glossen 24


Ingo Schulzes Monumentalroman "Neue Leben": Eine simple Geschichte im neuen Gewand
Christine Cosentino

Wie bringt ein Autor die Wendewirren von 1989/1990, die Zeit gestaltlosen politischen Chaos in the gemäße künstlerische Form? Ingo Schulze, der Autor der erfolgreichen Simple Storys (1998), der im Studium des Sounds der amerikanischen short-story den damals geigneten Ton fand, ordnet sich in der literarischen Gestaltung erzähltechnischer Komponenten gern der Traditon Alfred Döblins zu. Er habe keinen "eigenen 'Sound',"[1], sagt er über sich selbst, denn - Schulze zitiert in einem seiner Essays Döblins Schrift Der Bau des epischen Werks von 1928 - "Produktivkraft" und "Zwangscharakter" seien formal und ideell die Elemente, die den Stil eines Autors prägen. Stil komme "aus dem Stoff."[2] An diese Regel hält sich Schulze auch in seinem neuesten Werk, das erst kürzlich, sieben Jahre nach den Simple Storys, erschien. Das unübersichtlich Übermächtige im Überrollen des Ostens durch den Westen im Jahre 1990 vermittelt Ingo Schulze im Jahre 2005 in einem kompakten Briefroman-Konvolut, das dieses künstlerische Kompositionsprinzip der Stilprägung bereits im barock anmutenden Titel/Untertitel spiegelt: Neue Leben. Die Jugend Enrico Türmers in Briefen und Prosa. Herausgegeben, kommentiert und mit einem Vorwort versehen von Ingo Schulze [3]. Ganz im Sinne Döblinscher, aber auch Schulzescher Stilprägung bezeichnet ein Kritiker den Roman durchaus treffend als ein "Dokument der Stotterkunst", denn "er drückt die Wende nicht aus, er ist ihr unmittelbares literarisches Erzeugnis."[4]

Was auf den Leser zukommt, ist ein Wust von Briefen mit gebrochenen Erzählperspektiven und verschwimmender Autorschaft. In ihnen gestaltet sich das Leben eines "Helden" in einem rückschauenden oder gegenwärtigen Ineinander und Nebeneinander von sporadischen historischen Entwicklungen mit Umwegen, Scheidewegen und Irrwegen in einem Labyrinth, in dem man leicht vom rechten Weg abkommt. Kaum überraschend mäandert dann auch der Teufel in verschiedenen Maskierungen durch den Text. Von Anfang bis Ende der Handlung fühlt der Leser sich der magischen Sphäre bellender, verwahrloster oder auch freundlicher Hunde ausgesetzt. Deutlich, aber auch weniger deutlich - erst auf den zweiten oder dritten Blick identifizierbar - erkennt man des Pudels Kern im Textgefüge: die Lehre über die Verführungskraft des Geldes. Entsprechend hat der Teufel auch das letzte Wort, denn es geht um Blindsein und Verblendungen, um Sehen und neue Täuschungen, kurz, um das Annehmen noch unbekannter kapitalistischer Werte. Der Roman signalisiert die Ankunft des Ostdeutschen im trügerischen goldenen Westen. Schält man die komplexe Geschichte aus ihren zahlreichen ironisch distanzierenden Verhüllungen, so handelt es sich letztlich jedoch wieder um ganz Gewöhnliches unter neuen ökonomischen Bedingungen, kurz, wiederum um eine "simple story" mit neuem Sound, komponiert auf der Folie von: "Nach Golde drängt/ Am Golde hängt doch alles. Ach, wir Armen!" Zu recht behauptet ein Kritiker: "Was verwirrend, verschroben und sperrig wirkt, erzählt eine im Grunde einfache Geschichte."[5] Es geht um die Wandlung und Neuprofilierung einer ironisch schillernden DDR-Faust-Figur, um einen Phantasten, der viele menschlich-allzumenschliche Schwächen und falsche Ambitionen hat, der aber auch wagemutig ist und die günstige Gelegenheit beim Schopfe ergreift. Mit viel Glück macht er geschäftliche Karriere. Der neue Glücksbegriff jedoch ist fragwürdig. Der von Erfolg Gekrönte trägt den vielsagenden Namen Enrico Türmer, später Heinrich Türmer, und, in der Tat, versteht er es, in dem Moment zu "türmen", als seine auf Betrügereien gründende Karriere ein Ende findet. Wenig faustische Größe haftet diesem Aufsteiger an, faustischen Versuchungen jedoch ist er erlegen.

Die überfrachtete zwielichtige Struktur des Romans erinnert - das Feuilleton wies darauf hin - an ein kompositorisches "Chamäleon"[6]. Entsprechend wartete die Rezeption mit einer Fülle verschiedenster kategorisierender Etikette auf, die sich widersprachen, im Widerspruch aber auch komplementierten. Vom "definitiven Wenderoman"[7] war die Rede, von einem "Historiengemälde aus strikt ostdeutscher Sicht"[8], einem "Schelmenroman"[9] , einem "ironisch-burlesken Wiedervereinigungsroman mit Zügen von Bildungs- und Entwicklungsroman"[10], einem "Künstlerroman"[11] und vom Offensichtlichsten: einem Briefroman. Hinzu kamen Hinweise auf Motive, Versatzstücke, Zitatmontagen und Figuren-Folien aus der literarischen Tradition, die im Text-Dschungel integriert sind und im Zusammenspiel Eindeutiges hintertreiben und hinterfragen. Goethes Faust dominiert, im besonderen im Auftreten eines modernen allwissenden Mephisto, des hinkenden westlichen Unternehmensberaters Clemens von Barrista. Auch Verweise auf Wilhelm Meister sind erkennbar. Dazu kommen Anspielungen aus der romantischen Tradition: man könnte an verschiedene Grimmsche Märchen denken, an die Lebens-Ansichten des Katers Murr von E.T.A. Hoffmann oder auch an Chamissos Erzählung über Peter Schlemihls wundersame Geschichte; last but not least, erinnert die schillernde Verquickung verschiedener Sprechperspektiven an die Erzählkonstruktion von Thomas Manns Roman Doktor Faustus.

Kurz sei die Handlung zusammengefaßt: Enrico Türmer wird Anfang der sechziger Jahre in Dresden geboren und verbringt dort Kindheit und Jugendjahre. Der Mut zur öffentlichen Opposition - er plante beispielsweise, einen Anti-DDR-Vortrag in der Schule zu halten - fehlt ihm; dafür entscheidet er sich, Schriftsteller zu werden und gegen den Staat zu schreiben. So wird er zum Autor, der zwar nichts veröffentlichen darf, trotzdem aber seinem Lieblingsgedanken und Lebenstraum frönen kann, ein regimekritischer Schriftsteller zu sein, der irgendwann einmal von den Machthabern in den Westen abgeschoben wird. Er wird in die Volksarmee eingezogen, studiert in Jena Philologie und erhält dann eine Stellung als Dramaturg am Altenburger Theater. Als die Mauer fällt, weiß er, daß er sein politisches Thema verloren hat. Er wird krank und entsagt der Kunst des Schreiben, "weil", so erkennt er, "mein Ich zerbrochen war. Mich gab es nicht mehr." (NL 587) Von der zerstrittenen Dissidentenszene, primär dem Neuen Forum, wendet er sich bald ab. Schreiben widmet er jetzt dem Journalismus: er gründet 1990 eine Zeitung in Altenburg, die - anfangs noch demokratisch orientiert - unter dem Einfluß der geschäftstüchtigen Mephisto-Figur, Clemens von Barrista, letztlich zum kommerziellen Anzeigenblatt mutiert, in dem es um Profit allein geht. Enrico Türmer hat einen Identitätswandel durchgemacht, ist kapitalistischer Geschäftsmann geworden, nachdem ihn - und das auf erzähltechnisch verschlungene Weise - die Frage gequält hat: "Auf welche Art und Weise kam der Westen in meinen Kopf? Und was hat er da angerichtet?" (NL 131) Lesern, die in den Erlebnissen der fiktiven Figur Enrico Türmer biographische Daten aus Schulzes eigenem Leben erkennen, bietet sich ein pikanter Lesegenuß, denn in den mannigfachen ironischen Brechungen der Sprechperspektiven wird authentisch Erlebtes und Beobachtetes neu reflektiert. Aber es wird unscharf, es verschwimmt, wird belächelt und mit einem Fragezeichen versehen. Wie manifestiert sich das Spiel mit den Identitäten erzähltechnisch in einem Textgefüge, das vom Geist der Wendewirren getragen ist?
Der Roman ist ein Briefroman, ein Genre, das Unmittelbarkeit der Aussage erwarten läßt: in persönlich adressierten Selbstzeugnissen oder Mitteilungen geht es um Erlebtes, um Geständnisse oder "Beichten". Die Briefe sind Rückblicke, oder sie sind dem sich entwickelnden Gegenwärtigen gewidmet. Zeitlich und thematisch blendet der letzte Brief in den allerersten ein, was dem Romangefüge die Form eines Kreises gibt. Und diese Struktur ist von Bedeutung, denn sie führt zum Ausgangspunkt der Handlung zurück und spiegelt in der Kontrastierung zweier inhaltlich ähnlicher Briefe fortwährende oder veränderte Verhaltensweisen wider. Der Kreis beleuchtet Fehlentscheidungen und Irrtümer einzelner Figuren; in ihm eingeschlossen sind die geraden und krummen Wege, Irrwege, Kreuzwege und Scheidewege, auf denen sich der Handlungsträger befindet. Das Auftreten von Varianten in den beiden ineinandergleitenden Briefen, den ersten und den letzten, sagt Aufschlußreiches über das "Sehen" des Sprechers auf seinem Lebensweg aus. Erreicht er eine höhere Stufe von Bewußtheit, vollzieht sich in ihm ein Sinneswandel, oder dauert der Zustand der Verblendung fort? Somit fungiert der Kreis im Romangefüge als wichtiges Strukturelement, aber er ist ebenfalls ein Motiv. Kreisförmige Wege können auf Unfreiheit oder Fehlverhalten deuten; darüber hinaus weist das Motiv auf die Einkreisung des Menschen durch gesellschaftliche Verhältnisse und auf Ausgeliefertsein; es löst letztlich die Frage aus, ob der Handlungsträger aus dem Kreis ausbrechen kann.[12] Und da man bereits weiß, daß der Teufel in der Handlung sein Unwesen treibt, ist das symbolische Auftauchen von Hunden im ersten und letzten Brief ein geschickter Kunstgriff. Im Textkonvolut heißt es einmal - fast unauffällig - daß dem "höllischen" Hund Astrid, Barristas ständigem Begleiter, eine besondere Bedeutung zukomme: "Sein Schicksal sollte die Rahmenhandlung bilden." (NL 83) Wie nun drücken sich die Verschlingungen der Ereignisse erzähltechnisch in diesem kreisförmigen Textlabyrinth aus? Warum verlieren der Handlungsträger und der Leser so häufig den Orientierungssinn?

Es bedarf keiner großen Interpretationsakrobatik zu erkennen, daß der Autor Ingo Schulze verschmitzt mit der Zahl "Drei" spielt, die ein breites Spektrum religiöser, folkloristischer, mythologischer oder literarischer Symbolik aufweist. Die Zahl Drei ist bekanntlich als magische Glückszahl überliefert. Auch der philosophische Apparat weist auf Wachstum, Dialektik und vorwärts gerichtete Bewegung, die eine Dualität überwindet. Das würde im Roman auf eine Synthese, ein Zusammenwachsen deuten, wären da nicht auch Assoziationen mit Dämonischem oder dem Teufel, denn bekanntlich muß ja auch Mephisto dreimal anklopfen, um in Fausts Studierzimmer eintreten zu können. Und so wird der Leser gleich zu Anfang der Handlung in ein Verwirrspiel hineingezogen, in dem der echte, reale Autor Ingo Schulze zur fiktiven Figur wird. In in einem "Vorwort" und einer "Editorischen Notiz" stellt sich ein gewisser Ingo Schulze, ein Schriftsteller, als Herausgeber vor. Er ist auf der Suche nach einem Romanstoff über deutsche Geschäftsleute und stößt auf die Briefe Enrico Türmers, den er aus seiner Schulzeit in Dresden kennt. Dieser Türmer, der sich in der DDR selbst zum Schriftsteller stilisierte, hinterließ - nachdem er 1997/98 vor Steuerfahndern "getürmt" war - eine Sammlung von Briefen, einen Band Kurzprosa und Manuskripte. In diesen Dokumenten zeichnet sich ein Leben mit drei Fluchtformen ab: Flucht aus dem DDR-Alltag in die Boheme der Kunst, Flucht in die Wirtschaft während des politischen Umbruchs, Flucht aus der Wirtschaft ins Unbekannte, denn der Roman hat ein offenes Ende. Der fiktive Herausgeber Schulze beschäftigt sich mit den Briefen und erkennt: "Ich las einen Roman." (NL 9) Er steht zwar der Figur Türmers - so bekennt er in seinem "Vorwort" - mit "Widerwillen" gegenüber, ediert aber diesen "Briefroman" und versieht ihn mit erklärenden, teilweise sinnvollen, teilweise geschwätzig-gehässigen Fußnoten sowie mit einem "Anhang". Dieser "Anhang" enthält die Türmerschen Schreibversuche. So ist der fiktive Herausgeber Ingo Schulze im Textgefüge der Türmerschen Briefe auf aufdringliche Weise überall und immer anwesend; trauen kann man ihm jedoch wegen seines Übereifers und seiner Vorurteile wenig. Sein ständiges Sich-Einmischen verwirrt den Leser, blendet ihn, kann sogar den Gedanken auslösen, daß man es nicht mit einem fiktiven Herausgeber, sondern eher mit dem fiktiven Verfasser der Briefe selbst zu tun hat. Auch Türmer, der dritte Autor und Handlungsträger, liebäugelt in seinen Briefen mit der Kunst des "Briefroman-Schreibens": "Ich weiß nicht mehr, welcher Brief es gewesen ist," schreibt er. "Doch die Überzeugung, an einem Briefroman zu schreiben, besaß ich schon nach wenigen Tagen." (NL 338)
Erinnert man sich, daß gewisse biographische Daten aus dem Leben sowohl des echten Ingo Schulze als auch des fiktiven Herausgebers in den Lebensbericht des Enrico Türmer eingebaut sind, so ist es auch hier wieder die verteufelte Zahl "Drei", die das Unstete und Ungewisse der Wendezeit suggeriert: denn - seinem Enrico Türmer ähnlich - hatte ja auch der Autor Schulze selbst der Kunst entsagt, um "eine knapp dreijährige Geschäftsführerschaft in einem Zeitungsverlag mit zwanzig Angestellten" [13] auszuüben. Drei Briefroman-Schreiber mit ählichen geschäftlichen Ambitionen haben folglich - wie auch immer temporär - in dem Werk Neue Leben ihre Hand im Wendewirrenspiel: der Über-Autor Schulze, der fiktive Herausgeber Schulze und die Romanfigur Enrico Türmer. Die Vorlage für diese "dreieinige Variante"[14], die sich in den verschiedenen Brechungen spiegelt, sieht der Kritiker Marius Meller in Thomas Manns Spätwerk Doktor Faustus.

Geschrieben sind die Briefe in der Zeit vom 6. Januar 1990 bis zum 11. Juli 1990. Wer sind die Adressaten? Kaum überraschend begegnet der Leser wieder einem Trio, drei Empfängern, die sich zu den einzelnen Briefen nicht äußern, d.h. daher ja wohl, daß sie als dreifach gebrochene Projektionsflächen der Türmerschen Erlebnisse bzw. Gedankenflüge dienen. Dreizehn der 82 Briefe sind an Türmers inzestiös geliebte Schwester Vera Barakat-Türmer gerichtet und beinhalten hauptsächlich Familienangelegenheiten. Der Rest - fast gleichmäßig verteilt - geht an die westliche Fotographin Nicoletta Hansen, für die Türmer schwärmt, und an den Jugendfreund Johannes Ziehlke. Etwa zwanzig der Briefe an Nicoletta sind auf der Rückseite alter, von Türmer verfaßter Manuskripte geschrieben, Ausdruck seiner Schriftstellerambitionen. Die Briefe an Nicoletta - von Türmer häufig als "Beichte" über seinen dramatisch erlebten Abschied von der Kunst bezeichnet - erzählen rückblendend seine Lebensgeschichte bis zur Wende. Die Briefe an Johannes, die den politischen und ökonomischen Entwicklungen im Osten gewidmet sind, setzen zeitmäßig dort ein, wo die Briefe an Nicoletta enden. In ihnen erfährt der Leser über das emsige Treiben des Geschäftsberaters Barrista, der dem Zeitungsteam um Enrico die Versuchungen des Kapitalismus schmackhaft macht. Verwirrend für den Leser ist das ständige zeitliche Vorwärts- und Rückwärtspendeln der Briefe in der kurzen Erzählzeit von nur etwa einem halben Jahr.

Drei Motive bzw. Bildgefüge, die geschickt miteinander verzahnt sind, seien an dieser Stelle genannt. Ins Auge springt das häufige Erwähnen von Hunden, von dem bereits die Rede war. Weniger offensichtlich, erst beim zweiten oder dritten Lesen des Romans bemerkbar, ist das Erwähnen der Farbe "weiß", deren breitangelegter Symbolkontext auf Undifferenziertes, aber auch auf die Kontraste von Tod und Wiedergeburt, also einen Neubeginn weisen kann.[15] Assoziierbar ist dieses Motiv mit dem "weißen Fleck" auf einer Landkarte, der "terra incognita" von etwas Unbekanntem, Fremdem, vor dem man sich fürchtet, dem man sich aber auch stellen kann. Auf die Marktwirtschaft bezüglich könnte im Erwähnen des Namens von "Dr. Weiß" ein solcher Verweis liegen. In einem Brief an Nicoletta vom 30.3.1990 taucht dieses Sinnbild ebenfalls auf, weist aber auf Orientierungslosigkeit und Monotonie im realen Sozialismus: "Denken Sie an die Wanderkarte vor einem Ausflugslokal, auf der mit rotem Punkt Ihr Standort markiert ist, bis ihn die unzähligen Fingerkuppen, die Tag für Tag darauf tippen, auslöschen. Mit den Jahren frißt sich der weiße Fleck in die Umgebung, verschwinden Sehenswürdigkeiten und Aussichtspunkte, ein Dorf, eine Stadt, alles nur eine Frage des Maßstabs." (NL 195) In das Motivfeld des "weißen Flecks" greift das Bildgefüge von Blindsein, Blenden, Verblendetsein, aber auch von Sehen. Wie und wo sind diese Motive in den Text eingewebt? Erhellen sie eine Aussage oder tragen sie vielmehr zu Zwielichtigkeit und Unschärfen im Romangefüge bei?

In der Menge der Briefe stechen drei hervor, denn sie umkreisen per Assoziation das Thema einer Neuprofilierung. Der erste Brief des Romans vom 6.1.1990, der an die Schwester Vera gerichtet ist, setzt den Ton: es geht um Verblendung und Änderung der Sichtweise. Der Brief gibt eine Art Vorschau auf die Ereignisse, die sich in der folgenden Handlung entwickeln werden. Türmer berichtet, wie er mit seiner damaligen Lebensgefährtin Michaela und deren Sohn Robert einen Ausflug in die Winterlandschaft macht. Er weigert sich, mit den beiden auf einem zugeforenen Teich zu schlittern. "Da hörte ich meinen Namen, wandte mich um - etwas traf mich ins Auge. Es brannte höllisch. Ich sah nichts mehr." (NL 13-14) Ein verwahrloster Hund - ein Vorbote aus der Hölle? - rast auf die Gruppe zu und macht wilde Sprünge, läßt sich aber von Türmer beruhigen. Dieser glaubt, verletzt zu sein, sieht nicht klar, wird aber vom Arzt, Dr. Weiß, beruhigt: "So schnell verliert man kein Auge ...[NL 14] ... Nur ein geplatztes Äderchen. Sonst ist da nichts!" (NL 15) Türmer - hat sich sein Sehvermögen oder seine Sichtweise verändert? - gewöhnt sich schnell an den neuen Zustand unscharfen Sehens und notiert: "Mittlerweile tut es nicht mal mehr weh." (NL 15) Im folgenden Monat - "Es war wie verhext" (NL 81) - nimmt das im ersten Brief angedeutete Teuflische Kontur an, denn es riecht in seinem Büro nach "nassem Hund" (NL 81). Wo ein Hund ist, ist Mephisto nicht fern, und Türmer macht die Bekanntschaft Barristas, der mit dem Wolfshund Astrid eintritt: "Die Augen schmerzten." (NL 82) Hier beginnt die Geschäftskarriere Türmers.

Einige Monate später, in einem zweiten rückblickenden Brief an Nicoletta vom 4.7.1990, wird der Wandlungsprozeß als traumhaft erlebte Krisensituation geschildert. Schlafwandlerisch bewegt sich Türmer auf einen Kreuzweg zu: "Ich wollte endlich wissen, wer ich war." (NL 609) Wieder hört er Hundegebell, sieht zwei Lichtpunkte auf sich zukommen: "Bald tauchte hinter dem ersten ein zweites Paar leuchtender Augen auf, dann ein drittes, ein viertes. ... Plötzlich war alles eins: geblendet verbarg ich die Augen." (NL 610) Im allerletzten Brief des Romans vom 11.7.1990, dem dritten Wandlungsbericht also, der ja in den ersten zurückgleitet, erzählt er diesmal Nicoletta von dem Winterspaziergang, mit dem der Roman begann. Sechs Monate sind vergangen, und in der Erinnerung gestaltet sich das damals Erlebte etwas anders. Wieder trifft ihn ein Schneeball ins Auge: "Es [tat] so höllisch weh, als habe ein Steinchen oder Splitter mein Auge verletzt. Ich sah nichts mehr und befürchtete das Schlimmste." (NL 655) Wieder hört er das Bellen der Hunde, und dann kommt auch der kläffende große Hund, der sich von ihm kraulen läßt. Nach Meinung der Kritikerin Verena Auffermann ist der dämonische Hund jetzt allerdings zum netten Tier geschrumpft: "Der Dämon ist vom Feigling gezähmt."[16]

Aber lesen wir da richtig? Im Krankenhaus wird ihm "fast mit Gewalt das rechte Auge" geöffnet (NL 657), und er sieht "das freundliche Gesicht von Dr. Weiß, das ich als erstes wieder mit beiden Augen erblickte." (NL 657) Türmer hat sich in der Tat von der Literatur befreit und widmet sich dem geschäftlichen Neuen. Er gibt vor, "leicht, befreit und glücklich" (NL 656) zu sein und klar zu sehen zu können. Die Zukunft scheint vorgezeichnet und unter Kontrolle zu sein. Oder täuscht er/man sich hier wieder? Enthält der so gewöhnliche, scheinbar unverfängliche Name "Dr. Weiß" auf subtile Weise auch noch eine symbolische Komponente? Deutet sich in diesem Namen das Befremdliche, das unstete Auf und Ab der kapitalistischen Marktwirtschaft an, ein "weißer Fleck" des Unbekannten? Und wo ist der "befreite" Heinrich Türmer?

Die im "Vorwort" zitierten Daten des nicht sehr zuverlässigen Herausgebers geben keine eindeutige Antwort, weisen auf ein Nirgendwo und lassen offen, wo Türmer sich aufhält, ob er bereits wieder an einem neuen Einstieg in die Wirtschaft bastelt, oder ob er sich vielmehr noch einmal dem Schriftstellerberuf widmen will. Einige Daten sind an dieser Stelle von Interesse. Der Roman Neue Leben des echten, also Über-Autors Ingo Schulze wurde im Jahre 2005 veröffentlicht. Laut "Vorwort" im Roman begann der fiktive Herausgeber Schulze "vor sieben Jahren Material über deutsche Geschäftsleute zu sammeln." (NL 7) Das führt den Leser in das Jahr 1998, ungefähr in die Zeit, wo die Gläubiger und Steurfahnder vor der Tür standen (1997/98). In seinem letzten Brief an Nicoletta vom 11.7.1990 verkündet Türmer, daß "einer Reise nach Rom nichts im Weg" stünde. (NL 657) Es ist allerdings fraglich, ob er in Italien wirklich in die Liebe geflüchtet ist, denn Nicoletta hatte ihr Verhältnis zu Türmer - so berichtet der Herausgeber im "Vorwort" (NL 11) - 1995 bereits wieder gelöst. Der "weiße Fleck" des Unbekannten, Undifferenzierten in der neuen Gesellschaftsform gewinnt mit dem offenen Ende des Türmerschen Lebensweges erneut an Kontur. Auf dieser Folie verdient die Verklammerung von autobiographischen und fiktiven Komponenten Beachtung. Überschneidungen sind offensichtlich, entziehen sich aber durch die dreifache Brechung der Identiäten einem jeglichen Zugriff.

Der komplexe, windungsreiche Roman schildert die alles verändernden Wendejahre mit ihren ökonomischen Möglichkeiten, den Versuchungen und dem Blendenden. All diesem befremdlich Neuen war der Autor Schulze genauso ausgesetzt wie viele der anderen Ostdeutschen, die sich neu profilieren mußten. Das Schreiben ließ er temporär hinter sich und als frischgebackener Geschäftsmann flog er 1993 nach St. Petersburg. Dazu äußert er sich in seinem Essay "Lesen und Schreiben" unumwunden und pragmatisch: "Was ich an Marktwirtschaft in den letzten Jahren gelernt hatte, lehrte ich jetzt und verdiente dabei das Hundertfache, was einheimische Freunde und Mitarbeiter erhielten. Vor diesem Hintergrund - drei Jahre zuvor waren die Unterschiede unbedeutend gewesen - hatte man kaum die Möglichkeit, etwas nicht falsch zu machen."[17] Die Schulzesche literarische Hauptfigur des Romans, Enrico Türmer, die sich dem Markt verkauft, faßt es nüchterner: "Was, zum Teufel, ist daran so schlimm?!" (NL 609) Einige Jahre später hatte sich der Autor Schulze jedoch wieder dem Schriftstellerberuf zugewandt, lebte von der Veröffentlichung seiner Bücher und - wo sich Publikationspausen ergaben - von Stipendien und Preisen. Hier ging es also um eine Rückverwandlung unter neuen Bedingungen. Auf dieser Folie sollte man nun im Roman selbst, diesem Werk ineinander gleitender Metamorphosen, den Humor nicht unterschätzen, denn fast scheint es, als lache der Autor Schulze im nachhinein über sich selbst. Der Roman mit seinen vielen Brechungen ist von Anfang bis Ende von Ironie durchwirkt, die - als Sonderform des Komischen - "subversiv ist, und gerade nicht ihren Frieden mit der Wirklichkeit schließt."[18] Das Eigentümliche der Ironie ist, daß sie sich einer Maske bedient, "die zu täuschenden Verhüllungen jeder Art Dienste leisten kann."[19] Die beiden Zitate sind dem Bande Luzifer lacht (1993) entnommen, und welche Maske ist bei der kritischen Durchleuchtung des Blendenden und Giftigen geeigneter als die des höflichen, netten, immer heiteren, mit einer Unmenge von Körperdefekten ausgestatteten modernen Mephisto Clemens von Barrista? Doch man kann leicht in Teufels Küche geraten, läßt man sich von den freundlichen Glupschaugen dieses gewieften Investmentteufels täuschen. Ironie ist in ihrem Wirken unversöhnlich, aber auch heiter, humorig, reizt zum Lachen. Friedrich Nietzsches Aphorismus "Vorsicht: Gift!" wäre für die Lektüre des Schulzeschen Monumentalromans als geignete Leseanleitung zu empfehlen: "Wer hier nicht lachen kann, soll hier nicht lesen!/ Denn, lacht er nicht, packt ihn 'das böse Wesen'."[20]


Endnoten

1 "Falsches Lob ist kein Vergnügen. Hohe Erwartungen sind immer noch besser als keine: ein Gespräch mit Ingo Schulze," FAZ 16. Oktober 2005.
2 Ingo Schulze, "Lesen und Schreiben," in: Zuerst bin ich immer der Leser. Prosa schreiben heute, hrsg. v. Ute-Christine Krupp und Ulrike Janssen (Frankfurt/M.: edition suhrkamp, 2000) 94.
3 Ingo Schulze, Neue Leben. Die Jugend Enrico Türmers in Briefen und Prosa. Herausgegeben, kommentiert und mit einem Vorwort versehen von Ingo Schulze (Berlin: Berlin Verlag, 2005). Seitenzahlen daraus im Text der Arbeit mit den Siglen NL angegeben.
4 Iris Radisch, "Die 2-Sterne-Revolution. Ingo Schulzes groß angelegter Briefroman 'Neue Leben' ist der beste aller schlechten Romane über die deutsche Wiedervereinigung," Die Zeit (Sonderbeilage) 0ktober 2005.
5 Richard Kämmerlings, "Enrico Türmers unternehmerische Sendung. Krötensammeln will gelernt sein: Ingo Schulze und die weniger simplen Seiten der Wiedervereinigung," FAZ 19. Oktober 2005.
6 Ursula März, "Was will Enrico Türmer? Endlich zurück: Ingo Schulze bezaubert mit einem Briefroman über die deutsch-deutsche Wende," Frankfurter Rundschau 19. Oktober 2005.
7 Ursula März, "Was will Enrico Türmer? ..."
8 Wolfgang Höbel, "Der ganz normale Wahnsinn," Der Spiegel 10. Oktober 2005.
9 Verena Auffermann, "Wie kommt der Westen in den Kopf?" Literaturen November 2005.
10 Ariane Thomalla, Neue Leben," arte; http://www.arte-tv.com/de/Printing/4982, CmC=1008624,CmStyle=265362.html
11 Elmar Krekeler, "Enrico, mir graut vor Dir! Nachrichten aus einem Niemandsjahr der deutschen Geschichte: Ingo Schulze schreibt den großen historischen Roman über die Wende," Die Welt 17. Oktober 2005.
12 Horst S. und Ingrid Dämmrich, Themen und Motive in der Literatur (Tübingen: Francke, 1987). Stichwort "Weg" und "Kreis".
13 Ingo Schulze, "Lesen und Schreiben," 90.
14 Marius Meller, "Der höfliche Teufel. Abschied vom Faustischen: Ingo Schulzes Wende-Roman 'Neue Leben'," Der Tagesspiegel 19. Oktober 2005.
15 J.C. Cooper, Lexikon der traditionellen Symbole (Leipzig: Seemann Verlag, 1986), Stichwort "weiß."
16 Verena Auffermann, "Wie kommt der Westen in den Kopf?"
17 Ingo Schulze, "Lesen und Schreiben," 90-91.
18 "'Das Lachen ist die kleine Theodizee', Odo Marquard im Gespräch mit Steffen Dietzsch," in: Luzifer lacht. Philosophische Betrachtungen von Nietzsche bis Tabori, hrsg. v. Steffen Dietzsch (Leipzig: Reclam, 1993) 17.
19 Friedrich Georg Jünger, "Über das Komische: Die Ironie," in: Luzifer lacht, 82.
20 Friedrich Nietzsche, "Vorsicht: Gift!," in: Nietzsches Werke in zwei Bänden, hrsg. v. Gerhard Stenzel, Bd. 1 (Salzburg: Bergland Verlag, 1952) 249.