glossen 24


 

Helga Kurzchalia

Vielleicht war ich gestern tot — sechs Gedichte

vielleicht
ist
morgen
krieg

vielleicht
leb
ich
noch

vielleicht
geh
ich
fort

vielleicht
war
ich
gestern
tot

 

vor der tür
der asphalt blutet
die kastanien blühen
die poren schließen
für einen atemzug
ob die gelbhelme wissen
was darunter liegt
wer darüber läuft
gestern im krieg
wer geht morgen hier
trinkt aus meinem glas
in fünfzig hundert jahren
machen sie um das gewesene
kein gewese mehr
damals als das jahrtausend
noch keine sieben tage alt war

 

mit neun
gott hatte ich nie
gott erfand ich mir
und es war nacht
und immer kalt auf dem platz
das haus hielt ein baugerüst
im traum stürzten bomber
eine weisse kachel fiel
in die sozialistische lichtreklame
das gelbe a
hatte den geist aufgegeben
auf kaltem rasen mickerten
weiss verschnürte nachkriegslinden
als ich gott vergessen
in die finsternis schaute
ein kommunistenkind betete
mit verschränkten armen
am doppelfenster im kurzen hemd

kennt nicht namen ort noch jahr
nie gehört nicht gefragt
der großvater
kein richtiger nazi
ich trinke saft auf der brühlschen terrasse
im rücken
ein kleines geplänkel
was deutschland
im krieg verzapft hat
sein großvater
der mit den unheimlich
vielen jüdischen freunden
die damals mit ihrem einzigen leben bezahlten
ist letzten sommer auch gestorben
und das aus heiterem himmel
sagt der den ich von hinten sehe

 

falsche umarmung
er hielt mich
wie eine katze
im nacken

ich stellte mich tot
kein fauchen
kein kratzen

da ließ er mich los
die dielen schwankten

 

night hawks
ob ich komme
oder wieder gehe
rede oder lieber schweige
lebe oder weiter sterbe
ist unerreichbar
was ich vor mir sehe
auf der anderen straßenseite
nur gelber widerschein