Glossen 23


Text und Hypertext
Zu den Werken Hans Joachim Schädlichs anlässlich seines 70. Geburtstags
(Vortrag auf dem 4. Carlisler Symposium am 8. 8. 2006).
Wolfgang Müller

Hans Joachim Schädlich stammt aus dem vogtländischen Reichenbach, wie übrigens auch der jüngere, leider schon verstorbene Freund Jürgen Fuchs und, wenn man weiter in die Vergangenheit geht, Caroline Weißenborn, besser bekannt als die Neuberin, deren Wanderbühne im 18. Jahrhundert in ganz Europa bekannt war. Nach dem Besuch einer Internatsschule im brandenburgischen Templin studierte er deutsche Literatur an der Humboldt Universität und Sprachwissenschaft an der Karl-Marx-Universität in Leipzig, wo er als 24jähriger bei dem bekannten Philologen Theodor Frings mit einer Dissertation zur „Phonetik des Vogtländischen" promovierte. Nach dem Studium arbeitete er bis 1976 auf dem Gebiet der Dialektologie und Phonologie am Institut für deutsche Sprache und Literatur der Akademie der Wissenschaften in Ostberlin.

Ob es mehr als nur ein Zufall war, daß die sowjetischen Panzer in Prag in etwa den Beginn seines literarischen Schaffens markierten? Jedenfalls ist „Lebenszeichen" aus dem Jahre 1969 der Titel seiner ersten von ihm selbst Ernst genommenen Erzählung. Der Text ist ein Lebenszeichen insofern, als sich hier zum ersten Mal ein Autor zu Wort meldet, mit dem in der Folgezeit zu rechnen sein wird. In einem anderen Sinne ist der Titel aber auch sarkastisch, weil es sich bei dem Text um die Beschreibung von Lebenszeichen einer in der DDR längst tot gesagten Tradition handelt, nämlich um das preußische Militärzeremoniell am "Mahnmal für die Opfer von Militarismus und Faschismus" in Ostberlin, eine Tradition, die sich nach dem Einmarsch der Warschauer Pakt Staaten nun für alle sichtbar mit der kommunistischen Diktatur verbunden hatte.

Nicht, daß dieser oder folgende Texte in der DDR von einem breiten Lesepublikum wahrgenommen wurden: Das ist ein understatement! Sie alle waren vorerst ausschließlich für die Schublade bestimmt. Daran änderte auch die unwürdige Ablösung Walter Ulbrichts durch Erich Honeckers „FDJ-Riege" im Jahre 1971 nichts, obwohl sich ja mit diesem Wechsel viele Hoffnungen auf ein Mehr an politischer und künstlerischer Freiheit verbunden hatten. Zu Unrecht, denn das Honeckersche Diktum nach dem 8. Parteitag der SED, "Wenn man von den festen Positionen des Sozialismus ausgeht, kann es meines Erachtens auf dem Gebiet der Kunst und Kultur keine Tabus geben", auf das sich diese Hoffnungen gründeten, kam ja als ein Konditionalsatz daher. Viele überlasen dieses „Wenn". Wo nämlich diese festen Positionen des Sozialismus lagen, wurde natürlich von der Partei, das heißt vom Politbüro der Partei bestimmt, das ja das Deutungsmonopol in solchen und allen anderen Fragen hatte und damit natürlich das Monopol auf Macht.

Wenn man sich die literarischen Veröffentlichungen der siebziger Jahre noch einmal vor Augen hält, wird schnell klar, wie eng das Territorium dieser Grundpositionen bemessen war. Selbstverständlich druckte man wie eh und je überwiegend rein affirmative Werke, wie z. B. Erik Neutschs Der Friede im Osten I (1974) oder Gedichte von Günter Dyke. Allenfalls stapelte sich einiges mehr oder weniger systemimmanent Kritische unter den Ladentischen, wie zum Beispiel Ulrich Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W.(1972), Jurek Beckers Irreführung der Behörden (1973), Irmtraud Morgners Die Abenteuer der Trobadora Beatriz (1974), Volker Brauns Unvollendete Geschichte (1975), Christa Wolfs Kindheitsmuster (1976) oder Werner Heiduczeks Tod am Meer (1977) - Bücher, die noch heute von Vielen als die Werke der DDR-Literatur betrachtet werden. Schädlichs Erzählungen hingegen kamen nicht einmal in die Nähe dieser Grundpositionen. Er schrieb, als kannte er die Regeln nicht, als gäbe es keine Staatsräson, keine Zensur und keine Staatssicherheit - ein moderner Kaspar Hauser unter den Eingeweihten und Mitmachern. Ja wo leben wir denn, werden sie sich gefragt haben? Muß man dem denn alles erklären? Daher eventuell die Gereiztheit Kurt Batts, des damaligen Cheflektors im Hinstorff Verlag, der es als eine politische Zumutung betrachtete, daß man ihm überhaupt solche Texte vorlegte.[1] Und daher vielleicht die Häme Hilde Eislers, der Herausgeberin des Magazins, des Nackedeiblattes der DDR "[...] Ich müßte mich sehr täuschen", schrieb sie ihm, "wenn Ihre Erzählung irgendwo in der DDR erscheinen könnte."[2]

Der einzige Rückhalt in dieser Zeit der Ablehnungen und Drohungen war eine kleine Gruppe von west- und ostdeutschen Autoren, die sich nach 1974 auf Anregung Günter Grass' regelmäßig in Ostberlin trafen, um sich ihre Texte vorzulesen und danach zu besprechen; unter ihnen die alten oder Neuwestler Christoph Buch, Uwe Johnson, Nicolas Born, Johannes Schenk, Helmut Eisentle, Max Frisch, Rolf Haufs, Gert Jonke, Jeannette Lander, Reinhard Lettau, Aras Ören, Christoph Meckel, Hermann Peter Piwitt, Peter Schneider, Klaus Stiller und Jürgen Theobaldy. Aus dem Osten kamen Elke Erb, Karl Mickel, Bernd Jentzsch, Sarah Kirsch, Kurt Bartsch, Heinz Czechowski, Kurt Tragelehn, Rainer Kirsch, Erich Arndt, Günter Kunert, Klaus Schlesinger, Jurek Becker und Adolf Endler, Klaus Poche, Thomas Brasch, Bettina Wegner, Sibylle Hentschke und Edda Bauer. Auch Volker Braun und Gerhard und Christa Wolf waren auf je einem dieser Zusammenkünfte anwesend.

Manfred Krug, der kurz vor seiner Ausreise nach Westberlin bei einer dieser Zusammenkünfte anwesend war, nahm die Stimmung dieser wohl einmaligen deutsch-deutschen Treffen folgendermaßen wahr:

Ich sperre Mund und Nase auf. Was sie dort vortragen ist phantastisch, jeder zauberte eine neue Welt in die verrauchte Stube, sie treiben sich in vergessenen Jahrhunderten und sonstwo herum. So was müßte man auf großen Bühnen machen. Schädlich liest eine Wahnsinnsgeschichte, in der nichts passiert, aber auf atemberaubende Weise. Seine Sprache ist so raffiniert, daß die Zeitlupe seines Vortrags noch hastig scheint. Er wirkt angenehm und bescheiden, genießt sich durchaus selbst... [3]

Natürlich wird es nicht nur harmonisch zugegangen sein, auch auf dieser Zusammenkunft nicht, aber die insgesamt vierzehn Treffen dieser nach Literaturverständnis und Temperament sehr unterschiedlichen Autoren wurden zu einer Art intellektueller Heimat, auch wohl einer Art Schule für jemanden wie Schädlich, dem seine Fremdheit und sein Gefährdet-Sein in dieser DDR immer deutlicher wurden. Trotzdem war diese Gruppe nur eine Art Ersatz auf Zeit für etwas, was in Ostberlin kaum zu haben war: Ein selbstbestimmtes Leben. Spätestens wenn die Autoren aus dem Westen kurz vor zwölf den Osten wieder verließen, wurde man an diesen Punkt sehr schmerzhaft erinnert.

Doch blieb es nicht bei diesem allgemeinen Gefühl des Eingesperrtseins und der eigenen Ohnmacht. Nachdem sein erster Erzählband, Versuchte Nähe, 1976 bei Rowohlt erschienen war, setzte die Stasi eine Experten-IM auf sein Buch an, die dann u. a. auch prompt bescheinigte, daß der Autor dieser "ästhetisch hoch elaborierten exemplarischen Skizzen", so Theo Buck, das Leben in der DDR als unerträglich und den „Staat der Arbeiter und Bauern" als legitimen Erben reaktionärer Traditionen darstelle - eine Einschätzung, die durchaus richtig war, aber leider einer Denunziation gleichkam, die geeignet war, ihn für einige Jahre hinter Gitter zu bringen. Natürlich wußte Schädlich von diesem Gutachten zu der Zeit nicht, und auch nicht, daß ihm die Stasi nach Paragraph 106, Boykotthetze, den Prozeß machen wollte. Das erwies sich erst später, nach dem Öffnen der Stasiarchive. Daß es in der DDR schließlich doch nicht zu einem Prozeß gekommen war, lag wohl einzig daran, daß die politischen Kosten für die SED zu hoch gewesen wären. Immerhin wurde er mit seinem Erzählband in der ganzen Bundesrepublik bekannt, und namhafte deutschsprachige Autoren gehörten zu seinen Freunden und Bekannten.

Trotz des Ausbleibens dieser Repressionsmaßnahme war aber die Wut der Partei auf ihn offensichtlich. So bezeichnete Kulturminister Höpcke bei einer Zusammenkunft von Vertretern belletristischer Verlage im Ministerium für Kultur Versuchte Nähe als ein zutiefst feindliches Buch und machte damit auch dessen Autor kurz und bündig zu einem Feind der DDR.

Während Schädlichs Unterschrift unter die Biermannpetition schon sein berufliches Aus an der Akademie zur Folge gehabt hatte, ließen nun Höpckes feindselige Auslassungen Schlimmstes befürchten. In seiner Parabel "In abgelegener Provinz"(1978) wird beschrieben, wie die Obrigkeit der DDR mit ihren Intellektuellen umging. So sagt ein fiktiver Gouverneur: "Einige füttere ich, daß sie mir vorpfeifen. Für andere stampfe ich mit dem Fuß auf. Den Dritten zertrete ich den Kopf." Fürwahr keine guten Zeiten für Literatur. Unter diesen Umständen war es auch mit einer Art inneren Emigration irgendwo auf einem Bauernhof in Mecklenburg nicht mehr getan. Das bestärkte ihn in seinem Wunsch, den Staat, zu dessen Feind er erklärt worden war, verlassen zu wollen.

Nach einigen Verzögerungen wurde seinem Ausreiseantrag im Spätherbst 1977 stattgegeben. Er war nicht der Einzige, der der DDR in diesen Jahren den Rücken kehrte, sondern einer von sehr Vielen. Aus dem Kreis der ostwestdeutschen Zusammenkünfte waren es: Sarah Kirsch, Kurt Bartsch, Thomas Brasch, Jurek Becker, Günter Kunert, Klaus Poche, Klaus Schlesinger, Bettina Wegner und Bernd Jentzsch.

Den Bericht seiner Ausreisebemühungen, verschleiert durch eine verfremdende, märchenhafte Schreibweise, findet man übrigens in "Tibaos" (1976), der Geschichte eines Mannes "aus einer Stadt in mittlerem Land, der fortziehen wollte." Die Schilderung des eigentlichen Ausreisetages läßt sich in "Einzelheit" aus seinem ersten im Westen veröffentlichten Erzählband Ostwestberlin nachlesen, in der am Ende die Hoffnung ausgesprochen wird, daß ein Ort erreicht sei, "welcher zu poetischer Betrachtung Gelegenheit bietet in reichem Maß" -- eine Hoffnung, die sich allerdings fast vier lange, quälerische Jahre lang erst einmal nicht erfüllte. Denn der in der Bundesrepublik gefeierte Autor der Versuchten Nähe erfuhr die ersten Jahre im Westen nicht nur als Befreiung von staatlich auferlegten Zwängen und als Eröffnung neuer literarischer Möglichkeiten, sondern, wie man seinem 1986 erschienenen Erzählband Ostwestberlin entnehmen kann, auch als Entwurzelung. In einem Interview über diese frühe Zeit in der Bundesrepublik gab Schädlich folgendermaßen Auskunft:

Ich kam von Ostberlin nach Hamburg, ich wußte gar nicht genau, was die Aufschriften auf den Paketen im Supermarkt bedeuten,... Ich war fremd....Ich war in eine andere Landeshälfte gekommen, mit der gleichen Sprache, und war total fremd... Ich konnte erst mal überhaupt nicht mehr arbeiten. Ich kannte mich nicht aus... man kann doch erst leben und arbeiten, normal leben und arbeiten, wenn man sich auskennt... Das konnte ich nicht. Also ich habe bestimmt mehrere Jahre gar nicht gearbeitet, nicht geschrieben.[4]

Und doch war es letztlich diese freiere Umgebung, die es ihm schließlich ermöglichte, sich als Autor ein neues Wirkungsfeld zu schaffen. Mit Sicherheit läßt sich sagen, daß sein erster großer Roman, Tallhover(1986), dem Grass später die Hauptfigur als Hoftaller in sein „Weites Feld" entführt hat, nur im Westen fertiggestellt werden konnte, ganz zu schweigen von seinem Roman Schott, seinem Meisterwerk, wie es Ruth Klüger ausgedrückt hat, dessen ästhetische Freiheit eine freiheitlich verfaßte und freiheitlich erlebbare Umgebung zur Bedingung hat.

Auf die Frage nach dem Sinn eines seiner Texte angesprochen, erzählte er in einem Interview folgende Anekdote:

Eine ältere Dame hat mich einmal nach einer Lesung im New Yorker Deutschen Haus gefragt: Na sagen Sie mal, was haben Sie sich denn dabei gedacht? Da war ich so verlegen und hab auch schon nach Worten gesucht, um ihr allen Ernstes zu erklären, was ich mir dabei gedacht hatte, da meldete sich ein anderer, der sagte: Ich glaube, ich kann dazu was sagen. Ich versteh zwar nicht viel von Literatur, ich bin Ingenieur, aber ich will's mal versuchen. Habe ich mich zurückgedreht und gedacht, Gott sei Dank, wunderbar, der rettet mich. Und da sagt der zu dieser Dame: Vor Gericht steht ein Mörder, und der Richter fragt ihn, Angeklagter, als sie diese Tat begingen, was haben sie sich eigentlich dabei gedacht. Der Angeklagte sagte: Ja, eigentlich gar nichts, gell. Der Richter sagt: Aber Sie müssen sich doch dabei etwas gedacht haben, nicht wahr? Da sagte der Angeklagte nach 'ner Weile: Ja, ja, ja stimmt schon, ich hab mir etwas gedacht. Ich hab gedacht, Je, je je, je, was hab ich da nur gemacht?

Natürlich ist diese verschachtelte Antwort, bzw. die Verweigerung einer Antwort auf die Frage nach dem Sinn seiner Texte ein wichtiger Hinweis auf seine Schreibprinzipien. Schädlich besteht auf der kreativen Freiheit des Autors, das zu schreiben, was ihm beliebt und was ihm angemessen erscheint. Und wenn ich ihn richtig verstehe, ist dieses Bestehen auf der kreativen künstlerischen Freiheit untrennbar verbunden mit dem Bestehen auf politischer Freiheit und dem Bestehen auf einem selbstbestimmten Leben. Man könnte diese Grundüberzeugung auf Immanuel Kants Diktum aus seinem Aufsatz in der Berlinischen Monatsschrift des Jahres 1783 zurückführen, in dem der Königsberger Philosoph den Prozeß der Aufklärung als den Austritt aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit bezeichnete. Doch geht man sicher nicht fehl in der Annahme, daß sie seinen eigenen unglücklichen Erfahrungen mit zwei deutschen Diktaturen geschuldet ist, und daß persönliche Selbstbestimmung und kreative Freiheit zum sine qua non seines Lebens gehören.

Aus dieser Grundüberzeugung heraus hat er sich auch immer gegen eine Funktionalisierung der Kunst gesträubt. Für ihn war und ist Kunst und Literatur nie „gesellschaftlicher Auftrag", wie es in der DDR immer geheißen hatte und wie es in anderen Formulierungen auch im Westen ab und an anklingt; z. B. wenn das Feuilleton vor einigen Jahren fragte: „Wo bleibt der Wenderoman", oder „Was kann die Literatur zur inneren Vereinigung der Deutschen tun". Trotzdem sind seinen literarischen Texten erkennbare Zwecke immanent. Alle sind auf die eine oder andere Art gegen Gewalt und Entmenschlichung des Individuums gesetzt. Ob es die maßlose Gewalttätigkeit deutscher Diktaturen ist oder die Roheit und Bosheit in den Beziehungen von Menschen zueinander, er beschreibt sie mit Genauigkeit, Härte, Lakonie und Sarkasmus. Tallhover, z. B., berichtet von der beruflichen Entwicklung eines exemplarischen Spitzels, der im Laufe eines Jahrhunderts den jeweiligen Behörden bei der Aufrechterhaltung von „Recht und Ordnung" dadurch behilflich ist, daß er mit geheimdienstlichen Mitteln die jeweiligen Ruhestörer und Nestbeschmutzer, letztlich erfolglos, ausschalten will. Sein Trivialroman (1998) und Anders (2003) untersuchen die Verhaltensweise und die Sprache von Menschentypen, die durch bestaunenswerte Anpassungsleistungen in die politischen oder intellektuellen Führungsriegen unterschiedlicher gesellschaftlicher Systeme, Verbrecherbanden und religiösen Sekten aufzusteigen in der Lage sind. Dagegen ist die Figur des Äsop in seiner Neuerzählung eines anonymen griechischen Äsopromans, Gib ihm Sprache. Leben und Tod des Dichters Äsop (1999), eine Alternativfigur zu solchen Tätern und Anpassern.

Bedenkt man den Lebensweg Äsops in diesem kleinen Text, mag man ahnen, woher Schädlichs Affinität zu diesem Mann aus der Antike kommt. Äsop ist ursprünglich ein Stammelnder, einer der sich nur schlecht ausdrücken kann, ein Landsklave, der sich jedoch durch seinen Witz aus den verschiedenen Schlingen windet, die man ihm legt. Das Geschenk der Göttin Isis, die ihm die Fähigkeit der Dichtkunst verleiht, macht ihn zum Fabeldichter, zum überlegenen, rebellischen Haussklaven des Philosophen Xanthos und schließlich zum freien, geächteten und bedrohten Aufklärer und Weisen, macht ihn zu einem, dem ein selbstbestimmtes Leben wenigstens zeitweise möglich wird. Einen Intellektuellen würde man ihn mit heutigem Vokabular nennen, wenn diese Bezeichnung sich nicht auf Anpassung zu reimen begonnen hätte.

Fast möchte man meinen, Schädlichs Erzählung wäre ein Beitrag zur Diskussion der neunziger Jahre um Täter und Mitläufer unter den Intellektuellen in der zweiten deutschen Diktatur. So wie Äsop hätte man sich zu DDR-Zeiten, oder davor, vielleicht auch verhalten können, scheint dieser Text nahezulegen. Aber er sagt es nicht in einem didaktischen Stil, eher so nebenbei, auf amüsante, auf leichte, eben auf äsopsche Weise. Man muß schon genau hinsehen, wenn man die Gemeinheiten, die Äsop angetan werden, nicht überlesen will oder die Abgründe an Erfahrung, die sich in einigen seiner Ratschläge auftun. "Wirf einen gehässigen Menschen, auch wenn er dein Bruder ist, nach dem Essen aus dem Haus! Er kommt nur, um anderen zu erzählen, was du tust und sagst", heißt es an einer Stelle. Wer Schädlichs "Die Sache mit B." gelesen hat, seinen hilflos trauernden Bericht über den IM-Bruder, mag ermessen, worum es hier geht.

Schädlich wird von der Kritik mit Recht als großer Stilist gewürdigt. In der Tat ist das Spektrum seiner sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten weit. „Bibelsprache, Kanzleideutsch, Stil offizieller Berichterstattung stehen ihm ebenso zu Gebote wie Umgangssprache und Exkurse in den sprachlichen Untergrund," heißt es bei Theo Buck. Allerdings beruht die Eigenart seiner Texte nicht so sehr auf einem ausgeprägten Stilwillen an sich, sondern viel mehr auf der Genauigkeit der Wahrnehmung und der Akribie ihrer sprachlichen Gestaltung, die jedem Material seinen ihm angemessenen Ausdruck zu geben sucht. Wenn es zum Beispiel in einer frühen Erzählung, „Einseitige Ansehung" heißt, „Auf dem Weg passiert Einer eine Person, die am Fuß einer sechsundvierzigstufigen Treppe steht, und läuft in zweiundzwanzig Schritten, zwei Treppenabsätze nicht gerechnet, hinauf,"[5] dann kann man sich darauf verlassen, daß das stimmt. Wenn es heißt, „Knapp nach dem letzten Querpfiff folgt die Ablösung verabredetem Zuruf, zwei frische Ehrenwachen und ihr Führer in der Mitte, in nahezu rechtwinkligem Schritt von aller Musik stark unterstützt, verlassen das Regiment und schreiten unbeweglich gegen die Säulen aus"[6] , kann man sich bei der präzisen Beschreibung die Wachablösung am DDR-Mahnmal in der Berliner Straße unter den Linden genau vorstellen. D. h. die Verschmelzung zwischen stalinistischem und preußischem Militärprunk, um den es in dieser Erzählung geht, wird bis zu Wortwahl und Syntax nachvollziehbar gestaltet.

Allerdings führt die Akribie der Beschreibung nie „nur" zu einem naturalistischen Abbild, sondern ist auch immer in einem „un-eigentlichen", in einem anderen Sinne zu verstehen. Zum Beispiel stellt sich die Figur Schott in seinem Roman Schott eine Reihe von Möglichkeiten eines Briefträgers vor, die Post in seinem Haus auszutragen. Etwa so:

Der Briefträger könnte eine Briefträgerin sein. Wäre die Briefträgerin jung, der Mieter ebenfalls, stellte sich der Mieter vor den Sessel der Briefträgerin? Wenn ja, sähe die Briefträgerin, daß die Hose des Mieters offen stünde? Wäre die Briefträgerin alt, der Mieter jung, stellte sich der Mieter vor den Sessel der Briefträgerin? Wenn ja, sähe die Briefträgerin, daß die Hose des Mieters offen stünde? Usw.

Bei dieser längeren Passage -- ich habe nur einen kleinen Auszug zitiert -- geht es auf der einen Seite um sprachliches Spiel und um die Freiheit des Ausdrucks, die hier zelebriert werden. Sie hören es, man hat Spaß an all diesen Varianten eines Briefträgerbesuchs. Aber es geht auch um etwas anderes: Die sprachliche Ablösung des Indikativ durch den Konjunktiv zeigt den Mangel an Wirklichkeit, will sagen, den Mangel an Nähe zu anderen Menschen, auch sprachlich an. Es gibt diese Nähe nur in der Möglichkeitsform. Dem Leser wird klar, daß Schott auf schmerzliche Art allein ist, ohne daß das ausdrücklich gesagt wird.

In besonderen Fällen tendiert die Darstellung sogar zur Allegorie. Man denke nur an die Darstellung von Frau Semper, Schotts Nachbarin im Schottroman oder Awas Mutter in Schädlichs Anders, die mit Frau Semper verwandt zu sein scheint. Es sind Figuren, in denen man die Mutter eines jeden erkennen könnte, eine Urmutter gewissermaßen; mit all ihrer Fürsorge, ihren Ansprüchen und ihrer im Alter aufs Einfachste reduzierten Direktheit, die man sogar als Grobheit oder, schlimmer noch, als Brutalität verstehen könnte.

Ein weiteres Stilmerkmal ist der häufige Gebrauch von verfremdenden Elementen im literarischen Text. Man denke an die für den allgemeinen Geschmack so merkwürdigen Namen. Bei Schädlich heißen die Figuren eben nicht Klaus, Peter oder Monika, sondern Liu, Awa und Bogo z. B., die als Namen konkreter Personen leicht unwirklich wirken, dadurch allerdings auf ihre Allgemeinheit verweisen. Bei Liu wird einem vielleicht zuerst die Namensgleichheit zu der jungen Sklavin in Puccinis Turandot auffallen, die selbst unter der Folter nicht den Namen ihres Herren Preis gibt und dafür getötet wird. Aus einem frühen Manuskript geht aber auch hervor, daß Liu aus dem russischen Wort für ich liebe, „lublju", gebildet wurde. Beide Herkunftsmöglichkeiten des Namens mögen auf tatsächliche Frauen verweisen, denen hier ein Denkmal gesetzt ist, allerdings bleibt das das Geheimnis des Autors. Wichtiger ist, sie repräsentieren die bis zur Selbstaufgabe gehende Liebe der Figur Liu zur Schottfigur, und weitergehend, auf die Reinheit und Selbstlosigkeit weiblicher Liebe.

Seit den siebziger Jahren wird in der Literaturwissenschaft mit dem Begriff der Intertextualität gearbeitet. Dabei geht es zum einen um die Offenheit und den Prozeßcharakter der Literatur, zum anderen aber um das Verhältnis von einem Text zu einem anderen. So sieht zum Beispiel Julia Kristeva den literarischen Text als eine Art Zusammenstellung von Zitaten.[7] Der Intertextualität liegt aber auch das Prinzip des Dialogs über Zeit und Raum hinweg zu Grunde. Schädlichs Texte sind in einem ständigen Dialog mit anderen Texten begriffen, der verschiedene Resultate zeitigt. Um das nur an zwei Beispielen aus seinem Roman Schott zu demonstrieren: So ergibt sich durch den ersten „Dialog" eine durch und durch schwarze Ironie, die Leser schmerzhaft zur Kenntnis nehmen, wenn man z. B. in der Beschreibung der Umgebung des Konzentrationslagers, in dem Liu verbrannt wird, die Worte der Mutter eines der größten deutschen Philosophen des 19. Jahrhunderts, Johanna Schopenhauers wieder erkennt, die in ihrer Autobiographie von der Schönheit des Ausflugs- und Ferienortes Stutthoff erzählte [8], dem fiktiven Todesort der jüdischen Kommissarin der Roten Armee Liu, wie des realen Todesortes so vieler anderer Opfer des nationalsozialistischen Rassenwahns.

Ein zweites Beispiel eröffnet eine rebellische Dimension, wenn man den Rhythmus eines Satzes aus dem Roman Schott, nämlich: "Auf dem Foto, das Du von mir gemacht hast, warst du nicht zu sehen" in Rechnung stellt: Es ist ein Echo auf Rhythmen aus dem Goetheschen Gedicht "Prometheus"(..und meine Hütte, die du nicht gebaut), in dem dieser mit der Figur des gefallenen griechischen Halbgottes gegen die Autorität des Zeus opponiert, der sich einbildet, und mit Stolz einbildet, Menschen nach seinem Gutdünken zu schaffen.

Wichtige Texte von Schädlich scheinen mir nun dieses Prinzip der Intertextualität auf eine neue Stufe gestellt zu haben, eine Stufe, die über das von Kritikern bei Schädlichs Texten festgestellte assoziative Schreibprinzip und über Intertextualität hinausgeht. In Anlehnung an die Computersprache möchte ich in Ermangelung eines besseren Wortes den Arbeitsbegriff Hypertextualität vorschlagen.

Sie alle kennen wahrscheinlich Hypertexte. Also Texte, in denen Wörter oder ganze Sätze mit einen Klick der Computermaus zu anderen Texten, z. B. Erklärungen, Bildern oder Tönen führen. So kann man einen knappen Text schreiben, aber unter der Oberfläche dieses Textes ganze Welten zum Vorschein kommen lassen, die mit dem ursprünglichen Text auf mannigfaltige Weise verbunden sind. Vergleichbares läßt sich an einigen literarischen Texten Schädlichs zeigen. Mir scheint, daß sich bei bestimmten Wörtern und Wendungen Querverbindungen, Links gewissermaßen, zu außertextlichen Welten -- darum Hypertextualität und nicht Intertextualität im ursprünglichen Sinne -- ergeben, die die Bedeutung seiner Texte komplementieren, erweitern und somit bereichern. Allerdings erschließt sich das nicht jedem. Diese neuen Welten kommen nicht auf weiteren Seiten zum Vorschein, sondern sind im geschichtlichen oder ästhetischen Gedächtnis des Lesers zu finden. Im Zweifelsfall muß man auch mal nachschlagen. Insofern sind Schädlichs Texte auch gegen eine schnelle popartige Konsumierbarkeit geschrieben, die heute so verbreitet ist.

Lassen Sie mich das an drei unterschiedlichen Beispielen erläutern. In der Titelgeschichte seines Erzählbandes Ostwestberlin geht ein Herr Schott, allerdings ein anderer als im Roman, während eines Spazierganges am Berliner Kudamm über die Straße, und schaut dabei auf das Kaufhaus Wertheim. „Herr Schott neigte seinen Kopf", heißt es an dieser Stelle. Sehr schnell könnte man das überlesen, und doch ist es ein wichtiger Satz, denn er öffnet ein Fenster auf eine andere Welt, eine Welt vor dem Text, die wiederum Aufschluß über die ansonsten verschlossene Herkunft der Figur, Schott, gibt. Es ist die Welt des Nationalsozialismus und der Judenverfolgung, eine Welt, in der die großen jüdischen Kaufhäuser, wie etwa Wertheim, von den Nazis bekämpft wurden, z. B. in der „Kampfgemeinschaft gegen Warenhaus und Konsumverein". Das Neigen des Kopfes spricht daher von der Scham Schotts über diese Zeit der Judenverfolgungen. Es mag sogar eine persönliche Verbeugung des Autors sein, denn der schon früh verstorbene Vater war ein Vertreter dieser "Kampfgemeinschaft".

Übrigens wer den Roman Anders sorgfältig gelesen hat, wird bemerkt haben, daß der letzte Freund des Erzählers, Awa, von einem ehemaligen Bekannten bei Wertheim gesehen wurde, was die Vermutung nahe legt, daß die Figur Awa etwas mit der Figur Schotts in Ostwestberlin zu tun hat. Ich würde das für ein weiteres Beispiel von Intertextualität halten.

Während der kleine Satz, „er neigte seinen Kopf", eine geschichtliche und persönliche Dimension sichtbar macht, die im Text eigentlich nicht angelegt ist, eröffnet sich durch die Beschreibung des Ortes um den Kudamm, an dem Schott spazierengeht, eine für diese Erzählung gültige ästhetische; auch das ein Beispiel für Hypertextualität. Am Kurfürstendamm 217, z. B. arbeitete Robert Musil von 1931 - 1933 an seinem Roman Der Mann ohne Eigenschaften[9], im Prinzeß-Café, Kurfürstendamm Nr. 16 arbeitete Walter Benjamin vor dem ersten Weltkrieg am Ursprung des deutschen Trauerspiels, in der Nr. 10 befand sich das Romanische Cafe, in dem sich die Bohème, besonders die bildenden Künstler der zwanziger Jahre trafen, und am Kurfürstendamm Nr. 26 war das Café des Westens (vormals Café Größenwahn) angesiedelt, in dem Herwarth Walden seine Zeitschrift Der Sturm entwarf und in dem sich der Aktion-Kreis um Franz Pfempfert und Kurt Hiller traf. Es ist sicher kein Zufall, sondern ästhetischer Vorsatz, daß sich diese unter der Oberfläche des Textes befindliche Hommage an den Expressionismus auch im Stil der Erzählung niederschlägt. Sie knüpft an eine in der DDR unterdrückte und verschüttete Tradition an, oder besser, der Autor zitiert sie, und gibt damit auch ästhetisch zu verstehen, daß Schott im Westen angekommen ist -- die Titelerzählung „Ostwestberlin" steht am Ende der Anthologie, deren Erzählungen insgesamt eine Chronologie des Übergangs von Ost nach West darstellen.

Andere Beispiele von Hypertextualität führen zur Malerei und Musik. Um noch einmal auf Frau Semper zu kommen. Sie ist im Roman Schott durch die Beschreibung mit einem Bild des holländischen Malers Hieronymus Bosch verlinkt. In Schädlichs Text heißt es folgendermaßen:

„Die Weide stünde an einem Tümpel oder an dessen Ufer. [...] Der Weidenstamm wäre von der Wurzel bis zur Höhe gespalten. Das rote Tuch, das von den Ästen der Weide herabhinge, würde von einem Frosch linkshändig zur Seite gezogen, so daß in dem Baumspalt Liu zu sehen wäre. Sie stünde bis zu den Knien im Tümpelwasser, oder beinahe bis zu den Knien, Sie wäre, wie bereits gesagt, nackt. [...] Mit der linken Hand berührte sie den Weidenstamm, mit der rechten Hand berührte sie ihren Schoß. [...] Rechts von dem Frosch, aber etwas hinter ihm, sähe Schott Frau Semper stehen. Der Frosch hielt ihr in seiner rechten Vorderpatsche eine kleine Schale entgegen, die Frau Semper mit Wein, wahrscheinlich mit Wein, füllte. [...] usw.[9]

Schädlichs Beschreibung der Semperfigur -- „semper" heißt übrigens immer -- in Boschs Triptychon „Die Versuchung des heiligen Antonius", verweist noch einmal auf die Zeitlosigkeit Frau Sempers in Schädlichs Roman Schott, verleiht ihr aber auch eine zusätzliche Bedeutung, die in nur Boschs Gemälde sichtbar wird , eine Bedeutung, die, meiner Meinung nach, noch in der Figur der Mutter Awas in Anders mitschwingt. Der Vergleich mit dem Gemälde läßt eine Art Figurenmatrix entstehen, die nun eine junge Frau genau so umfaßt wie eine Hexe.

Ein letztes Beispiel von Hypertextualität in Texten von Hans Joachim Schädlich führt in den Bereich der Musik. Gleich am Anfang des Romans Anders gibt es ein Gespräch zwischen dem Erzähler und seinem Freund Awa. Awa erzählt von dem Anruf eines Mannes, der behauptete, ihn von einem Jahr zurückliegenden Klinikaufenthalt zu kennen. Awa kann sich zuerst nicht auf ihn besinnen. Aber als ihn dieser Mann daran erinnert, daß Awa ihm damals in der Klinik die ersten Takte von Muzio Clementis "Klaviersonate Opus 25, Nummer 5 in fis-Moll" vorgepfiffen hätte, kommt ihm auf einmal sogar die Stimme des Mannes bekannt vor. Man ahnt, daß dieses Musikstück eine besondere Bedeutung für beide Männer gehabt hat. Es mag auf eine andere, eine reine Welt verwiesen und Trost und Heilung versprochen haben -- übrigens eine Funktion, die von Musik auch in weiteren Texten von Schädlich eingenommen wird. Im Nexus von Anders, drückt die abgehobene, melancholische Heiterkeit der ersten Takte musikalisch die Grundstimmung der gesamten Rahmenhandlung des Romans aus: Auf der einen Seite, im Text selbst, die engagierte doch letztlich resignierte, melancholische Suche nach Fällen, in denen sich die Kontinuität von Macht und die Aufgabe von Wahrheit und Integrität durch intellektuelle Eliten widerspiegeln, die zu den ehernen Weltgesetzen zu gehören scheinen. Auf der anderen Seite "hört" man die den Text wie ein Basso continuo begleitende höhere Heiterkeit von Clementis Komposition, jedenfalls die der ersten Takte. Es ist die Heiterkeit dessen, der Trauer und Verzweiflung überwunden hat, der die Welt durchschaut und von der Vergeblichkeit weiß. Bei Clementi klingt das etwa so, und mit dieser Melodie im Kopf erhellt sich eine Dimension des Romans, den der Text allein nicht deutlich werden läßt..

Obwohl Schädlichs literarische Texte immer mehrdimensional zu lesen sind, Hypertextualität und Allegorisierung sind nur zwei Methoden, diese Mehrdimensionalität herzustellen, lassen sich die "Fälle" in Anders und einige andere, wie zum Beispiel der Forschungsbericht „Mechanik" oder die kurze Erzählung „Die Sache mit B."(1992) auch als konkrete Aussagen über konkrete Vorkommnisse verstehen. Der Autor Apitz hat ja tatsächlich die Geschichte des Buchenwaldkindes verfälscht und damit gleichzeitig geholfen, den Gründungsmythos der DDR zu schaffen, genau wie es von Schädlich in seinem Roman Anders dargestellt wurde. Fritz, in dem Bericht „Mechanik" hat tatsächlich existiert, bevor er von den Nazis ermordet wurde, und B. in der "Sache mit B." hat tatsächlich Verrat am Bruder begangen.

Hans Joachim Schädlich ist einer der wenigen Autoren aus der DDR, die nie an der "Epochenillusion" (Domdey) des Sozialismus gehangen und sich auch nie als DDR-Schriftsteller begriffen haben, was ihn aus der „Literaturgesellschaft" (J. R. Becher) im Staat der Arbeiter und Bauern ausgeschlossen, aber vor dem "Dilemma der zu frühen Bindungen und zu späten Abschiede"(Joachim Walther) bewahrt hat. Diese klare Absage an Diktaturen, und nicht nur an die kommunistischen Diktaturen, bestimmt sein gesamtes Schaffen. Wo andere noch an der liederbewegten Lagerfeuerromantik der Diktaturen hängen, sieht Schädlich das kalte und berechnende Verbrechertum. Wo andere noch heute von der Nestwärme in den Nischen und der Authentizität der Freundschaften im "realen Sozialismus" schwärmen, sieht er Verrat. Wo andere nicht aufhören können, von der Liebe zu ihrer Heimat zu sprechen, wenn sie eigentlich die machtbedrohte und machtgeschützte Innerlichkeit der Diktatur meinen, fragt er nach ihren Kosten und Nutznießern. Man lese seine warnenden Stellungnahmen zu den Zusammenschlüssen des deutschen PEN, zur Zusammenlegung der beiden deutschen Kunstakademien und der Debatte zur Stasivergangenheit, und man beachte seine herausgeberische Tätigkeit: Stets hat er sich gegen das Vergessen und gegen ein Zurückgehen zum status quo gewandt. Auch übrigens gegenüber der älteren deutschen Schuld, der Schuld am Holocaust.

Endnoten

1 Hans Joachim Schädlich, "Der andere Blick," Über Dreck, Politik und Literatur (Berlin: Literarisches Colloquium Berlin, Westkreuz-Druckerei, 1992) 112.
2 "Der andere Blick.," Über Dreck, Politik und Literatur 105.
3 Manfred Krug, Abgehauen (Düsseldorf: Econ Verlag, 1996) 211.
4 "Niemand war gezwungen, das zu tun," Interview mit Hans Joachim Schädlich. Gespräch mit Studenten eines Deutschkurses unter der Leitung von Anne Dahl am Deutschen Haus in New York (7. Dezember 1993) Fußnoten zur Literatur Heft 32 (Bamberg: 1995) 25.
5 "Einseitige Ansehung," Versuchte Nähe 93.
6 "Lebenszeichen," Versuchte Nähe 151
7 Julia Kristeva, Probleme der Textstrukturation (Köln: 1972) 245.
8 Johanna Schopenhauer, "Glückliche Tage in Stutthof," Im Wechsel der Zeiten, im Gedränge der Welt (München: Winkler Verlag, 1986) 253-261
9 In den Materialien zu Ostwestberlin findet sich ein Hinweis auf Musils Berliner Adresse. "Vorlaß Hans Joachim Schädlich". Literaturarchiv Marbach. Handschriftenabteilung
10 Hans Joachim Schädlich, Schott (Reinbek: Rowohlt Verlag, 1992)175.