glossen 24
Richard Wagner, Der deutsche Horizont. Vom Schicksal eines guten
Landes. Berlin: Aufbau-Verlag, 2006.
Richard Wagners Der Deutsche Himmel ist eine tour de force durch das Labyrinth
der nachkriegsdeutschen Zustände und Befindlichkeiten. Von der „Erfindung
der Gründerzeit“ über die „Spaßgesellschaft“
bis zum „Phantom der Identität“ reicht die Palette der angeschnittenen
Themen, die in zwölf Kapiteln aufgefächert werden.
Wer sich so viel vornimmt, geht ein Risiko ein. Zwar wird „Wer vieles
bringt, [...] manchem etwas bringen“, doch nicht jeder geht so „zufrieden
aus dem Haus“, wie es dem Theaterdirektor im „Vorspiel auf dem Theater“
in Goethes Faust vorschwebt. Wagners Buch tangiert zu viele unterschiedliche
Interessen und Vorurteile, als dass eine einhellige öffentliche Reaktion
möglich wäre. Einige der bisherigen Reaktionen zeigen es. Z. B. Franziska
Augsteins Rezension in der Süddeutschen Zeitung vom 31. 3. 2006,
die sich empört gegen die von ihr ausgemachte Häme und „reaktionären
Ressentiments“ Wagners gegenüber Lifestyle-Welt, Popkultur, Spaßgesellschaft
und die 68iger aussprach, ohne auch nur auf die wachen, ironisch bis satirischen
Kommentare Wagners einzugehen.
Ist das die Arroganz der jungen, alteingesessenen Rezensentin gegenüber
dem aus dem Banat Zugereisten, wie ihn die offizielle Sprachregelung bezeichnen
würde? Darf so einer „seinen wieder gefundenen Landsleuten“(Augstein)
die Leviten lesen dürfen? Ja, er darf!
Was einige Rezensenten übersehen: Der Deutsche Horizont ist weder
ein Geschichtsbuch noch eine wissenschaftliche Abhandlung, sondern nicht mehr
und nicht weniger als eine Sammlung von kurzen Essays zur Lage von Staat und
Nation. Wagners Buch ist Kurt Tucholskys deutschem „politischen Baedeker“
Deutschland Deutschland über alles aus dem Jahre 1929 verwandt.
Und wenn es ein Motto hätte, könnte es gut und gerne „Wider
dem aufgedunsenen Dünkel der Alltäglichkeit“ lauten, das Motto
der von Moritz Gottlieb Saphir in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
in Wien herausgegebenen satirischen Zeitschrift Der Humorist –
eine andere Saphir-Zeitschrift hieß übrigens Der deutsche Horizont.
Nun ist Wagners Buch sicher nicht ausschließlich eine satirische Abrechnung
mit deutschen Zuständen, obwohl es nicht an satirischen Zuspitzungen, Humor
und Ironie fehlt, sondern deren ‚konsequente Diagnose“. Wagner sorgt
sich um abnehmende Innovationsfähigkeit, um die aufgeblähte Bürokratie,
die Konsumverweigerung bei höchster Sparquote und die Altersbeschränkung
bei Anstellungen in Unternehmen. Er verwirft ein sich wieder belebendes, antiquiertes
Männerkonzept, dem entsprechend einige Männer ihre Frauen wieder in
die Küche und ins Kinderzimmer zurückschicken wollen, weil es zu viele
Arbeitslose gebe. Es geht ihm weiterhin um die Befreiung der Arbeit und die
deutsche strukturelle Beschäftigungskrise, nicht aber um das oft bemühte
Nachwuchsproblem.
Wagner ist ein Anreger und Querdenker. Es macht Spaß, ihm zuzustimmen
oder auch zu widersprechen. Bei vielen seiner Beobachtungen sagt man spontan:
Ja so war es. Andere fordern Widerspruch heraus. Z. B. bescheinigt Wagner den
Deutschen gegen Ende des Zweiten Weltkrieges Endsiegfanatismus. Unzweifelhaft,
gab es ihn bei einigen maßgeblichen Schergen des Hitlerregimes. Die Masse
der in den Kellern ihrer zerbombten Häuser oder in überfüllten
Bunkern und U-Bahnschächten hockenden Menschen waren einfach kriegsmüde.
Kann man dem letzten Aufgebot Hitlers, dem Volkssturm, über den mißbrauchten
Idealismus der 16jährigen hinaus, Endsiegfanatismus vorwerfen, oder der
Mehrheit der deutschen Soldaten, denen es eher darum ging in die Gefangenschaft
der westlichen Alliierten zu gelangen, statt an der Ostfront noch draufzugehen.
Zustimmen kann man ihm, wenn er bemängelt, dass sich das Wissen der DDR-Deutschen
über ihre östlichen Nachbarn in Grenzen hielt, eine Kränkung
Osteuropas, an der allerdings auch die alte Bundesrepublik teilhatte und die
bis heute nicht zurückgenommen worden ist. Zwar fühlte man sich in
breiten Kreisen der DDR solidarisch mit den Aufständischen in Ungarn, den
Reformern des Prager Frühlings und den Hafenarbeitern in Gdansk. Allerdings
schwand die Solidarität mit dem Fall der Berliner Mauer, als die Mehrheit
der DDR-Bewohner begann, sich mit den Deutschen westlich der Elbe zu vergleichen.
So blieben und bleiben die Verbindungen und Bindungen zu Deutschlands östlichen
Nachbarn beschränkt auf Einzelfälle.
Wagner Aufmerksamkeit gilt jedoch nicht nur Deutschland und dem europäischen
Osten, sondern er macht sich auch Sorgen um den Zusammenhalt ganz Europas. Und
das zu Recht. Ob aber die Lösung neben einer Vitalisierung von politischen
Institutionen, Innovation und Wirtschaft in einer zweiten Christianisierung
und in der Abgrenzung zum Islam, speziell zur Türkei, zu suchen ist? Sicher
ist, das Europa nicht bleiben kann, was es ist, noch werden kann, was es nur
in seinen Träumen einmal war. Säkularisierung des Staates und Verkleinerung
seines Apparates, Privatisierung des religiösen Glaubens, Bestehen auf
demokratischen Grundlagen hätten größere Chancen diesen Zusammenhalt
unter neuen Bedingungen zu schaffen als eine nicht mehr machbare oder wünschenswerte
Einigelung. Sicher scheint mir auch, daß die Zeit kommen wird, in der
sich der Islam, die jüdische und christliche Religion ihrer gemeinsamen
Grundlagen bewußt werden.
Anders als bei Tucholsky, der das Positive in Deutschland vor allem in der
Landschaft fand, sieht Wagner Chancen für die Selbstbesinnung eines „guten
Landes“. Sein Buch ist ein Plädoyer für eine tabufreie, selbstbewußte
Nation. Es wäre zu wünschen, wenn diese Nation Teil einer europäischen
wuare, die eine Vielheit umschlösse und nicht nur zwischen der Straße
von Gibraltar und dem Bosporus zu Hause wäre.
Bei der Fülle an Informationen, mit denen Wagner arbeitet, wäre es angebracht gewesen, wenn der Verlag ein Namens- und Sachregister erstellt hätte. Sie hätten die Orientierung des Lesers erleichtert und den Deutschen Horizont sogar zu einer Art Nachschlagwerk gemacht. Nicht jeder hat ein so gutes Gedächtnis, wie es Wagner zur Verfügung zu stehen scheint. Doch auch diesen Lesern sei sein Buch wärmstens empfohlen. Es wird Manchen vieles Nichtgedachte und Vergessene bringen.
Wolfgang Müller
Dickinson College