waise Fanny Ausdruck. Die Sicht des Krieges von Kindern und Jugendlichen ist aufgefächert in den Gefühlen und Handlungsweisen einer Gruppe verschiedener Spielgefährten Fannys: Jungen und Mädchen, Kinder und Halbkinder, die Flakhelfer werden mußten, Werwölfe, Waisen und Ausgebombte. Ihnen allen fehlt auf Grund ihres Alters das Bewußtsein historischer Kausalitäten. In einer Welt von Brutalität, Angst, Trauma und totaler Desorientierung ahmen sie verständnislos das Verhalten der sie umgebenden Erwachsenenwelt nach, und sind doch Kinder in ihrer eigenen Welt, mit der ihrem Alter entsprechenden Sichtweise der Welt, mit ihren eigenen Träumen, Liedern, Märchen, ihrer eigenen Sprache. Fanny verliert ihre Mutter während des Krieges und lebt bei ihrer Freundin Charlotte. Ihr großer Traum ist es, Ballerina zu werden, aber ein Granatsplitter setzt dem Traum ein Ende: sie verliert ein Bein und muß eine Prothese tragen.

Eingewebt in diese Welt kindlicher Phantasien sind Vorgänge und Gestalten - ein Beispiel wäre ein an den Tod erinnernder, durch die Handlung geisternder “Herr in Schwarz” -, Gestalten, die es der Phantasie des Lesers überlassen zu entscheiden, ob sie reale Charaktere oder Projektionen von Ängsten und Hoffnungen sind. So wird der “Herr in Schwarz” in einer Situation des Augeliefertseins, in der das Schlimmste möglich ist, zum deus ex machina, der Fanny aus einer hoffnungslosen Lage - ein Todesurteil schwebt über ihr - unerwartet wieder in die Freiheit führt. Das alltägliche Todesbewußtsein der Kinder, das Schwanken zwischen Davongekommensein und Getroffensein, manifestiert sich in der zwiespältigen, positiven oder negativen Rolle dieser Figur. Die Dialektik von Statements wie “Morgen kannst du schon tot sein” und “Na, auch noch nicht tot?" spiegelt diese Dualität.

Von Interesse ist, wie Bartsch innerhalb der Haupthandlung eine am Rande der Realität angesiedelte Episode entwickelt, die auf eine mögliche/unmögliche Aussöhung von Juden und Deutschen anspielt. Die Rede ist von einer sich anbahnenden Freundschaft zwischen dem Mädchen Fanny und dem amerikanischen Bomberpiloten Samuel Stieglitz, dessen Familie im Holocaust ermordet wurde. Er kommt nach Deutschland, um Rache zu üben. Fannys kindliche Unschuld “entwaffnet” ihn jedoch. In der brutalen Welt der unmittelbaren Nachkriegszeit muß eine solche Annäherung von Juden und Deutschen von vornherein zum Scheitern verurteilt sein. Ein fanatischer Freund Fannys, ein ehemaliger Werwolf, ermordet ihn.

Bartsch berichtet in der dritten Person Singular. So hält er Distanz zu seinen Figuren. Die immer präsente Perspektive des Kindes erscheint damit ständig durchbrochen von der reflektierenden Erzählstimme des Autors, der rund sechzig Jahre später sein Kindheitstrauma aufarbeitet. Der Erzähler enthält sich im Prozeß des Sich-Erinnerns eines verbaliter formulierten historischen Urteils über Täter und Opfer. Er läßt die Handlung für sich selbst sprechen. Der Leser beobachtet das Agieren sozial und moralisch nicht verantwortlicher Kinder oder Halbkinder in einem Handlungsraum von Greueltaten, die von den Deutschen selbst in Aktion gesetzt wurden. Im Zusammenblenden der Tonlagen kindlicher Naivität und sich als Lakonie äußernder Reflexion entfaltet sich ein konkretes Beispiel von Angst und Trauma während der Bombenangriffe. Der Ort dieser Erfahrungen ist auf menschlicher Ebene durchaus auswechselbar, kann in Rotterdam, Coventry, Leningrad, London oder Dresden angesiedelt sein. Damit liefert Bartsch ein zeitloses Dokument, das in unserer von Kriegen und Terrorakten bedrohten und verrohten Welt von hoher Aktualität ist.

Christine Cosentino
Rutgers University