Glossen 23


Der subversive Chronist
Heinz Ludwig Arnold

Ich liefere bloß eine Beschreibung. Machen Sie damit, was Sie wollen.
H.J.Sch.

Der Schriftsteller Hans Joachim Schädlich hat einen seiner wichtigsten poetologischen Texte ins Zentrum seines Romans „Schott" gestellt - versteckt in der schönsten anarchischen Poesie: Es ist aber im Moment vom Verfasser die Rede. Schott hat keine Verfasser-Ängste. Er hat gerade, oder kürzlich, die Unsinnigkeit der Angst abgehandelt.

Kein Leser oder keine Leserin wird es verübeln, daß der Verfasser in seiner gegenwärtigen Gefühls-Lage den Ausruf tut, Noch einmal tön, o Harfe, den er, der Peinlichkeit gewiß, in solcher Lage gelegentlich tut, allerdings leise, und ohne Zuhörer.

Der Verfasser, so sagt er, fragt sich, welcher Ausgang naheliegt. Unbekümmerte Mißachtung aller Gefahr? Die Sätze weiterhin lang, das Tempo largo? Oder, von Angst gehetzt, Sätze kurz, prestissimo?

Der Verfasser, in der Vorliebe für den zweiten Satz, könnte durch irgend etwas dazu gebracht werden, bei mittellangen Sätzen, adagio, zu landen.

Aber wodurch? Das ist noch immer ein Satz des Verfassers. Er behauptet, er sei gezwungen, die Antwort schuldig zu bleiben. Was sollte es sonst noch, mit der Niederschrift fortzufahren? So er.

Wenn der Verfasser schon selber zu Worte kommt, noch etwas (oder ist das vielleicht schon zuviel?): Tochtergeschwulst. Die Geschwulst bringt eine Geschwulst hervor. Kennen Sie das? Jemand fragt, Wovon ist eigentlich die Rede? Als ob ausgerechnet ich das wüßte! Ich mache mir keine Gedanken über den Inhalt. Jemand wird antworten, Haha, das sagen alle! Ich sage: Meinetwegen, antworten Sie das. Es hilft nicht weiter. Ich weiß trotzdem nicht, wovon die Rede ist. Selbst ein Elefant weiß erst, wohin er wollte, wenn er angekommen ist. Und ich glaube gar nicht, daß ich ankommen werde. Ich liefere bloß eine Beschreibung. Machen Sie damit, was Sie wollen. Das geht mich nichts an. Es wird sich schon jemand finden, der eine Beschreibung der Beschreibung liefert. Das dazu, sagt der Verfasser. Ich sage nichts mehr. Hören Sie doch nicht zu. Gehen Sie doch raus. Werfen Sie das Buch doch weg. Oder schenken Sie es Ihrer Tochter. Oder verkaufen Sie es an eine Wohlfahrts-Organisation. Oder verbrennen Sie es. Das geht schon. Übergießen Sie es mit Benzin und zünden Sie es an. Oder werfen Sie es in den Ofen. Oder legen Sie es ins Scheißhaus, blättern beim Scheißen darin, reißen nach dem Scheißen ein, zwei Seiten heraus und wischen sich mit diesem Textabschnitt den Arsch ab. Das Papier ist heutzutage saug- und wischfähig genug. Aber fragen Sie nicht mich. Stellen Sie sich vor, daß ich vor längerer Zeit gestorben bin. Ich kann Ihnen nicht antworten. Sie müssen selber sehen, wie Sie weiterkommen. Eines Tages wird es sowieso keine Verfasser mehr geben. Und keine Bücher. Das wäre schön, wenn es schon soweit wäre. Aber noch leben Sie in der Bücher-Zeit. Da kommen Sie um diese Dinger nicht immer herum. Solange heißt es eben: Rein und durch. Oder wie gesagt. Ach, Sie lesen gerne Bücher? Na, um so besser. Ich werde auf der Stelle freundlich. Ich sage, Sehen Sie mal. Versuchen Sie es. Weiter im Text. Irgendwann kommt ein Satz, der Ihnen zusagt. Entweder weil er vieldeutig ist, und Sie können sich Gedanken machen. Oder weil er eindeutig ist. Bei mir finden Sie beides. Für jeden etwas. Oder für jede Lage. Und fühlen Sie sich bitte bloß nicht brusquiert. Ich fühle mich auch nicht. Wie würden Sie sich vorkommen, wenn jemand zu Ihnen sagte, Ich weiß nicht, was es bedeutet. Ich erkenne die Wirklichkeit nicht mehr. Ich vermisse eine Absicht. Das ist doch alles Un-Sinn, was Sie schreiben! Fühlen Sie keinen Auftrag? Einen politischen, religiösen, pädagogischen, ideologischen, moralischen, ethischen, schwedischen? Einen ästhetischen, kybernetischen, geheimen, verantwortungsvollen, weiteren, heiteren, historischen, militärischen, hysterischen, inneren Auftrag? Einen Dienst-, Dauer-, Lehr-, Produktions-, Partei-, Export-, Sonder-, Rüstungs-, Wählerauftrag? Wie würden Sie sich fühlen, wenn jemand Sie fragte, Wer soll das denn lesen. Wen oder was wollen Sie denn oder denn Sie erreichen. Das ist doch kein Spiel! Neulich, sagt der Verfasser, war ich in der Nationalgalerie. Ein Ehepaar steht vor einem Bild. Der Mann ließt den Bildtitel: Der Kuß. Die Frau sagt, Der Kuß? Der Mann sagt, Ja. Die Frau sagt, Nein. Ich sehe doch nur ein Bein.

Es reicht Ihnen jetzt? O.K. Nur eins noch, sagt der Verfasser. Seien Sie vorsichtig! Auf den ersten Blick sieht alles anders aus.[1]

Als der Schriftsteller Hans Joachim Schädlich den imaginierten Verfasser seines Romans Schott diesen poetologischen Sprachzauber formulieren ließ, verging gerade jene Deutsche Demokratische Republik, die ihn als Schriftsteller jahrelang verhindert hatte. Der Roman „Schott" erschien 1992 und ist Schädlichs Meisterwerk: ein, wenigstens literarischer, Sieg der individuellen Freiheit über den totalitären Machtanspruch. Denn Schott ist mehr als ein Roman und als seine tragende Figur, „Schott" wird zum Inbegriff eines Verhaltens, das, wie Schädlich einmal formulierte, „frei von Geschichte (history) zur Freiheit der Geschichte (story)"[2] gelangt - ein Verhalten, das den Menschen nicht zum Objekt, sondern zum Subjekt der Geschichte macht.

Der Roman inszeniert den Kampf des Un-Mächtigen Schott, wie Schädlich sagt, mit den Mächtigen nicht als parabelhaft auftrumpfende Erzählung -- die wiederum einem ideologischen, diesmal didaktischen Muster folgte --, sondern als vergnügliche, vexatorisch irritierende und assoziativ überraschende Folge vieler kleiner Erzählabschnitte. Auch bindet nicht die klassische Großform des Romans strukturell das Erzählen. Schädlich will das Erzählen freimachen von jeglichen vorgegebenen, geschichts- und ideologiebefrachteten Mustern, damit es frei werde für Geschichten; er will nicht Realität nacherzählen oder Authentizität erfinden, die angeblich mit der Realität übereinstimmt, sondern Verhaltensverläufe erzählen, die die Verhärtungen der Geschichte aufbrechen, mit ihren Elementen spielen und ihre Teile neu zusammensetzen. Die Geschichten Schotts machen die Köpfe frei für spielerische, von Ideologie unverstellte Wahrnehmung. Der Leser begreift das Verfahren im Verlauf der Lektüre - so er sie annimmt -, er lernt die Sprache mit der Erkenntnis eigener Wahrnehmung semantisch neu zu besetzen: Der Verfasser sagt, Jetzt die Beschreibung eines engen tiefen steilwandigen Taleinschnitts? Felsig, dunkel, unwegsam? Rauschte kein reißender Bach? Der Leser oder die Leserin, der oder die das Buch bis hierher nicht in die Ecke geworfen hat, weiß inzwischen, daß er oder sie durch das bloße Wort Schlucht zu je einer Vorstellung von Schlucht gelangt, die jede Beschreibung hinfällig macht.[3]

Die Variationen von Erfahrungsmöglichkeiten, die in den Geschichten und Geschichtssegmenten in Schott präsentiert werden, öffnen des Lesers Bewußtsein für seine subjektive Wahrnehmung von Welt und plädieren für eine Sprache, in der nicht die Welt als verfestigtes Ensemble von Klischees sich dem Bewußtsein wie selbstverständlich oktroyiert, sondern in der Erscheinungsweisen von Welt erprobt, unterschiedliche Perspektiven ihrer Betrachtung durchgespielt und Verhaltensmöglichkeiten variierend vorgeführt werden.

Solches Verfahren realisiert ein anarchisches System der Systemlosigkeit, ist ein produktiver Widerspruch in sich selbst -- ein ästhetisches Verfahren, in dem aufklärerischer Geist, sprachlicher Witz und experimentelle Lust im virtuellen Zusammenspiel eigenwillige literarische Welten hervorbringen. Oder, in einer Formulierung Schädlichs aus seinem kleinen Aufsatz über „Literatur und Widerstand", der 1985, also vor Schott, geschrieben, aber erst im Jahr von Schott, 1992, erschienen ist: „Es ist die Rede von einem subversiven Strom, der in einem Text fließt und eine das Denken befreiende oder eine zum Denken zwingende Helle bewirken kann, also eine Stärke im Kopf eines Lesers oder Hörers."[4]

Der Roman Schott erschien 15 Jahre nach Hans Joachim Schädlichs Übergang aus der Deutschen Demokratischen Republik in die Bundesrepublik Deutschland. Die DDR hatte ihn als Schriftsteller nicht zu Wort kommen lassen, weil das, was er schrieb, die Wirklichkeit anders wahrnahm, als es das offizielle Literaturprogramm gebot. Denn Schädlich hatte die DDR schon sehr früh ganz anders wahrgenommen, als sich die Mächtigen "ihr" Ländchen durch "ihre" Schriftsteller gern malen ließen. Seinen von der Ideologie der Partei unverstellten Blick auf seine Wirklichkeit konnte das Land nicht ertragen, in das Hans Joachim Schädlich da hineingeraten war.

Geboren 1935 im vogtländischen Reichenbach als einer von drei Söhnen eines Wollkaufmanns, gehörte Schädlich von Anfang an zu jenen Bürgerkindern der DDR, die im markigen Titel des „Arbeiter- und Bauernstaates" nicht genannt wurden und deshalb besondere Anstrengungen zu unternehmen hatten, um in den Genuß einer höheren Ausbildung zu kommen. Was bedeutete, daß der Internatsschüler Schädlich nicht nur ein normales, sondern ein ausgezeichnetes Abitur machen mußte, um zum Studium zugelassen zu werden. Immerhin konnte er mit einer persönlichen Empfehlung kostenlos eines der wenigen Internate der DDR besuchen. Und machte eine erste Erfahrung:

Eigentlich ein kleiner Staat im Staate, dieses Internat. Dort bin ich schon früh mit etwas bekannt geworden, das mir dann immer vertrauter wurde - der Internatskomplex war von einer hohen Mauer umgeben. Natürlich konnten wir raus in die Stadt, aber gegen Abend wurde die Schulkaserne geschlossen.[5]

Im Internat entdeckte Schädlich Sprache und Literatur als Felder seines besonderen Interesses. Doch viel Freiheit blieb da nicht zwischen den Ansprüchen des Staates -- einerseits der notwendigen Mitarbeit in der FDJ, andererseits dem gewaltigen Leistungsdruck, um studieren zu können. Und Schädlich wollte, trotz allen Hürden, die dem Bürgersohn im Wege standen, unbedingt studieren. Er studierte dann deutsche Literatur an der Ostberliner Humboldt-Universität, wechselte aber nach zwei Jahren an die Leipziger Karl-Marx-Universität, um dort Sprachwissenschaft zu treiben, weil das Studium der deutschen Literatur „eher der politischen Indoktrination als der literarischen Ausbildung diente"[6]. Auf die Idee, sich an der Freien Universität in Westberlin einzuschreiben, die ja bis zum Mauerbau 1961 noch unmittelbar erreichbar war, kam er nicht, zu sehr fühlte er sich gebunden an die Familie, an die Mutter, die, wie er einmal schrieb[7], so ganz fraglos festgelegt war auf dieses Land DDR.

Nach dem Abitur promovierte er, 1960, und wurde Mitarbeiter am Institut für deutsche Sprache und Literatur der Ostberliner Akademie der Wissenschaften. Der berufliche Weg danach ist solide, wenig spektakulär. Schädlich arbeitet an der Akademie für Jahre erst auf dem Gebiet der deutschen Dialektologie, dann auf jenem der Phonologie, speziell zur deutschen Satzintonation. Später wirkte er in der Akademie an der wissenschaftlichen Erarbeitung einer Reform der deutschen Orthographie mit.

Als 1961 die Mächtigen in der DDR mit der Mauer in Berlin den letzten offenen Zugang zur westlichen Welt verschlossen, war Schädlich 25 Jahre alt. Später erinnert er sich, und ist noch unverkennbar der Sprachwissenschaftler, dessen Erkenntnismittel sein gesamtes Werk grundieren, an die eigene Frage: Was eigentlich bedeutete für einen Ostberliner: die Mauer? Mauer - ein Wort, das in frühester Wortbedeutung einen Steinbau bezeichnet, der zur Sicherung oder Befestigung um einen Hof oder Ort gezogen wird gegen eine Gefahr oder Bedrohung von außen. Wie den Schock angesichts des Mauerbaus erklären, daß unter dem Vorwand äußerer Bedrohung eine Vorrichtung installiert wurde, die sich gegen die Einwohner des Ortes selbst - also gegen die Bewohner Ostberlins und der DDR richtete. Also ging die Gefahr von denen aus, die angeblich geschützt werden sollten durch die Vorrichtung. Schutzwall wurde diese Vorrichtung von der DDR-Propaganda genannt. Jeder, der am 13. August 1961 sah, was da aufgerichtet wurde, sah, daß die Männer der Kampfgruppen, die Maschinenpistolen vor der Brust, mit dem Rücken zum Westteil der Stadt standen. Das Gesicht wem tapfer zugewandt? Dem Feind? Es stand also der Feind innerhalb der Mauer. Wer war dieser Feind? Der Feind war jener, der den Ostteil der Stadt, den Ostteil des Landes verlassen wollte.[8]

Schädlich empfand die Deformation des Lebens in der DDR, die von der Perversion des Mauerbaus nurmehr unterstrichen und herausgestellt wurde, früh; zu schreiben aber begann er erst gegen Ende der sechziger Jahre, um die Erscheinungen dieser Deformation zu benennen. Von den Geschichten, die langsam entstehen, reflektieren die ersten das Schreiben: „Lebenszeichen" zum Beispiel, oder „Papier und Bleistift", die, 1971 geschrieben, so beginnt:

Ich besitze einen Bogen Papier, einen einzigen vorläufig, und einen Bleistift. Auf den Bogen schreibe ich: Ich gehe in ein großes Haus mit leeren Zimmern, ich gehe in ein großes Zimmer. Vor das Fenster stelle ich einen Tisch, vor den großen leeren Tisch stelle ich einen bequemen Stuhl.

Ich lege den Bogen Papier, den einzigen vorläufig, auf den Tisch. Ich setze mich auf den Stuhl und schreibe: Auf die linke Papierhälfte lege ich neunundvierzig Bogen Papier, auf die rechte Hälfte lege ich vier Bleistifte.[9]

Und so weiter. Der Schreiber erschafft sich die Welt, in der er schreiben wird, selbst: schreibend. Schreibend generiert er seine Phantasie - was nicht vorhanden ist, erfindet er sich auf dem Papier. Die Instrumente, deren der Schriftsteller bedarf, werden vorbereitet, geschliffen, geschärft. Wesentliche Bedingung: Die Voraussetzung, aber auch das Ziel ihrer Verwendung ist die Autonomie ihres Verwenders.

Deren Begrenzung erfährt der Schreiber in einem Text, der fünf Jahre später entstand: „Kleine Schule der Poesie". Darin schreibt ein junger Mensch „unbedacht und unüberlegt" halbe Sätze und Verse, „läßt seine Verse zurück in Händen flüchtig Gekannter", „läuft unter Kinder, liest ihnen vor". Schließlich bündelt er seine Verse, "schickt sie den Büchermachern, die ihn bestellen zu bedenklicher Vorhaltung. Verkennt ihre Strenge als Ausflucht und nennt sie noch Anbeter. Nimmt seine Blätter, verschließt sie.

Schreibt auf mannshohen Bogen einzigen Satz und entrollt das Papier auf offener Straße: Hinweg fege losbrechende Wirklichkeit Heere hündiger Aufpasser und die großen Sachverständigen."

Solch freimütiger, ja aufsässiger Umgang mit den Mitteln der Sprache, der Poesie, solches Verhalten des Schreibers dieser Verse hat Konsequenzen: In einem Haus der Behörde wird erfragt, ob es, erstens, zutreffe, daß er, wie ermittelt, also bei verschiedener Gelegenheit, geäußert habe, wer die Wahrheit sage, worüber, das werde noch erörtert, der spüre doch bald die Folge? Sogar er sie lese nur, könne, ungünstigen Umstand angenommen, Nachteil erleiden?
Und was überhaupt Wahrheit heiße? Er meine Wahrheit, die nur seine sei, nicht die anderer. Keiner wolle seine hören, die zu klein sei vor einer größeren. Die größere aber rücke auch seine kleinere zurecht. Dies für den Anfang
."[10]

Das war für den Schriftsteller Hans Joachim Schädlich die Metapher für den Anfang vom Ende seiner Schriftstellerei in der DDR. Mit Texten wie diesen konnte er nicht reüssieren. Seit 1971 bemühte sich Schädlich, seine Prosatexte in der DDR zu veröffentlichen. Die Antworten sind hinhaltend, zuratend, ablehnend, und meist wird ihm nahegelegt, „einen Blick für Wirklichkeit zu gewinnen, einen neuen Schreibansatz zu finden"[11]; dem Sprachwissenschaftler wird empfohlen, mal in einem Bergwerk zu arbeiten oder bei der Ernte zu helfen - wohl auch, damit er den richtigen Blick für die Wirklichkeit gewinne.

Mustergültig für den Geist dieser sogenannten &Mac226;Wirklichkeit' ist ein Absage-Brief des Redakteurs Eduard Klein von der Zeitschrift Neue Deutsche Literatur, dem Zentralorgan des DDR-Schriftstellerverbandes, in dem es heißt: Mehrere Kollegen unserer Redaktion haben die Manuskripte gelesen, doch können wir uns zu einem Abdruck nicht entschließen. Übereinstimmend finden wir, daß die Arbeiten gut geschrieben sind, nicht nur, was die Beherrschung der Sprache angeht, sondern auch die Fähigkeit zu verknappen, Stimmungen einzufangen usw. Unsere Einwände richten sich gegen den Inhalt. Mit Unterschieden von einer Arbeit zur anderen finden wir, ist er zu sehr verschlüsselt und geht andererseits in eine zu stark verneinende Richtung.[12]

Der Brief offenbart die perverse Instrumentalisierung der Kunst, der Literatur: Schädlich, so urteilen die Redakteure einer Literaturzeitschrift, sei zwar ein guter Schriftsteller, nur habe er leider die falsche Gesinnung und befasse sich mit den falschen Themen und könne deshalb im Zentralorgan der DDR-Literatur nicht veröffentlicht werden - das hieß aber: nirgendwo in der DDR.

Schädlich bleibt sich treu und gerät immer mehr in die Isolation. Und als er am 17. November 1976 auch noch seine Unterschrift unter den Protestbrief gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns setzt, beendet die Akademie der Wissenschaften die Zusammenarbeit mit ihm, bekommt er auch keine Verlags-Aufträge mehr für Übersetzungen.

Freilich gab es andere, inoffizielle Kontakte: Seit 1974 trafen sich regelmäßig Schriftsteller aus Westberlin und der Bundesrepublik mit Schriftstellern aus der DDR, wechselnd in Ostberliner Wohnungen, um einander neue Texte vorzulesen. Viele Autoren, die bis Ende der siebziger Jahre, die meisten nach der Ausbürgerung Biermanns, die DDR verließen, nahmen an diesen Treffen teil: unter anderen Thomas Brasch, Bernd Jentzsch, Sarah Kirsch, Günter Kunert. Und eben Hans Joachim Schädlich.

Vierzehnmal hat er an diesen heimlichen Treffen, die vom Staatssicherheitsdienst argwöhnisch beobachtet wurden, teilgenommen. Vielleicht hat er an einem der letzten Treffen auch diesen Text vorgetragen, der die einzig mögliche Konsequenz aus seiner staatlichen Verhinderung als Schriftsteller bedenkt:

Schwer leserlicher Brief, der auf geliehener alter Maschine geschrieben wird von unkundiger Hand. Die letzte Kopie, für das Gedächtnis, nur entzifferbar durch den Absender.

Der Entschluß ist gefaßt worden mittags, Montag. Es war zu besorgen dreierlei Papier. Wenige Bogen von jeder Sorte. Ein Laden für Schreibwaren bietet Kohlepapier. Verkäuflich in unverbrauchbarer Menge. Einzelne Bogen, fünf genügen, nicht. Aber es findet sich wer. Briefumschläge, Marken aus eigenem Vorrat. Die Empfänger wohnhaft in der Hauptstadt. Ihre Anschriften liest man.

Ich, Arbeiter, alleinstehend, Alter vierunddreißig, erhielt Nachricht von schwerer Krankheit des Vaters, welcher wohnte im westlichen Teil der Stadt. Beantragte Reise abgelehnt von zuständiger Behörde am heutigen Tag. Meine Frage, die laut gestellt wurde vor mehreren Angestellten, aus welchem Grunde dem Antragsteller Genehmigung zu kurzer Reise nicht erteilt wird, ohne Antwort.

Da also ich, Einwohner meines Landes, trotz genanntem Grund aufgehalten werde, ersuche ich hiermit Sie, auf der Liste der Einwohner mich auszustreichen.

Weil ich anderer Ansicht bin über Gründe. Weil, wenn nicht gelten soll, was meine Sache ist, ich an falschem Ort wohne.

Ich bringe bei Zeugnis über gute Arbeit in fünfzehn Jahren (beteiligt an Erfüllung des Plans und Übererfüllung); Mitglied in freiem deutschem Gewerkschaftsbund seit erstem Arbeitsjahr; Einsatz bei Ernte und Verschönerung der Stadt.

Mit meinem Geld war ich zufrieden und bin es. Wohnung wurde mir zugeteilt nach sechs Jahren. Ich bin gewöhnt an mein Leben; was ich brauche, habe ich. Von kurzem Aufenthalt wäre ich zurückgekehrt.

Jetzt will ich fort. Hoffe, daß ich gehen kann, wo ich zum Land nicht mehr gehöre.
Wer den Freund verliert, der soll ihn lassen. So halten wir es. Kann ihn nicht einschließen und sagen, Mach ein glückliches Gesicht, ich bin Freund dir.

Ich kenn mich nicht aus in Akten. Aber soviel weiß ich: daß ich nicht Zubehör bin des Landes, nicht bleiben muß, wo ich geboren bin.

Ich frag nicht mehr, glaub auch nicht. Bitte um Antwort nach gesetzlicher Frist.
Der Briefschreiber hat einen Brief vierfach. Den ersten dem Vorsitzenden. Den zweiten dem ersten Minister. Den dritten dem Sekretär.
[13]

Diesen Text hat Schädlich 1976 geschrieben. Er gehört zu einem Manuskript mit insgesamt 25 Texten allermeist aus den siebziger Jahren, das Christel Sudau, die Korrespondentin der Frankfurter Rundschau in Ostberlin, Anfang 1977 mit in den Westen nahm und es zu Günter Grass brachte, der es in seinem, dem Luchterhand Verlag veröffentlichen lassen wollte. Doch dessen Leiter Hans Altenhein bangte feige um seine DDR-Lizenzen und lehnte die Publikation ab. Ein Jahr später, im August 1977, erschien Hans Joachim Schädlichs erstes Buch Versuchte Nähe in der Bundesrepublik: bei Rowohlt.

Die Reaktionen in der DDR waren stereotyp: Noch im August meldete sich das Büro für Urheberrechte der DDR und monierte, daß Schädlich keine Genehmigung zur Vergabe des Buches an Rowohlt eingeholt habe -- gern hätte die DDR für Texte, deren Publikation im eigenen Lande sie verbot, wenigstens das Honorar kassiert. Anfang September belehrte der stellvertretende Kulturminister Klaus Höpke die versammelten belletristischen Buchhändler, Schädlich habe sich mit der Veröffentlichung seines Buches im Rowohlt Verlag in die Front der psychologischen Kriegsführung gegen den ersten Arbeiter- und Bauern-Staat auf deutschem Boden eingereiht. Und in der Mitgliederversammlung des Berliner Schriftstellerverbandes lamentierten Kollegen, diese Veröffentlichung erfülle den Tatbestand der „staatsfeindlichen Hetze" und es sei nur der Großzügigkeit der Staatsorgane zuzuschreiben, daß Schädlich noch auf freiem Fuße sei.[14]

Noch im selben Monat stellte Schädlich einen Antrag auf Ausreise, der zuerst abgelehnt, dann am 2. Dezember genehmigt wurde. Am 10. Dezember 1977 verließ Schädlich die DDR.

Was Schädlich damals nicht wußte, erfuhr er fünfzehn Jahre später, als nach dem Vergehen der DDR die Akten ihres Staatssicherheitsdienstes zugänglich wurden: daß er damals nicht nur systematisch seiner literarischen Existenzmöglichkeiten beraubt wurde, sondern daß er auch als Bürger der DDR kriminalisiert werden sollte:

Am 21. Januar 1992 konnte ich zum erstenmal in der Akte lesen, die das Ministerium für Staatssicherheit der ehemaligen DDR über mich angelegt hat. Der Name, den die Hauptabteilung XX/Abteilung 7 des MfS meiner Akte gegeben hatte, lautete OV „Schädling". Das Kürzel OV bedeutet: Operativer Vorgang. In der „Richtlinie Nr. 1/76 zur Entwicklung und Bearbeitung Operativer Vorgänge (OV)" des MfS heißt es, eine der „politisch-operativen Zielstellungen der Bearbeitung Operativer Vorgänge" bestehe darin, „durch eine offensive, konzentrierte und tatbestandsbezogene Bearbeitung die erforderlichen Beweise für den Nachweis des dringenden Verdachtes eines oder mehrerer Staatsverbrechen beziehungsweise einer Straftat der allgemeinen Kriminalität zu erbringen.[15]

Bei Durchsicht seiner Akten las Hans Joachim Schädlich auch, daß einer der produktivsten Informanten des Staatssicherheitsdienstes sein eigener Bruder gewesen war, und zwar noch zu Zeiten, da er selbst schon jahrelang in der Bundesrepublik lebte. In einem eindrucksvollen Text hat er „Die Sache mit B." erzählt:

Obwohl ich die Sache mit B. nur unvollständig erzählen kann, komme ich leider nicht ohne Zeitangaben aus, der Zeitlücken wegen. Mein Text klebt eben gewaltig an der wirklichen Wirklichkeit. Anders wäre es mir lieber.

Ein Dutzend Jahre nach meinem Verschwinden tauchte ich im ehemaligen Einheimischen auf, weil es die Grenze plötzlich nicht mehr gab. Ach war das ein &Mac226;Guten Tag! Wie geht es Dir?'
Ich war zwar ein Auswärtiger, aber als ich B. traf, war mir fast heimisch zumute.

Irgendwann kurz vorher war B. einer neuen Partei beigetreten, oder B. trat kurz nachher einer neuen Partei bei. Er war zwar ein Einheimischer, aber als er mich traf, war ihm fast auswärtig zumute, glaube ich.
Reichlich zwei Jahre nach dem &Mac226;Guten Tag! Mir geht's gut!' - ja, was war da. Eine staatliche Partei war da nicht mehr. Etwas aber war da noch. Das wollte ich gerne einmal sehen. Dahin ging ich, und da habe ich es beziehungsweise ein- bis zehnmal gesehen.

Vor ewigen Zeiten, hinter der Grenze, als B. bei mir erschienen war und gesagt hatte, seine staatliche Partei habe ihm gedroht, ihn aus seiner staatlichen Partei zu werfen, falls er sich nicht von mir trenne - da war B. zu seiner geheimen staatlichen Polizei gegangen und hatte gesagt: &Mac226;Jetzt arbeite ich schon seit ewigen Zeiten für euch, und jetzt macht mir die Partei Ärger. Wäre es da nicht das beste, ich sagte zur Partei: &Mac226;Werft mich meinetwegen hinaus.''

Die geheime staatliche Polizei hatte zu B. gesagt: "Nana. Es ist schließlich unsere Partei, und wir sind nur die Polizei." Aber am Ende hatte die geheime staatliche Polizei zu B. gesagt: "O.K. Laß dich aus der Partei hinauswerfen. Es dient letzten Endes unserer Partei, und wir sind nur ihre Polizei."

Jetzt, also damals, wurde B. aus seiner staatlichen Partei geworfen, jetzt war er aber stark erleichtert, jetzt konnte er weiterhin bei mir erscheinen.

Jetzt, also eine Ewigkeit später, sah ich ungerne, daß B. der staatlichen geheimen Polizei nicht bloß einmal die Geheimnisse aufgezählt hat, die ich mit B. hatte.

Über Dort, diese weit entfernte Gegend jenseits der Grenze, wohin ich hatte fahren dürfen und wohin B. hatte fahren dürfen und wo wir uns gerne wieder einmal gesehen hatten, fand sich auch etwas.

Es wäre nicht schlecht, darüber zu reden, wie mir zumute war, als ich das gesehen hatte. Obwohl ich meinen Unmut vollständig erzählen könnte, komme ich nicht ohne Abkürzungen aus. Mein Text klebt eben gewaltig an der wirklichen Unwirklichkeit. Anders wäre es mir lieber.[16]

Und ein Drittes entdeckte Hans Joachim Schädlich in den Akten: den sogenannten „Sachverständigen-IM" - den Literaturwissenschaftler und -kritiker im inoffiziellen Dienst der Staatssicherheit.

Das Gutachten des IM, das ich in meiner Akte fand, handelt von meinem Buch &Mac226;Versuchte Nähe' und stammt vom 8. September 1977. &Mac226;Versuchte Nähe' war im August 1977 bei Rowohlt in Reinbek erschienen; ich lebte seinerzeit noch in Ostberlin. Die Art der Betrachtung, die dem IM eigen ist, erschließt sich auf den ersten Blick. Unter Punkt I. behandelt der IM die &Mac226;politisch-ideologische Position' und die &Mac226;Wirkungsabsicht' des Buches. Unter Punkt II. ist die Rede von der &Mac226;Wirkung/Zielgruppe' und von der &Mac226;vermutbaren Entwicklung des Autors'. - Die &Mac226;politisch-ideologische Position' des Buches hat der IM schnell ausgemacht. Das Buch richtet sich &Mac226;gegen unsere sozialistische Gesellschaftsordnung'. So ist der Verfasser vorsorglich als Staatsfeind fixiert. (...) Vielleicht hat es den IM enttäuscht, daß es nicht zu einem Ermittlungsverfahren gegen mich kam. Den Grund für die Aussetzung eines Ermittlungsverfahrens habe ich aus demselben &Mac226;Einschätzungsbericht' der Untersuchungsabteilung des Ministeriums für Staatssicherheit erfahren.[17]

Und:

Ein auf dieser Rechtsgrundlage einzuleitendes Ermittlungsverfahren würde jedoch zu einer weiteren Solidarisierung von Schriftstellern und anderen Personen der BRD sowie weiterer kapitalistischer Staaten mit Schädlich führen. [...] Diese Sätze [...] wurden am 12. September 1977 [...] niedergeschrieben. Ich verdanke es auch der &Mac226;Solidarisierung von Schriftstellern [...] der BRD' mit mir, daß ich die DDR am 10. Dezember 1977 verlassen konnte.[18]

Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die damals die DDR verließen, wurden von den westlichen Medien mit offenen Armen empfangen und hatten, wenn sie sich auf deren Spielregeln einließen, alle Chancen, in der westdeutschen Öffentlichkeit bekannt zu werden.

So erinnere ich, daß, als ich Hans Joachim Schädlich, im Monat nach seiner Ankunft in der Bundesrepublik, zu einer Lesung am 22. Januar 1977 ins Göttinger Deutsche Theater eingeladen hatte - es war seine erste öffentliche Lesung überhaupt -, sogleich mehrere Fernsehteams sich ansagten, um über diese Lesung zu berichten. Das Theater war am Abend der Lesung überfüllt. Die Zuhörer waren gespannt auf die Lesung und ihren noch unbekannten Autor. Die Fernsehredakteure aber erwarteten eine politische Demonstration. Sie waren nicht interessiert an der Lesung, deren Texte in ihren Berichten dann auch nur am Rande noch vorkamen; die versammelten Redakteure waren erpicht auf Äußerungen des Schriftstellers zu seiner Ausreise und auf politisch verwertbare Kommentare.

Hans Joachim Schädlich hat sie alle enttäuscht. Er bat mich in meiner Ansage ausdrücklich darauf hinzuweisen, daß er in der Diskussion ausschließlich zu seinen Texten zu sprechen wünsche und er für politische Kommentare nicht zuständig sei. Einer der Fernsehredakteure, Ebbo Demant vom Südwestfunk, tat sich durch besondere Instinktlosigkeit hervor: Als Schädlich sich auch seinem Drängen, wenigstens nach der Lesung noch einen Kommentar zu seiner Ausreise in die Kamera zu sprechen, beharrlich verweigerte, raunzte Demant ihn an, in ein paar Monaten werde Schädlich, ich erinnere genau noch die Formulierung, auf Knien zu ihm hinrutschen, um ins Fernsehen zu kommen.

Schädlich hatte sich in der DDR weder politisch noch publizistisch instrumentalisieren lassen, und auch in der Bundesrepublik wollte er nichts dergleichen. Er wollte seinen eigenen Weg gehen, eigene Erfahrungen machen. Und er hat sie gemacht, ist ihn gegangen: unbestechlich und klar.

Die Anfänge waren schwierig. Schädlich mußte erst einmal ankommen in einem fremden Land:

In Westberlin waren mir Straßen, Plätze, die Mentalität der Menschen glücklicherweise vertraut. Die politische Ordnung war mir hingegen völlig fremd, in ihr hab ich mich nicht wiedergefunden, die mußte ich erstmal erkennen, um mich darin vertraut zu fühlen. Gehört hatte man ja viel, und &Mac226;gesehen', im Fernsehen. Aber Bilder und Worte über den Westen, die man von Osten her kennt, waren mit keiner praktischen Erfahrung verknüpft. Ich konnte mir wohl einbilden, ich wüßte etwas, aber in Wirklichkeit hatte ich die realen Entsprechungen dieser Eindrücke nie lebendig erlebt. Insofern war das fremd.

Die Notwendigkeit, mich als Schriftsteller frei zu betätigen, hatte ich im Osten auch nicht kennengelernt. Ich war ein wissenschaftlicher Angestellter gewesen. Nachdem ich mich entschieden hatte, das Schreiben zu meinem Hauptberuf zu machen und freiberuflich zu leben, gehörte dieser ganze Bereich zunächst einmal zu etwas Fremdem. Ich hab Jahre gebraucht, um mich hier zurechtzufinden - in der Sache, mit den Leuten. Mit diesem ganzen Literaturbetrieb, mit der Möglichkeit, von einer Arbeit zu leben, die ich zuvor als Lieblingsbeschäftigung ausgeübt hatte. Ich hab bestimmt vier bis fünf Jahre gebraucht, um mich so zurechtzufinden, daß ich sagen kann: es geht jetzt.[19]

Es wurden Jahre des Abtastens, des Versuchens, Jahre der kleinen Texte, die fast alle noch zu tun haben mit der Erfahrung der Diktatur. Sie muß aufgearbeitet werden, ihre typischen Phänomene werden durchleuchtet, poetisch analysiert. Dafür hat Schädlich seinen markanten Stil ausgebildet, dessen Entwicklung sich an den Texten des Bandes Versuchte Nähe ablesen läßt. Er arbeitet explizit mit der verfremdenden Inversion, die angemaßter Erhabenheit und falscher Erhebung der Machthaber über die Unmächtigen entlarvenden Ausdruck verleiht. Schädlich will seinem Blick auf die erfahrenen gesellschaftlichen Verhältnisse die angemessene sprachliche Form geben - schon im Titel Versuchte Nähe wird signalisiert, daß die Distanz zwischen Mächtigen und Unmächtigen unüberwindbar ist. Um diese nicht immer sichtbare, aber faktisch vorhandene Distanz erkennbar zu machen -- und der Schriftsteller, anders als der Maler, kann dies nur durch Sprache --, ver-rückt Schädlich die auf uns vertraut wirkende Perspektive auf die Dinge, indem er sie in uns fremden Formulierungen, etwa inversen Sätzen, beschreibt. Zum Beispiel in diesem Text aus dem Jahre 1978:

„In abgelegener Provinz"

In abgelegener Provinz, die aber ein schöner Landstrich ist, an einem Ort, den der Gouverneur zu seinem Sitz gewählt hat wegen ausreichender Gebäude, ist es regnerisch zu einer Jahreszeit, die Sonne bieten muß und milden Wind.

Der Mißmut des Gouverneurs am Morgen rührt zuerst her von dem Blick aus dem Fenster auf dem Platz vor dem Haus. Pfützen, in denen Pfützen sich spiegeln. Niemand ist da, dem er klagen kann, daß es ist, wie es ist.

Der Gouverneur kleidet sich an ohne Helfer, damit er verschont bleibe von Gerede oder Nachricht vor dem Frühstück. Die Morgenwäsche läßt er aus. Er weiß nicht, will er auch allein sein beim Frühstück, abgesehen von denen, die die Mahlzeit ihm bringen, aber wieder verschwinden?

Daß er aber hören will, was er nicht hören will, ist auch im Kopf, also frühstücken mit dem Ratgeber, der Neuigkeiten vorsagt aus einer Mappe.

Vorgestern, daß das Korn nicht ausreicht für den König, wenn das Korn ausreichen soll für die Bauern, gestern, daß die Bauern, weil das Korn nicht ausreicht für die Bauern, das Korn verfaulen lassen, und heute, der Gouverneur hat den ersten Bissen in der Kehle, daß etliche Schreiber, gewöhnliche Dichter, den Hals aufreißen.

Was schreien sie?

Daß sie, was sie sollen, nicht wollen. Und sagen frech, weil der Gouverneur Schweigen verlange, müsse geredet werden.

Worüber?

Daß die Gründe des Gouverneurs die Gründe des Gouverneurs seien.

Der Gouverneur springt auf, das Frühstück ist übrig.

Was ist zu tun? fragt der Ratgeber.

Was ist zu tun? sagt der Gouverneur. Einige füttere ich, daß sie mir vorpfeifen. Für andere stampfe ich mit dem Fuß auf. Den dritten zertrete ich den Kopf.[20]

Deutlich hat diese schon in der Bundesrepublik entstandene Erzählung noch den subversiven Parabel-Charakter der meisten Texte aus Versuchte Nähe, der sich in wesentlichen Teilen von der politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit der DDR her schrieb. Und das Parabelhafte wird sich auch noch in den kleinen Texten der achtziger Jahre erhalten. Zu ihnen gehört Der Sprachabschneider [21], den Schädlich wie ein Kinderbuch anlegte, das nicht minder für Erwachsene gilt: eine märchenhafte Parabel auf die Zensur. Und schließlich wird noch die Großform des Romans vom unsterblichen Polizeispitzel Tallhover parabolisch grundiert sein. Für all diese Texte gilt noch nicht, was dann Schott ausmacht: die Entwicklung erzählerischer respektive literarischer Realität nicht aus realer, sondern aus ästhetischer Wirklichkeit; oder, wie Ruth Klüger es 1996 in ihrer Rede [22] zur Verleihung des Kleistpreises an Schädlich gesagt hat: auch bei Schott unübersehbar die politische Dimension, die aber nicht an historische Ereignisse gebunden ist, nicht, wie die Texte bis dahin, von ihnen her geschrieben wurden. Aber auch die in Schott hergestellte Wirklichkeit will sich an der realen Wirklichkeit messen lassen. Bis Schott geschrieben werden konnte, mußte die Last der Geschichte: die Erfahrung der kommunistischen Diktatur und das Erbe des nationalsozialistischen Terrors abgearbeitet werden. Schädlich wurde zum unbestechlichen Chronisten dieser Erfahrung.

Den für sein Schreiben grundlegenden Ansatz deutete Schädlich bereits 1978 in einem Gespräch mit Nicolas Born an:

Denn das Moment des Widerstandes ist nicht der Impuls für meine Arbeit gewesen und wird es in dieser vordergründigen Form auch nie sein. Der eigentliche Impuls für die beobachtende und schreibende Tätigkeit ist in erster Linie das, was ich meine Wirklichkeit nenne, also die Wirklichkeit, in der ich mich befand oder jeweils befinde. Aber das ist keine Haltung, die auf die Arbeit eines Schriftstellers in der DDR beschränkt ist, sondern das ist eine generelle Grundhaltung, die ich für mich in Anspruch nehme und die sich in einer anderen Gesellschaft für mich in gleicher Weise realisiert. Denn, das versteht sich ja von selbst, die Gesellschaft in der Bundesrepublik enthält in vergleichbarer Weise, allerdings auf andere Art und auf anderer Ebene, Konflikte genug, also auch Stoffe, nämlich Konfliktstoffe, die dem Beobachter und Beschreiber mittelbar oder unmittelbar aufgehen.[23]

Und grundsätzlicher, über den historischen Ort und politischen Anlaß hinausgehend, ist der Schreibprozeß für Schädlich immer ein Erkenntnisprozeß, der nicht selten mit subversiven ästhetischen Mitteln inszeniert wird:

Ein Schreibimpuls für mich war zunächst einfach das Bedürfnis, Gegenstände oder Umgebungen oder Zusammenhänge oder Verhältnisse, die ich nicht genau zu erkennen vermochte, durch den Schreibvorgang für mich persönlich durchschaubar und erkennbar zu machen. Das ist natürlich bei weitem nicht alles, aber ein wesentlicher Aspekt, daß es sich bei dem Schreibvorgang um einen Erkenntnisvorgang handelt.[24]

Dabei sei, sagt Schädlich an anderer Stelle, die Wahl der Gegenstände, die er sich für die erst ziellose Erkundung, dann das zielgerichtete Schreiben wähle, nicht zufällig; doch die Auseinandersetzung mit diesen gewählten Gegenständen selbst müsse dann kalt aus ihnen entwickelt werden, dürfe weder ideologisch noch auch nur appellativ intendiert sein.[25]

Zwei Texte, beide aus den achtziger Jahren, sind mit dem Schlüssel dieser Maßgabe aufzuschließen: „Mechanik", ein kürzerer, und Tallhover der erste große Text von Schädlich. „Mechanik"[26] entfaltet, ausgehend von Fragen im Zusammenhang mit dem authentischen Euthanasiemord an Fritz Ruttig im Jahre 1940, die fragile, wenn man so will: sozialpathologische Geschichte der Familie des Ermordeten. Tallhover [27] erzählt revolutionäre Bestrebungen und deren Scheitern im deutschen 19. und 20. Jahrhundert aus der Perspektive des unsterblichen Agenten der politischen Polizei Ludwig Tallhover, der 1819 geboren ist und sich 1955, nun im Dienste der DDR, selbst den Prozeß macht, weil er versagt habe: es sei ihm nicht gelungen, die Überwachung und Verfolgung von Aufsässigen zur Vollkommenheit zu bringen, wie es seiner Idee vom „bedingungslos reinen Staat"[28] folgend nötig sei.

Schädlich entwickelt die Form der Darstellung beider Texte aus den spezifischen Bedingungen ihren Gegenstände.„Mechanik" bringt im Jahre 1985 die überlebenden Verwandten der Familie Ruttig zur Sprache, sie alle antworten auf die eine Frage: Was geschah damals mit Fritz und seinen Geschwistern? Schädlichs neutrales Protokoll der Antworten wird zur eindringlichen Diagnose einer Sprach- und Ahnungslosigkeit, die subjektiv nicht zur Erkenntnis der tatsächlichen Ursachen: weder der familiären Disposition zur Krankheit noch der Zwangsmaßnahmen im „Dritten Reich" fähig ist. In [der Anstalt] Rodewisch ist der Fritz schlecht geworden. Dort ist er schlecht geworden. Der war erst nicht so krank. Dort ist er ganz krank geworden. - Hat er oft keinen Kontakt mehr gehabt zu uns. Die Mutter hat immer geweint, hat sie ihm was gegeben, was zu essen, oder was anderes. Und er, so mechanisch. Hat uns gar nicht richtig wahrgenommen.[29]

Alle berichtenden Figuren verhalten sich wie Teile eines Räderwerks, in dem sie einerseits stecken, das sie aber andererseits auch selbst erst herstellen und dann am Leben halten, indem sie seine Mechanik bedienen - das heißt: Sie folgen den Gesetzen seiner Konvention, leisten nicht Widerstand, verharren in ihrer Unmächtigkeit.

Dieser Konvention folgt auch Tallhover, er aber im Dienste der Mächtigen, die sich der komplexen Räderwerke bedienen, um ihre Macht zu etablieren und zu befestigen. Tallhover ist ihr perfekter Agent, ein Anhänger der absoluten „Idee des reinen ordnenden Staates"[30], seines reibungslosen Funktionierens, seiner geschmierten Mechanik -- alles, was Sand in ihrem Getriebe ist, wird überwacht, kaltgestellt, abserviert, umgebracht: die Sozialisten und Kommunisten, die Revolutionäre und Unbotmäßigen im 19. Jahrhundert, die Widerständler der ideologischen Reinheit im 20. Jahrhundert. Aber am Ende wird Tallhover, obgleich im Dienste seines Prinzips so viele, die gegen die Mechanik des absoluten Gesetzes aufbegehrten, verfolgt und umgebracht wurden, doch nicht gesiegt haben, weil die menschliche Natur der reinen Theorie zuwider ist. Deshalb macht sich Tallhover am Ende dieser großen Parabel von der pervertierten Utopie selbst den Prozeß:

Ich erkläre hiermit, daß ich als lebenslanger Mitarbeiter der Dienste einer der Schuldigen bin an schwerwiegenden Unterlassungen, deren sich die Dienste schuldig gemacht haben. Wie oft habe ich mich anheischig gemacht, Verbrechen am Staat unnachgiebig zu entdecken und bin doch auf halbem Wege stecken- oder stehengeblieben. Wohl gab es noch meine Dienstvorgesetzten, ja Verantwortliche von allerhöchstem Rang - den Kaiser und König, den Reichspräsidenten, den Führer, den Chef des Reichssicherheitshauptamtes, den Präsidenten der Republik, den Vorsitzenden des Ministerrates, den Minister des Dienstes; aber im Grunde sind es meinesgleichen und bin ich es, die in der Ermittlung, im Verhör, in der Strafverfolgung oft und oft versagt haben. Eine Kette von Nachlässigkeiten, die sich vor meinen Augen reiht, ein Berg historischer Schuld, der sich vor mir, einem schwach gewordenen Mann der Dienste, türmt. Ein Alp für jeden, der die Geschichte und ihre tatsächlichen Einzelheiten kennt -- ein Alp, von dem ich mich am Ende meines Lebens befreien möchte. [...] Strikt verlange ich lückenlose Geheimhaltung meines Prozesses, damit nicht gegenwärtige und zukünftige Feinde der staatlichen Ordnung billig Nutzen ziehen können aus der Aufdeckung der Fehler, die die Dienste und ihre Mitarbeiter, darunter ich, begangen haben. Es handelt sich unter anderem um Fehler, die einen fehlerhaften, unheilvollen Verlauf der Geschichte erst zugelassen haben.[31]

Nun verläuft jene Spur der menschlichen Natur durch die Zeit, welche wir Geschichte nennen, in Tallhovers Sinn fehlerhaft -- doch an welchem Maß mißt er? Das 20. Jahrhundert hat die im 19. Jahrhundert ausgedachten Geschichtsentwürfe so menschenfeindlich, weil mit Absolutheitsanspruch und deshalb totalitär verwirklicht, daß auch deren von den Sehnsüchten der Menschen produzierten utopischen Antriebsanteile weitgehend denunziert sind. Und damit ganze Literaturen, die die Mechanik der totalitären Herrschafts- und Staatssysteme schmierten. Sie konnte das Maß nicht sein; denn an ihr gemessen ist der Mensch qua Mensch der Fehler des Systems. Ihn auszumerzen oder zu vernichten, war Tallhovers Aufgabe; ihn der Mechanik des Systems anzupassen, war Aufgabe der dienstbaren Literatur.

Nun erscheint der Mensch zurückgeworfen auf seine existentielle Erfahrung; tatsächlich ist er frei von den Zwängen bloß theoretischer Erfahrungssurrogate. Nun kann er sich wagen. Aber Freiheit ist Risiko und Chance, gesellschaftlich und also politisch. Deshalb ist nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts gegenüber allen heilsversprechenden Konzeptionen endlich Skepsis angesagt: der fruchtbare Zweifel einer Vernunft, die mit der Dialektik von Intellekt und Sinnlichkeit begabt ist. Ihr redet Schädlich das Wort - und einer Literatur, die ihr folgt:

Diese Skepsis ist aber kein Plädoyer für Politiklosigkeit, etwa im längst widerlegten bürgerlichen Sinn. Die Skepsis ist nur eine Form der dringlichen Frage nach dem literarischen Ausdruck des Politischen.
Gibt es politische Texte, die überhaupt nicht von Politik handeln? Man weiß schon, daß es sie gibt.

Es ist die Rede von Literatur als einem autonomen Feld. Nicht vorsätzliche oder aufgeschwatzte Politisierung, die wie ein Spruchband aus dem Text flattert, sondern innere Verwirklichung eines Textes ist gemeint. Es ist die Rede von unausgesprochener Anstiftung zu etwas, zum Beispiel, im natürlichsten Fall, durch eine natürliche Erscheinung wie &Mac226;des Himmels Luft', die, mit Hölderlin zu reden, &Mac226;der Knechtschaft Schmerzen' &Mac226;löst'. Es ist" - ich wiederhole die Formulierung Schädlichs - „die Rede von einem subversiven Strom, der in einem Text fließt und eine das Denken befreiende oder eine zum Denken zwingende Helle bewirken kann, also eine Stärke im Kopf eines Lesers oder Hörers.[32]

Sieben Jahre vor seinem Erscheinen spricht Schädlich da über Schott. Mit diesem Buch, das er, anders als noch Tallhover, ausdrücklich als "Roman" bezeichnet, hat er jenes autonome Feld etabliert, auf dem die Phantasie unabhängig vom Zwang der Geschichte ihre Geschichten produziert: Fiktion als Ausdruck von Freiheit. Die ist weit, aber nicht grenzenlos. Denn die Figuren der Fiktion, die da recht frei agieren, bewegen sich weder zufällig noch folgen sie gar einer écriture automatique. Schott, ihre zentrale Figur, setzt auch im Roman die Gesetze der realen Wirklichkeit nicht prinzipiell außer Kraft. Aber sie ist nur die Folie, vor der er als Handelnder erkennbar wird im Ensemble der anderen Figuren: Mott, Tomm, oder Lisch, seiner luftigen Geliebten Liu, dem bedrohlich autoritären Schill oder der Nachbarin Semper, die Schott beständig in kleine Alltagsgespräche hineinzieht. Diese Gespräche geben dem Roman fast so etwas wie eine Struktur; denn man erwartet sie, nachdem sie ein paarmal stattgefunden haben.

Alles andere ist für den Leser überraschend, folgt einer Erzählstrategie, die das Erzählen aus sich selbst heraus generiert -- als offene Form, die der Autor braucht, um gleichsam im Schreiben das Gelände zu erkunden, auf dem er seine Figuren ins Handeln schickt. Doch wird auch dieses ins Ungewisse sich entwickelnde Schreib-Handeln unter Kontrolle gehalten: von einem „Verfasser", der den Autor kontrolliert, damit er nicht zu weit abschweife oder zu ausfällig werde.

Neulich, sagt der Verfasser, neulich geriet ich in einer kleinen Stadt auf einem mittelhohen Gebirgszug in eine bedrohliche Lage. Ein Leser und eine Leserin, die gut genährt und ordentlich gekleidet waren, sagten, als sie mich kommen sahen, fast gleichzeitig, Schweinerei! Und wechselten die Straßenseite. Ich tat, als ginge ich unbeirrt weiter, aber es fiel mir auf, daß die Leute verzerrte Gesichter hatten.
In derselben Stadt, in derselben Stunde sollte ich bestimmt getröstet werden. Eine Leserin von der ich es nicht geglaubt hätte, fragte mich unvermittelt, Schreiben Sie nichts Nettes?
[33]

Doch dazu ist der Schriftsteller nicht da. Zumal Hans Joachim Schädlich Wirklichkeit nicht bloß abschreibt und unter wechselnden Erzählkulissen das immer gleiche Erfahrungsstückchen inszeniert, sondern mit jedem Buch neue Erfahrungs- und Wahrnehmungsmöglichkeiten ausprobiert.

So auch in den beiden komplementären Erzählungen „Mal hören, was noch kommt" und „Jetzt, wo alles zu spät ist". Sie führen sehr klar -- und deutlich gegen alle in verschwiemelter Sprache versteckte falsche Scham -- Verhaltensformen angesichts abgelebter Leben vor: einmal aus der Erinnerungssicht eines Mannes, der im Sterben liegt und nach Liebe lechzt, einmal mit dem Blick einer Frau, die viele Männer hatte, ohne je geliebt zu haben.

So liegt in der ersten Erzählung „Mal hören, was noch kommt" der Sterbende fast bewegungslos im Bett, lamentiert und memoriert sein Leben und Lieben. In seiner erbärmlichen Situation hat er nur noch ein einziges Lebewesen, dem er vertraut:

Die einzige Freude heute war meine Fliege. Sie sagt mir alles. Das ist Liebe. Sie hat gesagt: Im Nachbarzimmer der Typ hat mich angemacht. Er hat gesagt: Bleib doch bei mir. Ich hab eitrige Beulen unter der Achsel. Unter meiner Achsel kannst du dein Wochenbett einrichten. Da finden deine Kinder ein warmes Plätzchen und jede Menge Kindernahrung. - Ich hab gesagt: Neinnein. Ich lebe nicht allein. Ich brauche deinen Eiter nicht. Mein Partner hat einen offenen Rücken. Da ist es warm, und Essen gibt es genug. Ich bin kein besonderer Eiterfan. Ich hab's lieber, wenn meine Kinder frische Blutsuppe kriegen.

Meine Fliege. Ich habe zu ihr gesagt: Flieg auf meine Lippen. Ich will dich küssen.
Die Fliege ist das einzige Wesen auf der Welt, dem was an mir liegt.
[34]

Auch die Frau in der Komplementär-Erzählung „Jetzt, wo alles zu spät ist" sehnt sich nach einem Wesen, dem sie sich anvertrauen kann. Gerade die Fülle ihrer Liebhaber, die sie Revue passieren läßt, offenbart die Leere, in die sie gefallen ist. Aber der Text erreicht die sprachliche Radikalität der ersten Erzählung nicht, weil die existentielle Situation bei weitem nicht so extrem, ja fast konventionell ist:

Hätt ich mich doch bloß mal auf einen festgelegt! Wenigstens für drei, vier Jahre. Gewollt hab ich's. Aber ich hatt auch Angst davor. Also ewig auf Suche. Und was hab ich gefunden? Immer wieder `n andern. Und mit kei'm war's was.

Meine Mutter hatte zwei Männer. Dem einen war se nich gut genug, der andere is mein Vater.
Manchmal wach ich nachts auf und heule. Weil ich vom Munk geträumt hab. Warum hab ich den gehen lassen! Den hab ich geliebt. Ich setz mich auf im Bett und ruf: &Mac226;Munk! Munk! Wo bist du denn. Ich will 'n Kind von dir.' Aber der Munk kommt nich.
[35]

Schädlichs Trivialroman [36] erkundet einen neuen Ansatz, einen neuen Zugang zu einem alten Thema: seiner Auseinandersetzung mit dem totalitären Staat. Es unternimmt einen systemkritischen Schnitt in verschworene menschliche Gemeinschaften, die aus unterschiedlichen Interessen autoritäre Organisationsstrukturen ausbilden, in denen ausschließlich eben diese Interessen mit aller Macht verfolgt werden.

Darin wird erzählt von einem Dutzend Menschen, Typen, deren Namen sie charakterisieren, die in bestimmten Arbeits- und Abhängigkeitsverhältnissen zueinander stehen: Da sind der Chef, der offensichtlich eine „Firma" leitet, die weiter nicht bezeichnet wird, und seine Frau, die von den Untergebenen des Chefs „Äbtissin" genannt wird; dicht unter dem Chef arbeiten Kralle, der Finanzchef, und Dogge, eine Art Geschäftsführer, ein &Mac226;scharfer Hund', dem Qualle und Biber zugeordnet sind; die Leibwache des Chefs und, nun schon deutlicher zur Sprache gebracht: die „Oberkiller" der Firma sind Ratte und Natter, und ihre beiden „Nachrichtenleute" heißen Wanze und Aal; außerdem gibt es noch Dogges Geliebte Clarissa und ein wenig Personal. Und schließlich ist da Feder, ein Journalist, der sich von seiner Zeitung abwerben ließ und nun seit zehn Jahren der Propagandist der Firma ist. Er erzählt den „Trivialroman", die Geschichte der „Firma", die vor ihrem Ende steht.

Doch diese Erzählung changiert, Schädlich entwirft ein vielschichtiges Vexierbild. Denn wenn man das Bild ein wenig "dreht" und den Text etwas anders liest, erkennt man unter seiner Oberfläche auch andere Formen interessegeleiteter Organisationen von ähnlicher Struktur: etwa eine totalitäre, faschistische oder kommunistische Partei, oder einen monopolkapitalistischen Geschäftsbetrieb, aber auch eine religiöse Sekte und sogar eine straff durchorganisierte Kirche. Sie alle aber scheinen entworfen zu sein auf dem Palimpsest alter Ordenskongregationen, auf deren unterschiedliche Zielsetzungen viele der von Schädlich beschriebenen Verhaltensweisen passen -- nicht nur der Hinweis auf die Frau des „Chefs" oder Dogges Geliebte „Clarissa" geben den Schlüssel für eine solche Lesart an die Hand.

Schädlichs Trivialroman ist eine raffiniert angelegte und genau ausdifferenzierte Gleichung, von der man paradoxerweise sagen muß, daß sie zwar nur bekannte Faktoren hat, aber dennoch nicht aufgeht. Die doppelte Trivialität dieser paradoxen Gleichung besteht darin, daß sie mit den einfachsten erzählerischen Mitteln komplexe Verhältnisse anschaulich macht und deren Komplexität zugleich auf die einfachsten Strukturen reduziert.

Dieser Text, wie alles, was der subversive Chronist Hans Joachim Schädlich geschrieben hat, muß immer mehrschichtig gelesen werden -- erst dann schließt er sich auf als das, was er tatsächlich ist: das Axiom der Struktur aller denkbaren undemokratischen Organisationen von Macht und Gewalt. Ihre Strukturen erkennbar zu machen und den Menschen zu helfen, sich aus ihrer selbstverschuldeten und oktroyierten Unmündigkeit zu lösen, ist Aufgabe und Ziel der poetischen Erkenntnisarbeit des Schriftstellers Hans Joachim Schädlich. Dafür steht er mit seinem gesamten Werk und von Anfang an.

Immer wieder erzählt Schädlich seine Geschichten so, daß aus ihnen die Leser selbst ihre Schlüsse ziehen können. Schädlich stellt, wie ausdrücklich auch der Fabelerzähler Lessing, Fakten dar, ohne sie zu bewerten. Zum Beispiel in dem Roman Anders. Da berichten zwei pensionierte Meteorologen einander authentische Fälle: Beispiele von Menschen, die anders sind, als sie scheinen.

Nicht alle ihre Fälle sind moralisch gleich zu bewerten. Schädlich zeigt Rollenspiele noch erst von harmloser Art. Doch zunehmend führt Schädlich seine Leser mit Hilfe seiner Meteorologen, die ja wissen müssen, wie der Wind weht, in die Abgründe der menschlichen Camouflage, wie sie in den Wechseln der zur Macht gekommenen mörderischen Ideologien des 20.Jahrhunderts gang und gäbe war; denn da wurden der Verrat, die Verstellung, die Lüge geradezu endemisch, weil, wie es Primo Levi formuliert hat, den Menschen der „Zugang zur Wahrheit verboten und verweigert" und so eine „Verseuchung ihrer Moral und ihrer Erinnerung" betrieben wurde.[37]

Die Menschen sind ihr auf unterschiedliche Weise erlegen. So fragen Schädlichs Meteorologen, wie etwa die Menschen in Weimar neben, mit und vor allem von dem Konzentrationslager Buchenwald lebten -- und wie sie ihr Erleben dann verdrängten: denn wer wußte schon was?

Aber Anders ist kein Enthüllungsbuch. Wohl ein Anschauungsbuch menschlicher Abgründe. Schädlich läßt seine Meteorologen nicht polemisieren oder moralisieren, er läßt sie ihre Fälle fast kalt erzählen. Sie sind Wissenschaftler, beobachten ihre Fälle wie das Wetter aus großer Distanz. Und gerade das macht angesichts der Perfidie dieser Fälle sprachlos. Die Literarisierung der Stoffe, die Schädlich da auf seine unaufgeregte Erzählweise unternimmt, führt nämlich weiter als bloß zur Kenntnis der widrigen Geschichten; sie führt zur eindringlichen Erkenntnis der unauslotbaren menschlichen Natur.

Von ihrer Erkenntnis handelt auch die Geschichte, die Schädlich von Leben und Tod des Dichters Äsop[38] mitteilt. Äsop ist im Grunde ein uralter Verwandter von Hans Joachim Schädlich. Er soll im 6. Jahrhundert vor Christus auf der ionischen Insel Samos gelebt haben, ist aber selbst zur legendenhaften, ja zur Fabel-Figur geworden.

Überliefert wird die Geschichte vom Fabel-Erzähler Äsop im sogenannten „Äsop-Roman". Dessen Kern ist sicherlich die Lebensgeschichte Äsops, wie sie von Erzählern der Fabeln einst nebenher auch mitgeteilt worden ist. Doch im Laufe der Jahrhunderte müssen diese Erzähler die Geschichte Äsops selbst fabulös ausgeschmückt und ihren Helden ausgestattet haben mit den mustergültigen Verhaltensweisen eines Underdog, der den Mächtigen mit Klugheit und eulenspiegelhaftem Witz zu begegnen wußte und in seinen Fabeln den Menschen mit moralisierender und erzieherischer Absicht einen Spiegel erfand, in dem sie sich erkennen sollten. So beglaubigten sie Klugheit und Witz der Fabeln mit Klugheit und Witz ihres Erfinders, und indem sie ihn als häßlichen und mißgestalteten Sklaven darstellten, der, anfangs stumm, erst von einer Göttin zur Sprache gebracht wurde, vergrößerten sie die Fallhöhe zwischen den Mächtigen und jenen Unmächtigen, als deren Fürsprecher der Äsop des „Äsop-Romans" über zweieinhalb Jahrtausende hinweg entwickelt und tradiert wurde.

Der knapp hundertseitige Text des „Äsop-Romans" war bislang Objekt eher literaturwissenschaftlichen als literarischen Interesses, wurde also häufig wörtlich und meist schlecht aus dem Griechischen übertragen. Schädlich hat daraus ein wunderbares Buch gemacht, das sich, weil seinem Autor dieser Stoff auf den Leib gewebt ist, als Lehen sogar ins eigene Werk einreihen läßt: Denn Hans Joachim Schädlich hat Leben und Tod des Dichters Äsop unter dem programmatischen Titel Gib ihm Sprache erzählt als Geschichte eines Unmächtigen, der, begabt mit genauem Denken und Sprechen, das immer ungenaue, weil falsche Bewußtsein der Mächtigen vorführt und sich von ihnen befreit. Äsops Karriere beginnt auf der Insel Samos, wo er vom Sklaven des Philosophen Xanthos zum Ratgeber aller Samier wurde, und er brachte es dank seiner Klugheit bis zum Wesir von Babylon. Gestorben ist er in Delphi, wo er, von den Delphern zum Tode verurteilt, sich von einem Felsen stürzt - angeblich weil er sie bestohlen habe; eher wohl weil der erkenntniskritische Witz des Äsop ihre wolkigen Orakel störte. Damit hat Schädlich das Schicksal vieler konsequenter Aufklärer beschrieben.


1 Hans Joachim Schädlich: Schott, Reinbek bei Hamburg 1992, S. 185 f.
2 Hans Joachim Schädlich: "Der Roman", in: Rowohlt Literaturmagazin 30: "Siegreiche Niederlagen. Scheitern: die Signatur der Moderne", hg. von Martin Lüdke und Delf Schmidt, Reinbek bei Hamburg 1992, S. 147-153, S. 150: "Nun erst war ich als Erzähler wirklich frei, und um mich in der Selbsterklärung auch noch wortspielerisch zu betätigen, füge ich hinzu: frei von &Mac226;history' gelangte ich zur Freiheit in der &Mac226;story'. Falls Sie aber lieber mit etwas Mehrdeutigem beschäftigt sein wollen, sage ich vielleicht: frei von Geschichte gelangte ich zur Freiheit in der Geschichte."
3 Hans Joachim Schädlich: Schott, a.a.O., S. 292.
4 Hans Joachim Schädlich: „Literatur und Widerstand", in: H.J. Schädlich: Über Dreck, Politik und Literatur, Berlin 1992, S. 66.
5 Hans Joachim Schädlich: „'Diese sonderbare Bindung an den &Mac226;Stall', aus dem man kommt'. Ein Gespräch mit Martin Ahrends vom Februar 1989", in: TEXT + KRITIK, 1995, Heft 125: Hans Joachim Schädlich, S. 9.
6 Hans Joachim Schädlich: „Selbstvorstellung", in: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Jahrbuch 1992, Darmstadt 1993, S. 151.
7 „'Es war immer mit einer latenten Gefahr verbunden, in die Schule zu gehen' Gespräch mit Hans Joachim Schädlich", in: Achim Leschinsky / Gerhard Kluchert: Zwischen zwei Diktaturen. Gespräche über die Schulzeit im Nationalsozialismus und in der SBZ/DDR, Weinheim 1997, S. 91.
8 Hans Joachim Schädlich: „Deutsche im deutschen Exil?", in: H.J. Schädlich: Über Dreck, Politik und Literatur, a.a.O., S. 89.
9 Hans Joachim Schädlich: „Papier und Bleistift", in: H.J.Schädlich: Versuchte Nähe. Prosa (künftig: VN), Reinbek bei Hamburg 1977, S. 183 - 1992, hier: S. 183.
10 VN, S. 26 - 43.
11 Hans Joachim Schädlich: „Der andere Blick", in: H.J. Schädlich: Dreck, Politik und Literatur, a.a.O., S.106.
12 Ebd., S. 104.
13 VN, S. 71 f.
14 Hans Joachim Schädlich: „Der andere Blick", a.a.O., S. 110 f.
15 Hans Joachim Schädlich: „Jeder ist klug, der eine vorher, der andere nachher", in: H.J.Schädlich (Hg.): Aktenkundig, Berlin 1992, S. 166 - 172, hier S. 166.
16 Hans Joachim Schädlich: „Die Sache mit B.", in: Kursbuch, 1992, Heft 109, S. 81 - 89, hier S. 88 f.
17 Hans Joachim Schädlich: „Literaturwissenschaft und Staatssicherheitsdienst", in: Die Abwicklung der DDR, hg. von Heinz Ludwig Arnold und Frauke Meyer-Gosau, Göttingen 1992 (= Göttinger Sudelblatt), S. 92 - 95, hier S. 92.
18 Ebd., S. 95.
19 Hans Joachim Schädlich, in: TEXT + KRITIK, a.a.O., S. 12.
20 Hans Joachim Schädlich: „In abgelegener Provinz", in: H.J.Schädlich: Ostwestberlin. Prosa, Reinbek bei Hamburg 1987, S. 7 f.
21 Hans Joachim Schädlich: Der Sprachabschneider. Mit Zeichnungen von Amelie Glienke, Reinbek bei Hamburg 1980.
22 Ruth Klüger: „Stein des Anstoßes: Die Bücher von Hans Joachim Schädlich. Rede zur Verleihung des Kleist-Preises 1996", in: Kleistjahrbuch 1997, im Auftrage des Vorstandes der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft hg. von Sabine Doering, Stuttgart/Weimar 1997, S. 6 - 11.
23 Hans Joachim Schädlich: „Ich bin mit den Un-Mächtigen. Gespräch mit Nicolas Born", in: H.J. Schädlich: Über Dreck, Politik und Literatur, a.a.O., S.121.
24 Ebd., S. 121 f.
25 Ebd., S. 124.
26 Hans Joachim Schädlich: „Mechanik", Niddatal 1985 (= Bücherei &Mac226;Der Rüsselspringer' Heft 9).
27Hans Joachim Schädlich: Tallhover, Reinbek bei Hamburg 1986.
28 Ebd., S. 280.
29 Hans Joachim Schädlich: "Mechanik", a.a.O., S. 24 f.
30 Hans Joachim Schädlich: Tallover, a.a.O., S. 273.
31 Ebd., S. 271 f.
32 Hans Joachim Schädlich: „Literatur und Widerstand", a.a.O., S. 65 f.
33 Hans Joachim Schädlich: Schott, a.a.O., S. 192.
34 Hans Joachim Schädlich: Mal hören, was noch kommt - Jetzt, wo alles zu spät ist. Zwei Erzählungen, Reinbek bei Hamburg 1995, S. 30 f.
35 Ebd., S. 117.
36 Hans Joachim Schädlich: Trivialroman, Reinbek bei Hamburg 1998.
37 Primo Levi: Ist das ein Mensch? Die Atempause, München 1988, S. 13.
38 Hans Joachim Schädlich: Gib ihm Sprache. Leben und Tod des Dichters Äsop, Reinbek bei Hamburg 1999.