glossen 24


Uwe Timm, Am Beispiel meines Bruders (Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2003)

Am Beispiel meines Bruders ist ein schmales Bändchen, aber es ist ein gewichtiges Werk über Schuld, Vergessen und Erinnerung, eine Analyse über familiäre Prägungen in der Nazizeit, die zur "Abwesenheit von jedem Mitempfinden" und zum Töten prädestinieren. Uwe Timm präsentiert seine Familiengeschichte, die auch eine Kriegsgeschichte ist. Er schreibt über die Eltern, die Schwester, den Bruder, der SS-Mann war, und über sich selbst, den sechzehn Jahre später, 1940 geborenen Nachkömmling. Das Verstörende an dieser so alltäglichen Familie ist ein Bruch in der Lebensform, d. h. der Leser hört vom Liebenswerten, durchaus Normalen einerseits, und vom Verschweigen und blinden Akzeptieren von Tabus andererseits. Timm, der vertraut ist mit den Büchern Primo Levis, Jorge Sempruns, Jean Amérys, Imre Kertész' und Christopher Brownings -- im besonderen mit Brownings verstörender historischer Darstellung deutschen Gehorsams, betitelt Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die "Endlösung" in Polen - wartet in seinen Reflexionen über seine Familie und über sich selbst mit einer Beobachtung auf, die sich in Variationen durch die Handlung zieht: "Das Nichtwissenwollen, der Mutter, des Vaters, des Bruders, was sie hätten wissen können, wissen müssen, in der Bedeutung von wissen, nach der althochdeutschen Wurzel, wizzan: erblicken, sehen. Sie haben nicht gewußt, weil sie nicht sehen wollten, weil sie wegsahen." Uwe Timm schreibt vehement gegen diese Form des Wegsehens und Verdrängens an.

Timm denkt der Generation seines Vaters nach, vorrangig aber der des älteren Bruders, der sich 1942 freiwillig zur SS-Totenkopfdivision gemeldet hatte und nicht mehr zurückkam. Timm erinnert sich nur fragmentarisch und vage an den Neunzehnjährigen, der in der Erinnerung der Eltern, in Familiengesprächen, aber auch in seinen eigenen Träumen in einer Art Mythos weiterlebte, und zwar als tapferer, anständiger, gehorsamer Junge, der nicht weinte. Nach dem Tod der Eltern und der Schwester beschäftigt er sich mit dem Kriegstagebuch des unbekannten Bruders und versucht, sich von ihm und seiner Generation ein Bild zu machen. Der Wunsch, dem ihm Unverständlichen, Horrenden nachzuspüren, ist für ihn selbst die Voraussetzung, Klarheit in der eigenen Biographie zu finden. Wer ist er? Familienrecherche bedeutet Selbstbegegnung: "Sich dem Vater und dem Bruder schreibend anzunähern, ist der Versuch, [...] sich neu zu finden."

Der nur noch vage in der Erinnerung vorhandene ältere Bruder, der den kleinen dreijährigen Nachkömmlung zärtlich hochhebt, ist Karl Heinz Timm, der 1924 geboren wurde und 1943 in einem Krankenhaus in der Ukraine an schweren Verletzungen, nachdem ihm beide Beine amputiert waren, starb. Er hatte 1943 an der deutschen Offensive bei Kursk teilgenommen. Es gibt kein Grab von ihm. Es existiert nur ein Kasten mit einigen Habseligkeiten und einem Tagebuch, ein Kasten, der den Elter nach seinem Tod zugeschickt wurde. Mit 18 Jahren wurde dieser blonde, blauäugige Bruder Panzerpionier bei der SS. Was Uwe Timm fast obsessiv beschäftigt, sind die Beobachtungen, Eindrücke und geschichtlichen Urteile des Bruders, die vom Widerspruch geprägt sind. Warum war der Bruder freiwillig einer der Eliteeinheiten der Nazis beigetreten, er, der doch als Kind ein Träumer war, gern las, sich oft versteckte und bei der HJ Probleme mit Militärdisziplin hatte? Der recherchierende Autor Uwe Timm, ist verunsichert, ist von der Angst geplagt, daß der Ältere vielleicht aktiv an Judenmord und Partisanenerschießungen beteiligt war. Zögerlich seziert er jeden Satz im Fronttagebuch, konzentriert sich auf Details, klopft den Text nach verschlüsselten Hinweisen ab. Was könnte sich etwa hinter einem Ausrufungszeichen und dem Wort "Beute" verbergen, Menschenopfer oder Waffen: "Gelände wird durchgekämmt. Viel Beute! Dann geht es wieder weiter vor." Indizien für Judenmord oder Formen von Antisemitismus finden sich nicht in den Aufzeichnungen. Trotzdem lähmt den Spurensuchenden eine an Mitleidlosigkeit kaum zu übertreffende Eintragung des Bruders: "Brückenkopf über den Donez. 75 m raucht Iwan Zigaretten, ein Fressen für meine MG." Aber hatte der SS-Mann-Bruder dann doch noch eine plötzliche Einsicht kurz vor seinem Tod? Eine letzte Eintragung wirkt wie eine Frage, die unbeantwortet bleibt: "Hiermit schließe ich mein Tagebuch, da ich für unsinnig halte, über so grausame Dinge wie sie manchmal geschehen, Buch zu führen."

Das Nachdenken über den Bruder und über das soziale Umfeld, aus dem er kam sowie die Frage, inwieweit die Sozialisierung innerhalb der so normalen Familie zu Verstrickungen beigetragen habe, endet mit einem großen Fragezeichen. Erklärungslücken bleiben bestehen. Wie hätte der Autor Uwe Timm, der ja aus der selben Familie kommt, unter ähnlichen Umständen gehandelt? Hätte er sich verweigert? Er weiß es nicht, ist beunruhigt, und dieses Gefühl der Unruhe überträgt sich auf den Leser. Das Buch ist unabgeschlossen, läßt aber Schlüsse zu, wie es zur rebellischen Untersuchung autoritärer Strukturen in den sechziger Jahren kam. Es enthüllt die nationalen Verblendungen des Vaters und des Bruders schonungslos, und es geht auf Distanz zur Familie; und doch ist es nicht bar eines Mitgefühls und eines Suchens nach familiären Berührungspunkten und Gemeinsamkeiten. Trotz seines Unverständnisses dem Geschehenen gegenüber wartet der Autor Timm mit einem Verständigungstext auf.
Das schmale Büchlein ist aber nicht nur eine sehr persönliche "Familiengeschichte"; es ist auch eine Kriegsgeschichte über die Zerstörung der Stadt Hamburg im Jahre 1943, die der Erarbeitung einer kollektiven Opferrolle der Deutschen -- wo sie besteht -- konsequent entgegenarbeitet: "Juden war das Betreten des Luftschutzraums verboten." Dieser Satz spricht Bände. Das Büchlein eignet sich hervorragend für Universitäts-Seminare, die sich mit Literatur beschäftigen, die im Kontext der von W.G. Sebald ausgelösten Luftkriegs-Debatte veröffentlicht wurde. Uwe Timm macht sich in seiner Spurensuche zum Sprecher all derer, die -- wie er selbst -- zur Nachfolgegeneration gehören. Sein Buch beunruhigt, ist mutig und immens aufrichtig.

Christine Cosentino
Rutgers University