glossen 24


"Jede Fusion hat ihre Verlierer". Über Popliteratur, Mauerfall und die politische Lethargie der Generation Golf
Roger Fornoff

I.
Der 2001 erschienene Roman Herr Lehmann von Sven Regener war einer der größten und zugleich überraschendsten literarischen Erfolge der letzten Jahre in Deutschland. Regener, der Öffentlichkeit bis dahin nur als Sänger und Texter der deutschsprachigen Popband "Element of Crime" bekannt, wurde mit diesem Buch zum literarischen Star und Diagnostiker einer ganzen Generation. Auf den ersten Blick mag dieser Erfolg erstaunen, denn der Roman besteht aus nicht mehr als einer Reihe belangloser Episoden aus dem Leben des nicht minder belanglosen Romanhelden Herr Lehmann, eines knapp 30jährigen, „bis ins Mark ambitions- und leidenschaftslosen Bierzapfers", der „durch jahrelange Ausweichmanöver und heroische Trägheit"[1] erfolgreich den gesellschaftlichen Forderungen nach beruflichem Erfolg und familiärer Verantwortung ausgewichen ist. Herr Lehmann, eine -- wenn man zu hochliterarischen Vergleichen greifen möchte -- „sympathische Oblomow-Gestalt"[2] (Tilmann Spreckelsen) oder auch ein bundesrepublikanischer „Taugenichts, den jedoch keine antibürgerliche Erlösungssehnsucht" treibt, „sondern die Hoffnung der morgige Tag möge ungefähr so sein wie der gerade vergangene"[3] (Reinhard Mohr) -- dieser Herr Lehmann also erlebt eine groteske Begegnung mit einem unförmigen Hund, eine kleine unglückliche Liebesgeschichte mit der schönen, etwas fülligen Köchin Katrin, den Besuch seiner Spießer-Eltern aus der norddeutschen Provinz und den Nervenzusammenbruch seines besten Freundes. Der Rest ist Kneipenphilosophie und besteht aus bierseligen nächtlichen Gesprächen über Nichtigkeiten, wie etwa der Frage, ob die Zeit in betrunkenem Zustand nun schneller oder langsamer verläuft.

Dies alles erscheint wenig spektakulär und irgendwie harmlos und ist es in der Tat auch. Nicht zu unrecht hat der Kritiker der tageszeitung Gerrit Bartels daher von einem „flauschigen" und „behaglichen" Buch gesprochen, einem Stück Wohlfühlliteratur, „das uns ganz sanft mitnimmt, bis wir, huch, schon auf der letzten Seite angekommen sind."[4] Was so einfach und unspektakulär und eben flauschig daherkommt, ist aber -- das wird bei genauerem Hinsehen recht schnell deutlich -- vor allem eines: gut gemacht, denn Herr Lehmann kombiniert ganz unmerklich mindestens vier populäre literarische Genres, von denen bereits jedes einzelne für sich gesehen gesellschaftliche Relevanz und ein breites Publikumsinteresse zu beanspruchen vermag.

Herr Lehmann ist erstens ein Berlin-Roman, denn der Ort der Handlung ist Berlin-Kreuzberg SO36; hier in der alternativen Szene zwischen Mehringdamm und Kottbusser Tor lebt Herr Lehmann in einem alkoholgestützten Mikrokosmos, für dessen Bewohner schon das angrenzende Kreuzberg 61 befremdendes Ausland, Charlottenburg und der Kurfürstendamm aber eine gänzlich andere Welt darstellen. Von daher ist Herr Lehmann nicht eigentlich ein Großstadt-, sondern ein moderner Heimatroman,[5] in dem Berlin-Kreuzberg als weltabgeschnittene Biedermeier-Provinz „voller Philosophen, Künstler, Biertrinker, Heteros, Schwuler und anderer Lebenskünstler" erscheint, die in einer Art subkulturellem Konservatismus ihre zur Pose erstarrte Bohèmeexistenz gegen Störungen und Veränderungen jeder Art zu behaupten suchen.

Herr Lehmann ist zweitens ein Pop-Roman, denn nicht nur, daß er -- unter souveräner Mißachtung hochkulturell-literarischer Muster -- die üblichen literaturkritischen Register der Unterscheidung von E und U, ernsthafter und bloßer Unterhaltungsliteratur, unterläuft, er fokussiert zudem eine Lebens- und Diskursrealität, eben die Welt der Hänger, Loser und Karriere-Verweigerer in Berlin-Kreuzberg, die bis dahin noch kaum literarisch erschlossen und damit nur sehr bedingt Eingang ins kulturelle Gedächtnis gefunden hatte. Auf diese Weise erweist sich der Roman als eine Art Archivierungsmaschine -- nach Moritz Baßler das Hauptkriterium von Pop-Literatur[6] --, die bis dahin profane, d.h. als wertlos, irrelevant und vergänglich erachtete kulturelle Gegenstände und Sprachspiele in den valorisierten Raum des kulturellen Archivs hebt und diese so als von nun an erhaltenswerte und repräsentative kulturelle Muster nobilitiert. Schlagend in diesem Zusammenhang ist etwa der in Herr Lehmann geschilderte Kreuzberger Kulturkampf um die Frage, ob Schultheiß´ oder Becks-Bier besser oder Flaschenbier dem gezapften vorzuziehen ist. Wenn dann -- anläßlich der Verfilmung von Herr Lehmann (2003) -- Sven Regener und Leander Haußmann, der Regisseur des Films, eben diese Frage -- Flaschenbier oder gezapftes -- als schwerwiegendes Kulturproblem verhandeln, dann ist das natürlich Pop und damit beides: Subversion des Hochkulturellen und Innovation des kulturellen Gedächtnisses bzw. Nobilitierung des vermeintlich kulturell Wertlosen:

„SVEN REGENER: Ich bin mehr für Flasche. Bei Fassbier weiß man nie. Außerdem dauert es länger. LEANDER HAUßMANN: Ich gehe doch nicht in die Kneipe, um ein Flaschenbier zu trinken. Ein gut gezapftes Fassbier - das hat was mit Kultur zu tun. SVEN REGENER: Das ist Unsinn. Kultur ist ohnehin zum Kampfbegriff der Reaktion geworden."[7]

Herr Lehmann ist drittens ein Generations-Roman, denn der Held, besagter Herr Lehmann, ist -- vor allem von Lesern meiner Altergruppe -- sehr schnell als exemplarischer Charakter, ja als eine Art identifikatorische Projektionsfigur rezipiert worden. Geboren 1959 in Neue Vahr Süd, einer Hochhaussiedlung am Stadtrand Bremens, d.h. an einem Ort, wie er provinzieller kaum sein könnte, und ausgestattet mit einer bundesrepublikanischen 70er und 80er Jahre-Durchschnittsjugend zwischen Waldsterben, Wohngemeinschaften und „Wetten daß...", verkörpert er einen generationellen Typus, der, egal ob mit dem Label der Generation X, der Generation 78, 89 oder dem vermutlich mehrheitsfähigsten der Generation Golf versehen, vor allem Nachfolger jener bundesrepublikanischen Übergeneration der 68er ist, die wie keine andere Generation nach dem Zweiten Weltkrieg Geschichte gemacht und die gesellschaftlichen Institutionen genauso wie das Selbstverständnis der Deutschen radikal umgekrempelt hat. Mit Herrn Lehmann betritt ein Post-68er die Bühne, ein Vertreter jener Generationen im Schatten von 68, denen ein formatives Kollektivereignis fehlt und die daher eher mehr verbindet als trennt, u.a., wofür auch die generationstypische Figur des Herrn Lehmanns steht, ihr Desinteresse an Politik, ihr Unbehagen an einer konventionellen Erwachsenenexistenz mit Ehe, Familie und Bürojob bzw. die Tendenz, diese Existenz immer weiter hinauszuschieben, oder ihre Neigung zu einer primär ästhetischen Weltwahrnehmung.

Herr Lehmann ist viertens ein Wende-Roman, denn die Handlung des Buches spielt in den letzten Wochen vor dem Zusammenbruch der DDR und endet genau in jener Nacht des 9. November 1989, in der die Mauer infolge der verunglückten Pressekonferenz Günter Schabowskis geöffnet wurde. Das Erstaunliche ist jedoch, daß die Wende-Problematik, die Massendemonstrationen, die 40-Jahrfeier, die verzweifelten Kapriolen des SED-Politbüros, also die ganze hochangespannte politische Situation im Herbst 89 in Ostdeutschland und Ost-Berlin, das, durch die Mauer getrennt, ja nur wenige hundert Meter vom Kreuzberg Herrn Lehmanns entfernt liegt, im Roman nicht oder nur in kaum wahrnehmbaren Spurenelementen vorkommen. Einer der wenigen Hinweise auf diese ansonsten außerhalb des Romans bleibende historische Großwetterlage findet sich im Roman just an jener Stelle, an der Herr Lehmann seine erste Nacht mit Katrin verbringt, der neuen Köchin aus der Kreuzberger Markthallenkneipe, jener Frau, mit dem ihn die besagte unglückliche und eher leidenschaftsarme Liebesgeschichte verbindet. In dieser ersten Liebesnacht mit Katrin wird Herr Lehmann irgendwann von einem Alptraum aufgestört, wobei sein Blick auf den eingeschalteten Fernseher fällt, der auch während und nach dem Sex -- immerhin ohne Ton -- angeblieben war:

„`Ach du Scheiße´, sagte Herr Lehmann und wachte auf. Im Fernseher lief eine Nachrichtensendung mit irgendwelchen Demonstrationen, und neben ihm lag Katrin auf dem Rücken und schnarchte leise. Dann ist ja gut, dachte Herr Lehmann und schlief wieder ein." (HL, 146)

Man kann davon ausgehen, daß es sich bei den erwähnten Demonstrationen um die im Vorfeld des 9. November immer weiter anschwellenden Montagsdemonstrationen in Leipzig und anderen ostdeutschen Städten handelt, aber das wird im Roman nicht weiter konkretisiert; die Beschreibungen des Romans bleiben hier so unspezifisch wie die Wahrnehmungen Herrn Lehmanns, an dem die nächtlichen Fernsehbilder im Dämmerzustand des Halbschlafs vorbeiflimmern, als seien sie Mitteilungen aus fernen, unbekannten Weltgegenden, weitab vom heimatlichen Kreuzberger Kiez und dessen bierinduzierter Idyllik.

Die Gleichgültigkeit Herrn Lehmanns gegenüber den Geschehnissen in der DDR, man könnte auch ein wenig maliziös sagen: am Schicksal seiner Brüder und Schwestern im anderen Teil Deutschlands (denn daß Herr Lehmann Verwandte dort hat, erfährt er an einer späteren Stelle des Romans), wird auch bei einer Unterredung mit seinen Eltern sichtbar, die ihn überraschend in Berlin besuchen. Bei einem gemeinsamen Abendessen in der Kreuzberger Markthallenkneipe kommt es zwischen Herrn Lehmann und seinen Eltern zu diesem Dialog:

„`Schrecklich ist das.´ Seine Mutter machte sich über das Brot her. `Wie kannst Du hier bloß leben, mit dieser furchtbaren Mauer drumrum, das ist ja ganz schrecklich. Also ich könnte das nicht.´
`Für uns ist das nicht so schlimm. Wir können ja trotzdem raus.´
`Da fühlt man sich doch total eingesperrt. Die ist ja überall, einmal drumrum.´
`Quatsch.´ Herr Lehmann hatte auf diesen Scheiß keine Lust. Es war immer daßelbe, wenn die Leute Berlin besuchten. `Wenn in Bremen irgendwo eine Straße zu Ende ist, und da ist eine Mauer, dann fühlst du dich doch auch nicht gleich eingesperrt.´
`Das ist doch was ganz anderes.´
`Ja. Aber das Problem haben die anderen Leute, die im Osten. Die Idee von dem Ding ist ja nicht, daß wir nicht rauskönnen, sondern daß die nicht reinkönnen. Wobei es für die natürlich in dem Sinne dann ein Rauskönnen wäre.´
`Ja´, sagte seine Mutter. `Die wollen ja nun auch alle raus, das sieht man jetzt ja.´
`Das ist schon hart, was da jetzt los ist´, sagte sein Vater. `Da geht ja alles den Bach runter.´
`Sicher´, sagte Herr Lehmann. `Aber das hat doch mit dem Leben in Westberlin nichts zu tun. Wir kriegen hier doch gar nichts davon mit.´" (HL, 175f.)

Auch hier: Herr Lehmann -- zu diesem Zeitpunkt, wie eigentlich immer, vor allem mit kleinen Alltagswidrigkeiten und überdies mit seiner etwas verqueren Liebesgeschichte beschäftigt -- verschwendet keinen größeren Gedanken an die allgemeine Weltlage, an Massenflucht, Massendemos, Honeckers Abgang und die ganze ostdeutsche Malaise, die im Herbst 89 die deutschen Medien und nicht nur sie bewegt. Im Unterschied zu seinen -- natürlich eher oberflächlich an den Geschehnissen jenseits der Mauer anteilnehmenden -- Eltern (sie schicken ihn schließlich nach Ost-Berlin, wo er einer Verwandten 500 DM überbringen soll, eine Mission, die aufgrund von Herrn Lehmanns völliger Unkenntnis der DDR-Zollgesetze grandios scheitert) -- fehlt ihm jedes Gefühl von Zusammengehörigkeit der beiden deutschen Staaten respektive ihrer Bewohner (Herr Lehmann: „Aber das Problem haben die anderen Leute, die im Osten."). Für Herrn Lehmann ist die Teilung Deutschlands der Normalzustand und damit nicht etwas, an dem er in irgendeiner Form leiden würde -- man lebt ja auf der richtigen Seite der Mauer --, sondern eine Gegebenheit, in die er hineingeboren wurde und die er eben nicht anders kennt. Insofern kann man Harald Martensteins Einschätzung nur zustimmen, wenn er schreibt: „`Herr Lehmann´ ist eine Geschichte über die Wende, aber aus westlicher Sicht. Das heißt, die Leute interessieren sich herzlich wenig für die DDR, bis sie am 9. November plötzlich vor der Haustür steht."[8] Aber auch als die Wende dann schließlich vor der Haustür steht -- Herr Lehmann sitzt gerade mit seinem schwulen Freund Sylvio in der Kneipe und betrinkt sich, nachdem er seinen besten Freund Karl nach dessen Nervenzusammenbruch ins Krankenhaus gebracht hat --, steigt der Erregungspegel Herrn Lehmanns und seiner Trinkgenossen kaum an:

„Gegen eins kam dann jemand herein, stellte sich neben die beiden (Herrn Lehmann und Sylvio, R.F.) an den Tresen und bestellte ein Bier.
`Hast Du schon gehört?´ fragte der Mann hinter der Bar.
`Was denn?´
`Die Mauer ist offen.´
`Was ist?´
`Die Mauer ist offen.´
`Ach du Scheiße.´
`Hast Du gehört?´ fragte Herr Lehmann, der jetzt ziemlich betrunken war.
`Was denn?´ fragte Sylvio, der schon Anzeichen machte, wegzunicken.
`Die Mauer ist offen.´
`Ach du Scheiße.´
`Hör mal Sylvio, schließlich bist Du selber aus dem Osten.´
`Das geht mir schon seit Wochen auf die Nerven. Immer, wenn ich den Fernseher anmache: Osten, Osten, Osten. Was kann ich dafür, daß ich aus dem Osten komme? Was meinst Du, wie das da war mit den Arschlöchern? Als Schwuler im Osten, das ist der letzte Scheiß. Die Mauer ist offen, was soll das überhaupt heißen, die Mauer ist offen. Der Arsch ist offen.´
Herr Lehmann guckte sich um. Der Barmann erzählte es anderen Leuten, und die Sache schien sich herumzusprechen. Es gab aber keine große Aufregung, alle machten weiter wie bisher.´" (HL, 280f.)

„...alle machten weiter wie bisher" -- natürlich ließe sich das nicht nur von den alkoholisch arg mitgenommenen Kreuzberger Kiezbewohnern sagen, sondern von der alten Bundesrepublik insgesamt, die die untergegangene DDR ja einfach ihrem Staatsgebiet einverleibt und auch ansonsten von den Errungenschaften des ostdeutschen Sozialismus nicht mehr als den grünen Rechtsabbiegerpfeil übernommen hat. Aber läßt man die -- also nicht unbedingt Kreuzbergspezifische, sondern gesamtwestdeutsche -- Apathie der Kneipenbesucher einmal beiseite (nur der ehemalige Ostler Sylvio geht, als er von der Maueröffnung hört, sofort hoch wie ein HB-Männchen), dann fällt auf, daß die Wende über die Kreuzberger Bierbohème nahezu wie ein Naturereignis hereinbricht. Was fehlt ist jede Diskursivierung, jede Problematisierung des Ereignisses als ein politisch-historisches, zu dem sich eben politisch und argumentativ Stellung nehmen ließe. Auch eine ja immerhin mögliche nationalistische oder wenigstens patriotische Aufwallung bleibt aus; der Fall der Mauer erscheint eher als Einbruch von Chaos und Unordnung in die halbnarkotische Kiez-Behaglichkeit, die die Kreuzberger Kneipengäste in nahezu Kohlscher Manier auszusitzen versuchen. Immerhin machen sich Herr Lehmann und Sylvio schließlich auf, um die nach West-Berlin hineinströmenden Ostler, so als seien sie Hottentotten oder Angehörige einer anderen exotischen Völkerschaft, „anzugucken" -- dies die Formulierung, die Herr Lehmann verwendet. Der Roman endet damit, daß Herr Lehmann und Sylvio am Moritzplatz die „höllisch nach Abgasen" stinkende Trabikolonne betrachten, die sich aus dem Osten nach Kreuzberg hereinwälzt. „Sie standen eine Weile da", heißt es im Buch, „und schauten sich das an. Dann wurde ihnen langweilig." (HL, 284)

Nun soll hier nicht behauptet werden, es hätte an jenem denkwürdigen 9. November 1989 und in der Folgezeit des Einigungsprozesses nicht auch echte Begeisterung, Glücksempfinden oder nationale Emphase gegeben. Nein, das gab es natürlich auch; aber es spricht Vieles dafür, daß die Reaktion Herrn Lehmanns auf die Maueröffnung: das nur mühsam hergestellte und schnell wieder abflauende Interesse an dem Ereignis, das ganz fundamentale Gefühl der Störung und des Befremdens angesichts der lärmenden Neuankömmlinge aus dem Osten und insgesamt die ganz und gar apolitische Betrachtungsweise dieser letztlich politischen Vorgänge, eine exemplarische Dimension besitzt und eine angesichts von Wende und Wiedervereinigung weitverbreitete Grundstimmung jener - in sich natürlich keineswegs homogenen - Generation der Post-68er reflektiert, die ich mit Florian Illies geglückter Namensgebung als Generation Golf titulieren möchte.[9]

II.
Etwas anders gelagert, aber, wie ich meine, nicht minder paradigmatisch für die Einstellung weiter Teile der Generation Golf zu Mauerfall und Wende, ist die -- indes auf nur zwei Seiten abgehandelte -- Kommentierung dieser Ereignisse in "Tristesse Royale", einem generationellen Manifest der zwischen 1965 und 75 Geborenen, das 1999 im Hotel Adlon in Berlin aus einem dreitägigen Treffen eines selbsternannten, aus fünf jungen deutschen Schriftstellern bestehenden popkulturellen Quintetts entstanden ist. Der 9. November und die Folgen werden darin zum Gegenstand einer Betrachtungsweise, die permanent zwischen Ästhetizismus, inszenierter Provokation und ironischer Relativierung changiert. Einer der fünf Adlon-Plauderer, Christian Kracht, der mit seinem 1995 publizierten Roman Faserland so etwas wie das Gründungsdokument der deutschen Popliteratur verfaßt hat, verhandelt in "Tristesse Royale" das Ereignis des Mauerfalls primär als Geschmacksfrage: „An diesem Tag", so Kracht,
„fand ich mich in der Paranoiagrube in Dahab am Rande der Wüste Sinai liegend. Es lief `Shine On You Crazy Diamond" von Pink Floyd, und nichts war mir ferner und gleichgültiger als der Tag der Deutschen Einheit. Selbst in dieser debilen Runde von Hippies und Aussteigern fühlte ich mich wohler, als fähnchenschwingend den nächsten Trabi zu begrüßen."[10]

Wir haben es hier -- ebenso wie bei den Wortmeldungen der anderen vier Popsachverständigen -- mit uneigentlichem Sprechen zu tun; denn hier redet nicht Kracht selbst, sondern ein Rollen-Ich Krachts, das in der Pose des elitären Snobs die Exaltationen der nationalistisch erhitzten Volksmassen am Tag des Mauerfalls im Duktus ästhetizistischer Verachtung zur Kenntnis nimmt. Kracht bedient sich dieser Pose aber nur, um sie noch im selben Moment wieder zu relativieren, denn auch sein ägyptisches Exil ist ja nicht Reservat unterschichtferner Hochkultur, sondern eben nur eine Art Kifferparadies debiler Hippies und Aussteiger.

Auch für Benjamin von Stuckrad-Barre, den ehemals medial omnipräsenten Jungstar der deutschen Popliteratur, der in seinen Glanzzeiten seine eigene MTV-Sendung moderierte, ist die deutsche Wiedervereinigung vornehmlich eine Angelegenheit von Stilkritik und Ästhetik. „Da ich (...) die meiste Zeit meines Lebens in Göttingen, einem Zonenrandgebiet, verbracht habe", so läßt sich Stuckrad-Barre, oder präziser: die medial produzierte Kunstfigur, die unter diesem Namen firmiert, in "Tristesse Royale" vernehmen,

„wurde die deutsche Einheit für mich vor allem dadurch spürbar, daß diese Menschen dort anlandeten und ihr Begrüßungsgeld für billige Kassettenrecorder ausgaben. Kurzzeitig herrschte in Göttingen eine Stimmung des Willkommens -- besonders in der Schule: An den Wochenenden wurde dort im Keller ein Café für diese Menschen eingerichtet. Ich erinnere mich sehr gut, daß ich einen Freund hatte, der selbst sehr ostig aussah, weil er immer eine verwaschene violette Skijacke anhatte. In manchen Geschäften bekam er einen speziellen Ost-Rabatt eingeräumt. Er wurde sehr unglücklich darüber." (TR, 111)

„Kurzzeitig herrschte eine Stimmung des Willkommens..." -- in der Tat, dies galt nicht nur für Göttingen, sondern für ganz Westdeutschland; aber, so ließe sich ergänzen, und genau diese assoziative Ergänzung suggeriert Stuckrad-Barre: Mit dieser freundlichen Stimmung war es bald vorbei. Denn „diese Menschen", wie Stuckrad-Barre sich ausdrückt, die nach der Maueröffnung, aus der „Zone" kommend, auf westdeutschem Territorium „anlanden", erweisen sich als vollkommen geschmacksverirrte Hinterwäldler, die auf lange Zeit verblüffend stilresistent bleiben. Sie kaufen mit ihrem vom westdeutschen Steuerzahler mühsam erarbeiteten Begrüßungsgeld billigen Plunder, tragen peinliche Klamotten und sind überhaupt ein bißchen dämlich -- kein Wunder, daß Stuckrad-Barres ostig aussehender Freund sehr unglücklich darüber wird, daß man ihn -- fälschlicherweise -- für einen Ostler hält. Selbstredend ist Stuckrad-Barres Statement auf eine ganz kalkulierte Weise boshaft, gerade wenn man den Subtext zu dechiffrieren versteht. Nichtsdestoweniger aber gibt sie einer weit verbreiteten Wahrnehmung unter den Westdeutschen Ausdruck, die schon kurz nach der Wende ihre emblematische Darstellung in einem unsterblichen, längst im kollektiven Gedächtnis archivierten Titanic-Cover findet, das die Zeile „Zonen-Gabi - ihre erste Banane!" mit dem Porträt einer eindeutig als Ostdeutsche identifizierbaren billig angezogenen Frau mit Sauerkrautfrisur verbindet, die besinnungslos vor Glück eine geschälte Gurke ins Bild hält.

Während Joachim Bessing zur Wende nichts anderes einfällt als das Verschwinden von DDR-typischen Modefarben („Man sieht das auf Fotos, daß es dort ganz spezielle und eigens hergerichtete Farben für die Kleidungsstoffe gab. Blasse Farben, die jetzt interessanterweise in der aktuellen Prada-Sommerkollektion wieder auftauchen..." [TR, 112]), gibt sich Alexander von Schönburg, dessen zeitgerechtes Lebenshilfe-Buch über die Kunst des stilvollen Verarmens gerade die deutschen Bestsellerlisten erstürmt, ganz im Gegensatz zu solchen Dandy-Posen als glühender Vorkämpfer der deutschen Einheit zu erkennen:

„Ich war in dieser Zeit in England. Vom Ausland her betrachtet, erschienen mir diese Tage mit ihrer großen Euphorie natürlich sehr wichtig. (...) Ich hatte ja vorher schon leidenschaftlich für die deutsche Einigung gekämpft - wie ich mich ja stets in irgendeiner Form politisch betätigt habe -, und für mich war es deshalb auch eine persönliche Genugtuung. Und zwar eine große." (TR, 110)

Unverkennbar treibt auch von Schönburg hier sein parodistisches Spiel mit sozial standardisierten Diskurs- und Identitätstypen, wobei es hier der ebenso gläubige wie blasiert-dümmliche Junge-Union-Durchschnittsschnösel mitsamt dem entsprechenden Politikerjargon ist, den Schönburgs Rollen-Ich durch den Kakao zieht. Aber natürlich handelt es sich zugleich um eine gezielte Provokation gegen die überall in "Tristesse Royale" als negativer Referenzpunkt des eigenen Diskurses fungierenden 68er, gegen ihre Überpolitisierung und die daraus resultierende in der Tat alberne Perhorreszierung der deutschen Einheit als weltgefährdendes Wilhelminismus- oder Nazi-Revival. Daß viele Alt-68er auf all das auch noch reingefallen sind und besorgte Diagnosen dieses generationellen Diskurses erstellt haben, ist dann auch schon wieder komisch und bleibt, wie Moritz Baßler zurecht anmerkt, schlicht hinter dessen Reflexions- und Inszenierungsniveau zurück.[11]

Wird die deutsche Wiedervereinigung in "Tristesse Royale" vorrangig zum Gegenstand eines durch und durch ironischen Sprachspiels, das sie nicht anders verhandelt als Popmusik, Lifestyle oder Haarpflegeprodukte, reagiert das Grundbuch der Post-68er, das ihnen ihren noch heute geläufigen Namen gegeben hat, Florian Illies' Generation Golf (2000) auf die deutsche Einheit nur noch zynisch: „Mein Bruder, der Philosoph", heißt es in Generation Golf, in dem die Lebensphasen der heute 30 bis 45jährigen mit Werbeslogans für den VW-Golf synchronisiert werden,
„fragt mich dann nach den inneren Werten, und ich sage, ja, die Aktie hat noch verborgenes Potential. Und das Ende der DDR kommentieren wir mit der Werbekampagne der Wirtschaftswoche: Jede Fusion hat ihre Verlierer. Wir sind schon schrecklich."[12]

Eben diese Diskursfigur ist nach Illies typisch für die Generation Golf: Durchschlagende Desillusionierung, die vor nichts halt macht und selbst das noch mögliche Leiden an der eigenen Gleichgültigkeit, der materialistischen Fixierung und visionären Armut selbstironisch relativiert. Eine solche -- durch und durch leidenschaftslose -- Generation kann dann natürlich auch ein Ereignis wie das der deutschen Einheit nur müde ignorieren oder im Säurebad von Ironie und Parodie auflösen.

So subtil die Ironie der Tristesse Royale-Plauderer also auch ist und so politisch korrekt die Distanz eines Herrn Lehmann zu Fanatismen aller Art -- inzwischen läßt sich der Verdacht nicht mehr ganz von der Hand weisen, daß diese generationstypischen Modi der Auseinandersetzung mit Mauerfall, Wende und deutscher Einheit in höchstem Maße reduktionistisch oder im Sinne der Systemtheorie formuliert: unterkomplex waren und elementare Gesichtspunkte dieser Ereignisse gänzlich außer Acht ließen. Es mag sein, daß die Welt, wie Nietzsche einmal gesagt hat, nur als ästhetisches Phänomen zu rechtfertigen ist; nur als ein solches ist sie aber gleichwohl nicht angemessen zu verstehen, denn natürlich war die Einheit ein Ereignis von gerade auch politisch-ökonomisch weitreichender Bedeutung, und das nicht nur für Deutschland, sondern für den gesamten Globus. Seit einiger Zeit könnte auch den Blinden unter den Einäugigen aufgegangen sein, daß mit dem Fall der Mauer und dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums die entscheidenden handels- und finanzpolitischen Hürden für jenen transnationalen Großprozess gefallen sind, der, bekannt unter dem Namen Globalisierung, gegenwärtig seine sozioökonomische Verwüstungsspur durch die ehemaligen Mittelstandsgesellschaften Westeuropas zieht. Es ist dieser Mahlstrom der Globalisierung, in dessen Gefolge sich die im stillen Weltwinkel des saturierten westdeutschen Wohlfahrtsstaats aufgewachsene Generation Golf zunehmend in jene neue soziogenerationelle Formation verwandelt, die man erst vor kurzem „Prekariat" oder oder „Generation Praktikum" getauft hat und die sich -- verglichen mit dem bundesrepublikanischen Sozialstaat vor 89 -- mit gänzlich veränderten gesellschaftlichen Realitäten, vor allem einer „Entsicherung des sozialen Lebens durch befristete Beschäftigung, Minijobs, Praktika"[13] und erheblichen Wohlstandsverlust konfrontiert sieht. Angesichts ihrer nahezu lustvoll betriebenen politischen Selbststillegung ist es indessen nicht erstaunlich, daß die Generation Golf bis heute kaum weiß, was da in den letzten Jahren mit ihr geschehen ist und noch immer mit ihr geschieht. Klar ist nur, daß die in die Jahre gekommenen, zwischen Babystreß und Jobangst hin- und hergerissenen ehemaligen Lifestyle-Helden der Generation Golf von ihrem hedonistischen Lebensstil der 80er und 90er Jahre Abschied nehmen und sich auf einen härteren sozialen Verteilungskampf einstellen müssen.[14] In einem Punkt allerdings, dies wird vor dem Hintergrund der aktuellen globalisierten Zeitläufte und ihrem überhitzten Fusionsfieber immer deutlicher, hatte die Generation Golf recht: Jede Fusion, sei sie politischer oder ökonomischer Natur, hat ihre Verlierer. Inzwischen wissen wir, daß es gerade die deutsch-deutsche Staatsfusion von 1989 war, die besonders viele Verlierer produziert hat. Den Wohlstandskindern der alten Bundesrepublik geht langsam auf, daß nicht nur ihre schlecht angezogenen Verwandten aus dem Osten zu ihnen gehören, sondern auch sie selbst.

Endnoten


1 Sven Regener, Herr Lehmann. Ein Roman (München: Goldmann, 2003). Klappentext. Im Folgenden zitiert als HL.
2 Tilmann Spreckelsen, „Verwirrt, träge und verliebt", Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.8.2001.
3 Reinhard Mohr, „Soundtrack eines Soziotops", Der Spiegel 40 (2003).
4 Gerrit Bartels, „Zurück in den Charts. Was in einem überschaubaren und abgeschiedenen Berliner Bezirk 1989 alles nicht passierte: Sven Regeners Kreuzberg-Roman 'Herr Lehmann'", die tageszeitung, 21.8.2001.
5 Als Großstadtroman ist Herr Lehmann etwa von Leander Haußmann bezeichnet worden, der den Roman 2003 verfilmt hat. Leander Haußmann, „Simplicissimus in Berlin. Der als Posänger bekannt gewordene Sven Regener hat einen amüsanten Großstadtroman geschrieben", Der Spiegel 33 (2001).
6 Vgl. Moritz Baßler, Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten (München: C.H.Beck 2002) 21f. Vgl. hierzu auch Boris Groys, Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie (Frankfurt am Main: S.Fischer 1992), auf das sich Baßlers Deutung des deutschen Popromans als Archivierungsmedium bezieht.
7 Ralph Geisenhanslüke: „Hefe oder Kristall, das ist hier die Frage! Leander Haußmann und Sven Regener unterhalten sich über 'Herrn Lehmann', die Vorzüge des Flaschenbiers und die 80er Jahre", Tagesspiegel, 1.10.2003.
8 Harald Martenstein „Die letzten Tage von Kreuzberg. Theke, Tresen, Temperamente. Leander Haußmann verfilmt Sven Regeners Bestseller 'Herr Lehmann'", Tagesspiegel, 1.10.2003.
9 Ich schließe mich damit im übrigen der Sichtweise Harry Nutts an, der in einem taz-Artikel anläßlich der Ausstellung „Alt & Jung. Das Abenteuer der Generationen" im Dresdner Hygiene-Museum die Nach-68er zur Generation Golf zusammenfasst: „Das historische Ereignis, das unter dem Namen 'Achtundsechzig' zusammengefasst wird, war die Umstrukturierung der gesellschaftlichen Institutionen. Alle Altersgruppen danach (...) begründeten keinen Generationenzusammenhang -- sie waren vornehmlich damit beschäftigt, sich von den 68ern abzuheben. Die Generationen nach den 68ern verbindet mehr, als sie trennt. Die Fernseh- und Mauerkinder, die Achtundsiebziger und Neunundachtziger, die Generationen U, S, T, W, X, Y und Z bilden alle zusammen die Generation Golf.." Harry Nutt, „Generation Golf. Im Dresdner Hygiene-Museum zeigt die Schau 'Alt & Jung. Das Abenteuer der Generationen' Lebensentwürfe jenseits des Generationenschemas", die tageszeitung, 10.1. 1998.
10 Tristesse Royale. Das popkulturelle Quintett. Hg. v. Joachim Bessing (München: List 2001) 110. Im Folgenden als TR zitiert.
11 Vgl. Moritz Baßler: Der deutsche Pop-Roman 124.
12 Florian Illies, Generation Golf. Eine Inspektion, (Frankfurt am Main: S. Fischer 2001) 192f.
13 Thomas Gross: „Von der Bohème zur Unterschicht. Job, Geld, Leben - nichts ist mehr sicher. Eine neue Klasse der Ausgebeuteten begehrt auf: Das Prekariat", Die Zeit, 27.4.2006.
14 Vgl. hierzu auch Florian Illies, Generation Golf zwei. (München: S. Fischer 2003).