Glossen 25

Timm Menke

Westdeutsche Familiengeschichte als Literatur: Gerhard Henschels Die Liebenden und Kindheitsroman. Literaturkritische Annäherungen

Seitdem sich die Literaturwissenschaften in ihrem Selbstverständnis zunehmend als Kulturwissenschaften betrachten, haben auch die Untersuchungen zur Gedächtnisforschung neue Impulse erfahren, und neben Anselm Haverkamp, Renate Lachmann und Wolfgang Frühwald haben gerade Jan und Aleida Assmann auf diesem Gebiet wichtige Arbeiten vorgelegt.[1] Jan Assmann schlägt schon 1988 eine Differenzierung zwischen einem auf alltagsnaher, persönlicher und sozialer Interaktion beruhenden "kommunikativen Gedächtnis" und einem "kulturellen Gedächtnis" vor, einer eher alltagsfernen und persönliche Kontakte transzendierenden Erinnerung. Gleichzeitig setzt er das "kulturelle Gedächtnis" ab von den streng methodisch vorgehenden und disziplinär ermittelten historischen Kenntnissen von "Wissenschaft". Es ist nun in den letzten Jahren einmal eine ernsthafte Aufarbeitung der westdeutschen Nachkriegsgeschichte in Gang gekommen, sowohl durch ältere, etablierte Schriftsteller als auch durch Vertreter einer jüngeren Generation, den heute 30- bis 45jährigen.

Mit einer Mischung von kommunikativem und kulturellem Gedächtnis haben wir es in den Romanen von Gerhard Henschel zu tun: ihm geht es um individuelle Erfahrungen und Erinnerungen, die freilich auch als eine Art kollektives Alltags-Kulturgedächtnis der alten Bundesrepublik gelesen werden können. Henschel (Jahrgang 1962), ein Autor, der bislang als Satiriker und Mitarbeiter der Zeitschrift Titanic hervorgetreten ist, versucht in seinen Romanen Die Liebenden von 2002 und Kindheitsroman aus dem Jahr 2004 eine Aufarbeitung westdeutscher Geschichte anhand persönlicher Lebenserfahrungen. Die Bücher beschäftigen sich, legt man sie nebeneinander, mit dem Schicksal einer westdeutschen Familie im Zeitraum von Kriegsende bis in die 90er Jahre hinein, und diese Familiengeschichte wird zum Spiegel einer Sozial- und Entwicklungsgeschichte der "middle-class" der Republik.[2] Wird in Die Liebenden der mühsame Aufbau einer bürgerlichen Existenz nach 1945 durch ein junges Ehepaar (Henschels Eltern) beschrieben und erfolgt -- nach gelungener Etablierung und Prosperität -- der Zerfall dieser Beziehung, so wird im Kindheitsroman von einem ihrer Söhne (wohl Henschel selbst) das Aufwachsen im Alltag der BRD erzählt und umfaßt die Jahre seiner Kindheit von 1966 bis 1975.

Die literarischen Erzählverfahren der Romane könnten unterschiedlicher nicht sein: Erlebt der Leser in den Liebenden das Schicksal der Eltern anhand der Jahrzehnte umfassenden umfangreichen authentischen Familienkorrespondenz, so besteht der Kindheitsroman formal aus den bruchstückhaften, naiven tabula rasa-Erinnerungen eines Kindes im Alter zwischen vier und zwölf Jahren. Die bedeutende formalästhetische Leistung des Autors der Liebenden besteht in der Auswahl des elterlichen Briefwechsels, und im Kindheitsroman im Arrangement seiner Erinnerungen.

In die Tradition des gegenwärtigen populären Familien-Generationen-Romans mit seinem zugrundeliegenden Schema des Konflikts zwischen den Eltern als Nationalsozialisten oder Nazi-Mitläufern und ihren Kindern als Angehörigen der 68er Protestbewegung lassen sich die beiden Bücher freilich nicht einordnen. Es fehlen ihnen die dazu notwendigen Kategorien der Eltern-Täter auf der einen und der politisierten Kinder auf der anderen Seite. Sie passen daher nicht in das Prokrustes-Bett einer Theorie eines Generationen-Diskurses seit 1945, wie Sigrid Weigel sie im Jahr 2002 formuliert hat.[3] Dieser in Werken wie Stephan Wackwitz' Ein unsichtbares Land , Tanja Dückers Himmelskörper oder auch Günter Grass' Im Krebsgang thematisierte Familienkonflikt findet hier nicht statt. Dazu sind die Eltern zu jung: sie sind 1927 bzw. 1929 geboren und waren bei Kriegsende 18 und 16 Jahre alt. Zwar werden sie in ihrer Schulzeit der nationalsozialistischen Gehirnwäsche nicht haben ausweichen können, sind auf Grund ihres Alters wohl aber kaum einer Nazi-Mitläuferschaft anklagbar. Ihr Bemühen nach dem Krieg besteht im Überleben und im Aufbau der eigenen Existenz. Ihre Kinder wiederum, um 1960 geboren, sind zu jung, um als Vertreter der Studentenbewegung politisch-generationale Kritik äußern zu können. Die Bücher spiegeln eher die Alltagsgeschichte der alten BRD wider und haben in dieser Hinsicht durchaus repräsentativen Charakter, indem sie literarisch verarbeitete authentische Einzelfälle schildern. Politik und jüngste Geschichte sind höchstens indirekt anwesend. So gesehen handelt es sich bei diesen Romanen um Erlebnisse zweier zeitlich, ca. 15 Jahre, versetzten Zwischengenerationen, deren Problematik nicht unbedingt in einer Theorie des Generationenkonflikts aufgehen. Die "Schlosser-Saga" (so der fiktive Name der Familie) erzählt nicht nur eine individuelle Familiengeschichte, sondern spiegelt darüberhinaus das Panorama von Nachkriegszeit und Wirtschaftswunder, von Kindheit und Jugend in einem materiell wieder hergestellten Wohlstandsland, und die Texte können als eine Art Psychogramm der westdeutschen Mittelklasse gelten.

Formal knüpft Die Liebenden an die Tradition der (politisch motivierten) dokumentarischen Literatur der 60er Jahre an, während der Kindheitsroman eher auf den klassischen Bildungsroman rekurriert und in der Anlage und Erzählhaltung stark an den Simplizissismus von Grimmelshausen erinnert. Schließlich ist von dem emotionalen Sog zu sprechen, den die Texte und ihre Hauptfiguren auf den Leser ausüben, so sehr vermag der Autor ihn in seine Geschichten hineinzuziehen, Wiedererkennen herzustellen und Teilidentifikationen zu liefern.

Gerhard Henschel unternimmt in den Liebenden den Versuch, das Leben seiner Eltern zu rekonstruieren, von den Anfängen in der Kriegszeit bis hin zum Tod des Vaters im Jahr 1993. Dieses Unterfangen ist gleichzeitig eine Homage und Liebeserklärung an ihre so unterschiedlichen Persönlichkeiten. Genau genommen fungiert Henschel bei der Aufarbeitung des Briefwechsels seiner Eltern nicht als Autor, sondern als Herausgeber, der aus der über 120 (!) Aktenordner umfassenden Korrepondenz seiner Familie die hier abgedruckten Briefe chronologisch ausgewählt und frei bearbeitet zusammenstellt. Damit nimmt die Korrespondenz, narratologisch gesehen, selbst die Rolle des Erzählers ein.

 

II. Familienroman erster Teil: Die Eltern (1940 bis 1993)

Vater Richard Schlosser und Mutter Ingeborg Lüttjes lernen sich kurz nach Kriegsende in der niedersächsischen Kleinstadt Jever kennen, besuchen dort das Gymnasium und machen kriegsbedingt mit zwei bzw. drei Jahren Verspätung ihr Abitur. Die Ursachen für das letztendliche Scheitern der Ehe 32 Jahre später lassen sich schon in diesen Jahren ansatzweise finden: Richard, im Jahr 1927 geboren, wird mit 16 als Hitlerjunge Flakhelfer, muß mit 17 in den Krieg an die Ostfront, erkrankt mit 18 in einem sowjetischen Kriegsgefangenenlager an einer Rippenfellentzündung und einem Lungenleiden und wird 1945 als Kriegsversehrter entlassen; diese Krankheit wird ihn später wieder einholen. Weiter steht der unfreie Richard unter der religiösen Fuchtel seines Vaters, eines erzkonservativen patriarchalischen Pfarrers und Superintendenten, der als Offizier den 1. und 2. Weltkrieg unbeschadet überstand. Dieser Mann nun macht im Herbst 1947 seinem jugendlichen Sohn Vorhaltungen. Er solle sich dem Verfall der Sitten entgegenstemmen: "Weniger durch Worte als durch Haltung." Und er legt dem Kriegsbeschädigten "eine harte Selbstzucht" (Die Liebenden, 72) nahe, wenn er die drei 'verlorenen' Jahre einholen wolle. Selbst das Tanzen wird dem damals 20jährigen als Gefahr dargestellt; es kreiere eine "böse Lust im Herzen" (73), und man solle sich "nicht von Gier" überwältigen lassen (73). Und im November 1950 warnt der Vater den jetzt 23-jährigen Sohn vor dem Atheismus Friedrich Nietzsches und ermahnt ihn: "Trag Du Dein Teil dazu bei, daß die Zerstörungen, die durch Nietzsche geschehen sind, von einem Sohn aus einem evangelischen Pfarrhaus [also Richard] z.T. repariert werden" (125). Richard leidet also doppelt: unter seinen traumatischen Kriegserfahrungen und -- mit nachgerade kafkaschen Dimensionen -- unter der Kuratel des selbstgerechten Vaters. Hier liegen dann auch schon die letzten Gründe für seinen späteren Alkoholismus, seine Misanthropie und die folgende gesellschaftliche Abkapselung.

Seine spätere Frau Ingeborg Lütjes, die einer toleranten friesischen Lehrersfamilie entstammt, ist dagegen eine ausgesprochene Frohnatur, ein Wesen voller Lebenslust und resoluter Vitalität. Und in der Tat übernimmt sie die aktive Rolle in der Ehe, beim Aufbau einer gemeinsamen Existenz und beim Aufziehen der vier Kinder.

Der Beginn ihrer Liebe fällt in das Jahr 1950, und es enspannt sich eine ausgedehnte Korrespondenz, da die beiden aus wirtschaftlichen Gründen erst im Herbst 1954 heiraten können. Richard schuftet zunächst im Bergbau untertage und beginnt 1950 ein Maschinenbaustudium an der TH Hannover, während Inge eine Ausbildung als Fremdsprachenkorrespondentin macht und längere Zeit als Au Pair in England und später in Paris arbeitet, wo sie, typisch, von den Arbeitgebern der Siegermächte ausgebeutet wird.

Die Korrespondenz zwischen Richard und Ingeborg, die erst nach ihrer Heirat in eine eigene, nasse Neubauwohnung an der Peripherie Hannovers ziehen können, zeigt neben den zärtlichen Liebesbeteuerungen auch ihre Schwierigkeiten beim Existenzaufbau: dazu gehören Geldsorgen, die unzureichende Wohnsituation und die zahllosen erniedrigenden, erschöpfenden Behördengänge. Bei den tagtäglichen Problemen bleibt das Zeitgeschehen weitgehend ausgeblendet, und Politik wird lediglich als Wetterleuchten am Horizont registriert. So entpolitisiert muß man sich wohl das Bewußtsein der Durchschnittsbürger in der BRD fürdie gesamte Epoche des Wiederaufbaus vorstellen.

Im August 1956 kommt dann das erste Kind, und 1958 schließlich besteht Richard sein Examen und braucht nur noch seine Diplomarbeit zu schreiben. Doch die Schicksalsschläge reißen nich ab. Die verschleppte Krankheit aus der russischen Kriegsgefangenschaft meldet sich wieder: bei ihm wird offene Tuberkulose diagnostiziert, eine Situation, die das Leben der beiden radikal ändert. Gerade in dem Moment der Aussicht auf eine freundlichere Zukunft muß Richard sich einer lebensgefährlichen Operation unterziehen und verbringt die nächsten 18 Monate in Kliniken, zunächst in der Nähe Hannovers, dann über ein Jahr in einer Reha-Klinik im weit entfernten Todtmoos im Schwarzwald. Man lebt also wiederum fast zwei Jahre getrennt. Die beiden wohnen - krankheitsbedingt und aus beruflichen Gründen -- im Zeitraum von 1950 bis 1959 praktisch nur zwei Jahre zusammen, wahrlich keine gute Ausgangssituation für eine glückliche Ehe, die ja mit einer zu Herzen gehenden zärtlichen Liebesgeschichte begonnen hat. Inge an Richard, 17.1. 1951: "Freut es Dich, wenn ich Dir nur einen kleinen Satz schreibe, der meine ganzen Gefühle in sich birgt? Ich hab Dich lieb. In herzlichem Gedenken immer Deine Inge." (148) Vier Tage später schließt Richard seinen Antwortbrief so ab: "Darum laß mich am Ende etwas sagen, was dich hoffentlich genauso freut: ich habe dich nicht nur lieb, ich liebe Dich mehr, als ich mit Worten erklären könnte. Dein Richard."(149)

Die lange verschleppte Krankheit und die Frustration, sein Studium nicht angemessen beenden zu können, dazu die Vorwürfe seines Vaters, gescheitert zu sein, lassen Richard im Laufe der Jahre zu einem vom Leben verbitterten Querulanten werden, der - nachdem ihm von den Behörden 'Gerechtigkeit' (in Form von Entschädigungen, Beihilfen etc. pp.) verwehrt wird, sich vom neuen Staat betrogen fühlt. Ende des Jahres 1959 darf er dann endlich aus der Klinik nach Hause, in die erste vermieterfreie Wohnung, um die seine Frau zäh gekämpft hat, und er beginnt Anfang 1960 im Alter von fast 33 Jahren mit seiner Diplomarbeit.

Das Jahr 1962 freilich bringt dann Schönes. Es ist das Geburtsjahr von Martin, dem zweiten Sohn (eben dem kindlichen Erzähler im Kindheitsroman). Richard schließt sein Studium erfolgreich ab und tritt eine später verbeamtete Stelle beim Bundeswehr-Amt für Wehrtechnik und -beschaffung an. Dort in Koblenz wohnt er zunächst wiederum allein, die Familie kann erst später nachkommen. Aber es geht langsam bergauf: ab 1962 besitzt man das erste Fernsehgerät, man trinkt Dujardin, spielt in der Fernsehlotterie und verzehrt Puschkin-Kirschen. Dazu kommt die Anschaffung des ersten gebrauchten VW-Käfers. Und man schmiedet Baupläne. Für politisch-historische Reflexionen oder Nachdenken über die Vergangenheit bleibt da allerdings kaum Zeit: hier wird nahezu paradigmatisch das kollektive Versäumnis der westdeutschen Bevölkerung sichtbar. Das Glück dieser Jahre liegt dann wohl eher im Prozeß des Aufbauens selbst, dem Nach-Vorne-Schauen, in dem Wunsch nach gesellschaftlichem Aufstieg und wirtschaftlichem Wohlstand. Es scheint der Weg selbst die Erfüllung zu sein, weniger das Erreichen seines Ziels. Der spätere hoheLebensstandard, so zeigt sich, bringt schließlich allerdings nicht das ganze erhoffte Lebensglück, sondern eher Trostlosigkeit, Sinnleere und Entfremdung mit sich, Phänomene, die letztendlich zur familiären Katastrophe führen werden.

Das eigene Haus als Symbol gesellschaftlicher Ankunft und Unabhängigkeit ist Richards größter Traum. So schreibt Inge in einem Brief Ende 1967 an ihre Eltern: "Von unserem zukünftigen Haus hat Richard inzwischen ein maßstabsgerechtes Modell gebaut, 1:50, und das nähme er am liebsten noch mit ins Bett, so groß ist seine Vorfreude."(561) Und mit dem Einzug ins Eigenheim im Jahre 1970 scheint man im Wirtschaftswunder angekommen zu sein. Exemplarische Details des kleinbürgerlichenWohlstands, die neuen Küchenmaschinen, die Urlaubsfahrten ins Salzkammergut und die Hollywoodschaukel im Garten scheinen es zu beweisen. Im Wohnzimmer hängen impressionistische Drucke (nur soweit reicht das Verständnis für Kunst), man macht einen Spanienurlaub (in der Touristenfalle Tossa), der freilich nicht mehr richtig genossen wird: schon die Anfahrt bringt Streit: der Vater traut sich mit seiner langen OP-Narbe nicht an den Strand und verdirbt den Familienspaß. Die Vergangenheit läßt sich nicht abschütteln.

Doch als man ein finanziell sorgenfreies Leben und eine familiäre bürgerliche Idylle vor sich sieht, ein neuer Schlag: der Vater wird 1973 dienstlich befördert, aber gleichzeitig nach Meppen ins Emsland versetzt. Wiederum lebt man knapp zwei Jahre getrennt; die tüchtige Inge muss weitgehend allein für den Haushalt und die vier Kinder sorgen. In der Folge werden die ersten Eheschwierigkeiten und Entfremdungsanzeichen spürbar. Inge beschwert sich über Richards Desinteresse und Herzlosigkeit bei familiären Belangen. Nach dem Verkauf des Hauses in Koblenz und dem Umzug nach Meppen im Juni 1975 scheint auch diese Ehekrise gebannt. Es folgen Reisen nach Übersee, man kann sich neue Autos leisten, die Kinder studieren oder halten auf dem Gymnasium gut mit, doch in Meppen verstärken sich Richards Depressionen, und die Enttäuschung über seinen Lebensbetrug zeigt sich als Unlust an seinem Beruf und er beginnt stark zu trinken. Die bürgerlich-materielle Fassade beginnt zu bröckeln. Wie schon Jahrzehnte früher unternimmt er daraufhin verzweifelte Versuche, vom Staat Recht und Gerechtigkeit zu erhalten und wird dabei zu einer traurigen Figur, einem gegen Windmühlen kämpfenden Mann von La Mancha. Sein Privatkrieg mit den Behörden macht ihn zum klassischen Querulanten. Während seine nörglerischen Zwangshandlungen manische Züge annehmen, muß seine verzweifelte Frau alleine in Urlaub fahren.

Ein Brief von Inge an Richard vom 30.10.1980 kann diese beginnende Zerrüttung demonstrieren. Sie leidet an Richards Abkapselung, flieht zu ihren Eltern und resümiert: "Ich habe in all den knappen Jahren nichts dagegen gehabt, 'für später' krumm zu liegen und zu schuften wie du auch. Aber später ist jetzt, jetzt, jetzt!" Und: "Nach menschlichem Ermessen haben wir zwei Drittel unseres Lebens hinter uns. Wann endlich, glaubst Du, kann man endlich anders als in Versorgungskategorien denken? Machmal glaube ich, es wird nichts mehr mit uns. Denn da ist noch ein anderes Problem, für mich das größere. Das ist dein Alkoholkonsum. Daß Du deinen Keller oder dein Auto abschließt, ändert nichts daran, daß ich genau weiß, was da läuft.[...] Manchmal bin ich schrecklich deprimiert und weiß nicht, wie es weitergehen soll.[...]Wenn das so weitergeht, muß ich passen. Inge" (629). [g1] Die Ursachen für Richards Verhalten liegen wohl in einer Sinnkrise: Richard ist einem deutschen Pfarrhaus entlaufen, und rebelliert unbewußt gegen seinen strengen und machtvollen christlichen Vater und gegen dessen allmächtige Religion. Dagegen will er die Perfektion seiner Wissenschaft und ihrer technischen Vernunft setzen, wohl in der Absicht, Sinn und Sicherheit außerhalb des Christentums zu finden. Sein Scheitern an dieser Substitution wird zur Tragödie der Familie. Aber auch Inges Leben bleibt unerfüllt. Spät erkennt sie, daß sie nur dem Mann und ihren Kindern gelebt hat, und ihre Versuche gegen Ende ihres Lebens, sich eine unabhängigere Existenz zu schaffen, bleiben vergeblich. Sie nimmt einen Teilzeitjob an, schreibt Lyrik. Ihre Gedichte werden freilich nirgendwo angenommen, und ihr Mann unterstützt sie nicht bei ihren Emanzipationsversuchen. Doch Schlimmeres wartet auf die Familie. 1983 wird bei Inge Lymphknotenkrebs diagnostiziert, der 1985 wieder auftritt und eine chemotherapeutische Behandlung notwendig werden läßt. Dazu kommen multiple Erkrankungen Richards: Diabetes, Hypertonie, Rippenserienfraktur. 1986 bricht dann nach 32 Jahren die Ehe auseinander. Im November 1989, im Monat des Falls der Berliner Mauer, stirbt Inge im Alter von 60 Jahren. Richard zieht sich in der Folgezeit immer mehr von der Umwelt zurück, schließt sich in sein viel zu großes Haus ein und versucht, mit seinen Schuldgefühlen fertig zu werden. Und nach dem Tod seiner Frau beginnt er zu begreifen, daß er ohne Inge nicht leben kann und woher viele seiner Traumata stammen. Er beginnt, offen den strengen patriarchalischen Vater zu kritisieren (der natürlich bereits lange tot ist). 1993, vier Jahre nach Inges Tod, stirbt auch Richard. Der letzte Brief im Roman ist ein lakonisches Schreiben von Martin, dem zweitjüngsten Kind, an den Verlag TimeLife mit der Bitte, den Namen seines Vaters aus der Kundenkartei zu löschen.

 

III. Familienroman zweiter Teil: Die Kinder (1966 bis 1975)

Wirken die authentischen Briefe in Die Liebenden wie eine Wiederaufnahme der dokumentarischen Literatur der 60er Jahre, so ist der zwei Jahre später erschienene Kindheitsroman eher in die Tradition des deutschen Bildungsromans einzuordnen. Der 1962 geborene Verfasser, der hier acht Jahre seiner Kindheit wieder auferstehen läßt, bedient sich einer raffinierten und nur scheinbar naiven Erzählperspektive eines Kindes, das in der Ich-Form von seinen ersten formativen Lebensjahren berichtet. Diese Erinnerungen nun eröffnen der zwischen ca. 1950 und 1980 geborenen Lesergeneration das Wiederentdecken je eigener Lebenserfahrungen, und die Photos auf den Innenseiten des Einbands verstärken sie noch. Diese Jahre der Familie Schlosser werden ausschnitthaft, mikroskopisch, mit der Lupen-Perspektive des sich entwickelnden Kinds besichtigt. Zu Beginn des Romans erkennt sich das Kind beim Füttern als Individuum, und es kommt zum ersten Stück einer Identitätsfindung: "Ein Löffel für Martin: Das war ich selbst. Martin Schlosser." (Kindheitsroman, 7)

Die Erfahrungen des Kindes werden so in die tabula rasa seiner Psyche eingedrückt und zumeist reflexionslos wiedergegeben. Diese Erzählmethode hat berühmte literarische Vorbilder. Sie mutet wie eine unbewusste kindliche Variante von Arno Schmidts Diskontinuitätstechnik an, als unzusammenhängende Ereignisreihe, da nach Schmidts Verständnis der Erinnerungsprozess des Menschen "kein Kontinuum" ist, sondern eine stark selektive Aneinanderreihung von Einzeleindrücken.[4]

Martins Aufwachsen wird so zu einem Sozialisierungsprozeß, der von einem sich Ein- und Unterordnen und dem Akzeptieren der herrschenden Verhältnisse geprägt ist. Die Welterfahrung des Jungen wird zunächst durch Sprache bestimmt, durch vorgeschriebene Benennungen der Objektwelt; das ähnelt den linguistischen Zwangshandlungen Kaspars in Peter Handkes gleichnamigem Stück. Was zum Beispiel lernt er? Es sind Fetzen von Kinderliedern und -spielen mit einem eher martialischen Horizont ("Maikäfer flieg" oder "Ich erkläre den Krieg"), die rituellen christlichen Gebete vor dem Essen: "Lieber Herr Jesus, sei unser Gast." Dann Mainzelmännchen gucken, Kaba trinken; Fernsehen und Fernsehreklame: "Erstmal enspannen, erstmal Picon", Bonanza und Rauchende Colts, "Ei, ei, ei Verpoorten", "Bauknecht weiß, was Frauen wünschen". US-Fernsehserien und Grimms Märchen verwischen sich gegenseitig im Bewußtsein des Jungen zu einem Info-Brei. Was für den erwachsenen Leser des Buchs amüsant-ironisch wirkt, ist dem Kind freilich höchster Ernst. Es wehrt sich mit der ihm eigenen kindlichen Logik gegen die Manipulation durch die Erwachsenenwelt: "Warum haben Hänsel und Gretel denn nicht das Kuchenhaus der Hexe aufgegessen?" (32) Dazu kommen die auf der Straße aufgesammelten Schimpfwörter und skatologischen Ausdrücke. Und wer erinnert sich an die schwarzen Punkte am weißen Himmel der VW-Käfer-Innenverkleidung? Dazu mußte man, wie Martin, hinten sitzen.

Der Jahresrhythmus ist durch seine Höhepunkte bestimmt. Weihnachten, Karneval, Ostern, die Sommerferien. Den wachsenden Wohlstand der Eltern nimmt Martin in der Vorweihnachtszeit wahr: Im Gegensatz zum vorhergehenden Jahr enthalten die Türchen der Adventskalender nun Schokolade, und im Jahr darauf gibt es Spekulatius MIT Mandelsplittern. Das Kind lernt. Es lernt mit Erschrecken die Nichtwörtlichkeit metaphorischer Sprache: "Sich eine Scheibe von jemandem abschneiden"; es lernt den Unterschied zwischen Gut und Böse, es lernt soziale Unterschiede kennen, es begeht aus Süßigkeitengier seinen ersten kleinen Ladendiebstahl und macht erste Erfahrungen mit dem Tod, als es einen überfahrenen Hund auf der Straße sieht. In der Schule öffnet sich dem begabten Jungen durch Lesen und Schreiben eine neue, aufregende Welt: "Er entdeckt seinen Sinn für Schönheit und Kunst, als der Schulchor zu Weihnachten singt: 'Vom Himmel hoch da komm ich her' -- davon kriegte ich eine Gänsehaut". (114) Und er beginnt ein kritisches Bewußtsein zu entwickeln: in der Schule werden die Großbuchstaben durchgenommen. Aber zum Schluß fehlt immer noch das große Eszett. Er fragt danach und bekommt zur Antwort: "Das gebe es nicht.[...] Das war der größte Beschiß, den die Welt je erlebt hatte." (131)

Oder er erlebt typische Geburtstagsenttäuschungen, die dem Achtjährigen eine Lektion in Sachen Realität erteilen: "Zu meinem Geburtstag wollte ich Tom Sawyer und Huckleberry Finn einladen, aber Mama sagte, die seien schon viel älter als im Fernsehen und außerdem Ausländer. Die können gar kein Deutsch. Wenn das so war, wollte ich meinen Geburtstag überhaupt nicht feiern. Ich knallte die Zimmertür hinter mir zu und heulte in den gelbroten, kratzigen Vorhangstoff. 'Komm lieber Mai und mache'.". (130) Gerade der so unvermittelt gesetzte, kontextlose Nachsatz mit der Zeile des romantischen Liedes illustriert die Erzählmethode des Autors, der das Kind seine unverbundenen Einzelerfahrungen zu einem Gesamthorizont zusammensetzen läßt.

Ein Beispiel für die Ideologisierung durch bürgerliche Ordnungs- und Sauberkeitprinzipien sind die Diktate im Deutschunterricht. Was müssen die Schüler schreiben? "Bei Schlampinchen: 'Alles liegt durcheinander. Das Buch ist zerrissen. Das Heft ist schmutzig. Der Füller ist leer. Die Schule ist aus. Es läutet. Die Kinder räumen auf. Den Bleistift in das Mäppchen, das Mäppchen in den Ranzen, den Ranzen auf den Rücken, schnell nach Hause.[...]'" Oder singen: "Froh zu sein bedarf es wenig, und wer froh ist, ist ein König." (184)

So geht es nun von Jahr zu Jahr. Die nur scheinbar lapidaren punktuellen Erfahrungen Martins verdichten sich und werden synthetisiert. Dazu gehört die Erfahrung ethischer Konflikte, wie z.B. vom Recht auf Notlügen. Wenn es das gäbe, brauche er sich keine Sorgen zu machen: "Dann war ich beim achten Gebot aus dem Schneider. Meine Lügen waren immer Notlügen gewesen. Ohne Not hätte ich ja überhaupt nicht lügen müssen." (273) Zu diesem Zeitpunkt ist er schon auf dem Gymnasium. Und wie in den Liebenden bleiben Zeitgeschichte und Politik im Hintergrund. Er hört von Biafra oder bei den Olympischen Spielen in München 1972 den Namen Ulrike Mayfarths und verwechselt ihn mit dem einer gesuchten Terroristin. Und wie viele andere Teenager wird Martin Anfang der 70er Jahre ein Borussia Möchengladbach-Fan. Da lernt er eine neue Sprache, die der Sportwelt. Und die ist genauso unauthentisch wie die der Reklame- und Fernsehserienwelt. Die Namen der Fußballhelden der Fohlen-Elf vom Bökelberg bekommen einen auratischen Charakter, ganz ähnlich wie bei Peter Handke, dessen Fetisch-Gedicht von Ende der 60er Jahre lediglich aus der Mannschaftsaufstellung des 1. FC Nürnberg besteht. Die Ehekrise der Eltern geht selbstverständlich auch an den Kindern nicht spurlos vorüber. Sie streiten sich, wie viele Familien, gerade an Feiertagen, so hier am Weihnachtsabend des Jahres 1973. Mama schimpft, Papa schlägt die Kellertür hinter sich zu. Die Festtagsstimmung ist hin. Ein Gefühl von Zeit und Vergänglichkeit erwacht in Martin, und er rechnet laut vor, wie alt die Familienmitglieder im Jahr 2000 sein werden: "Hör bloß auf, sagte Mama. Und lümmel dich nicht so hin." ( 445) Der Leser der Liebenden weiß bereits, daß beide Eltern in jenem Jahr nicht mehr leben werden. Ein erwachendes Bewußtsein für Finalität und ein erstes Verständnis für die Menschlichkeit seiner Eltern beschließen den kindlichen Erinnerungsband.

Der nun 13jährige Martin befindet sich vor dem Umzug in die neue Stadt allein zu Haus und unternimmt heimlich einen Besichtigungsrundgang, kramt in den Sachen der Geschwister und Eltern, was einer Bestandsaufnahme, einer Haushaltsinventur gleichkommt. Höhepunkt und Lernstunde wird das Durchsuchen des väterlichen Schreibtisches, wo er z.B. alte Schulzeugnisse findet, aus denen hervorgeht, daß Richard sogar einmal sitzengeblieben war: das relativiert die väterliche Autorität: "Hatte man also einen Sitzenbleiber als Vater!" (479) Doch der Respekt für ihn wird gleich darauf wieder hergestellt, als ihm offizielle dienstliche Beurteilungen in die Hände fallen, aus denen hervorgeht, dass Herr Schlosser ein "sehr befähigter wissenschaftlicher Mitarbeiter [ist], der sich trotz seiner Kriegsbeschädigung [...] weit über das normale Maß für die umfangreichen und komplizierten Aufgaben der Steuerungstechnik einsetzt." (479) Zum ersten Mal empfindet er so etwas wie Bewunderung für seinen Vater. Dann noch schnell im Volksbrockhaus unter G (= Geschlecht) nachgeschaut und Sexualtermini studiert: von Gebärmutter bis Vorhaut.

Schließlich muß man die Heimat seiner Kindheit verlassen. Während der Umzugsfahrt nach Meppen schläft er ein und wacht erst wieder bei der Ankunft dort auf und sieht in der Dunkelheit ein weißes Garagentor, in dem sich die Autoscheinwerfer spiegeln, als ob er in seine neue ungewisse, noch leere Zukunft blicke. Seine Kindheit ist zu Ende, und er hat ein Stück seines Entwicklungsromans abgeschlossen: die Pubertät kann beginnen: "Denn man tau" (494) lautet der lapidare letzte Satz im Roman.

 

IV. Theoretische Überlegungen als Aufgabe

Es ist schwer, sich der Faszination dieser Texte zu entziehen. Die Alltagsgeschichte der BRD am Beispiel von Mitgliedern von zwei Generationen einer Familie entwickelt einen eigenen Sog und kreiert eine Art süchtigen Verfallenseins an den Text: Man möchte immer mehr Einzelheiten über diese Personen erfahren. Der Leser empfindet - im Sinne der historischen romantischen Theorie - eine ausgesprochene Empathie mit ihnen: Man teilt ihre Sehnsüchte, Hoffnungen, Frustrationen, ihr Unglück und ihre Freuden und wird nolens volens selbst zu einem Mitglied der Familie Schlosser.

In dieser Stärke liegt gleichzeitig die Problematik der Bücher, die sich als produktions- und rezeptionspsychologische Schwierigkeit niederschlägt. Oder als Frage formuliert: Wie weit ist für den Autor Gerhard Henschel verantwortbar, solche familiären Intimitäten in die Öffentlichkeit zu zerren? Verletzt er nicht die Privatsphäre seiner Familie und das Recht seiner Eltern auf Diskretion? Verdiente es das Andenken an seine Eltern nicht, taktvoller, weniger offen zu sein? Und wie denken seine Geschwister darüber? Anders gefragt: Macht Henschel sich durch die Bloßstellung der privatesten Familienangelegenheiten möglicherweise eines literarischen Exhibitionismus schuldig? Und weiter gefragt, wird dann der Leser, der so in die familiäre Intimsphäre eindringt, nicht eigentlich zu einem literarischen Voyeur, der nicht genug bekommen kann vom Leben dieser unfreiwillig bloßgestellten Menschen?

Es gibt, soviel ich sehe, noch keine generelle Theorie des literarischen Exhibitionismus bzw. Voyeurismus, es existieren lediglich Einzelüberlegungen, von denen zwei skizziert werden sollen. Jan-Philipp Reemtsma hat sich anläßlich der Veröffentlichung des Tagebuchs aus dem Jahr 1954 von Alice Schmidt [5], der Ehefrau Arno Schmidts, Gedanken zur Relation von "philologischer Neugier" und "posthumanem Anstand" gemacht und sieht diesen Widerspruch von Verehrung und Indiskretion als eng zusammengehörig (Alice Schmidt, Tagebuch, 9), und zwar in der Weise, daß Verehrung immer auch einen Zug zur Indiskretion enthalte, weil im Willen zur "Sich-Bemächtigung" die Distanz der Verehrung aufgegeben werde. Und dieser Sachverhalt kreiere dann ein "Verehrungs/Indiskretions-Dilemma" (10), aus dem der Biograph (in den Liebenden wäre das der Herausgeber-Sohn des Paares) sich nie ganz befreien kann. Nun könnte man Henschel zu Gute halten, daß der familiäre Briefwechsel ja weit über Privates hinausgeht und als Dokument deutscher Nachkriegswirklichkeit zu verstehen sei und damit von kulturgeschichtlichem Interesse ist. Aber dennoch muß weiter gefragt werden, wie Gerhard Henschel das moralische Recht herleitet, die Privatsphäre seiner Eltern, die ja nie Anspruch auf literarische bzw. kulturelle Repräsentativität erhoben, nur für sich selbst schrieben und keine bedeutenden Figuren der Zeitgeschichte waren, 10 bis15 Jahre nach deren Tod so nackt an die Öffentlichkeit zu bringen? Eigentlich weiß auch Reemtsma keine rechte Antwort auf dieses Dilemma, wenn er über den Leser solch privatistischer Bücher schreibt: "Ich würde mir schließlich genügend Weltkundigkeit [der Leser] wünschen, so daß sich das Befremden, das sich immer einstellt, wenn man plötzlich mit Privatestem konfrontiert wird, in Grenzen hält." Und in nächsten Satz meint er: "Die so herbeigewünschten Leserinnen und Leser würden wissen, daß der Mensch merkwürdig ist." (11) Das Konzept eines derart aufgeklärten Lesers zu vertreten, scheint mir nun doch ein wenig zu idealistisch und naiv.

Und in seiner Kafka-Biographie [6] aus dem Jahr 2002 erörtert Rainer Stach ein ähnliches Problem, wenn er die Veröffentlichung von Kafkas Briefen an Felice diskutiert: "Nicht wenige Leser verspüren eine schmerzliche Scham, ein Widerstreben, das die Frage unabweisbar macht, ob die Veröffentlichung dieser Dokumente überhaupt zu rechtfertigen ist" (Stach, 142). Sie gehören nämlich, so Stach, zu den ungeheuerlichsten Dokumenten der Weltliteratur, und trügen "exhibitionistische Züge". (142) Was die Leser dieser Briefe betrifft, so spricht Stach von einer mitempfundenen Qual (mit dem Autor Kafka). Und er fragt rhetorisch: "Ist es die Scham des Voyeurs, welche die Briefe in jedem Leser wecken? Das Verhängnis, die Hilflosigkeit und das Scheitern, deren intime Zeugen wir werden?" (477) Eine ähnliche Scham ereilt den Leser auch bei der Lektüre der Bücher von Henschel. Nur existiert gleichzeitig wohl auch ein dubioses menschliches Verlangen als Auslöser für die Scham, und dieses Phänomen möchte ich die Gier nach (metaphorischer) Penetration nennen, nämlich das Sich-Hineinwühlen in ein fremdes Privatleben.

Das Feuilleton reagierte freilich nach der Veröffentlichung der Romane begeistert und bescheinigt den Werken eine ernstzunehmende poetische Qualität, spricht von rührenden, bezaubernden Texten, von wunderbaren Kompositionen. Die beiden Romane -- trotz ihrer zusammengenommen 1200 Seiten -- sind in der Tat sehr fesselnd, wohl wegen des Sich-Wiedererkennens, der Freisetzung eines Stückes 'Westalgie' bei in der alten BRD aufgewachsenen Deutschen. Und am Ende des Kindheitsromans, auf Seite 494 angekommen, geht es dem Leser wie Dieter Hildebrandt, der am Schluß seiner Besprechung in der Zeit seinem Wunsch nach nie endender Fortsetzung Ausdruck verleiht: "O Gott, das müsste jetzt ewig so weitergehen."[7]

Endnoten

1 Als ersten Überblick siehe zu diesem Thema die Zusammenfassung von David Midgley "Das ausufernde Gedächtnis". In Kulturpoetik 3, Heft 2, 2003. 297-306.

2 Gerhard Henschel, Die Liebenden (Hamburg: Hoffmann und Campe, 2002) und Kindheitsroman (Hamburg: Hoffmann und Campe, 2004).

3 Sigrid Weigel, "'Generation' as a Symbolic Form'. On the Genealogical Discourse of Memory since 1945." In The Germanic Review. Vol 77.4. Fall 2002. 264-277.

4 Vrgl. Arno Schmidt, Aus dem Leben eines Fauns. Bargfelder Ausgabe I/1.2. (Bargfeld: Eine Edition der Arno Schmidt Stiftung im Haffmans Verlag, 1987) 301.

5 Jan-Philipp Reemtsma, "Vorwort". In Alice Schmidt: Tagebuch aus dem Jahr 1954. Susanne Fischer, Hg.(Bargfeld; Eine Edition der Arno Schmidt Stiftung im Suhrkamp Verlag, 2004) 5-11.

6 Rainer Stach, Kafka, Die Jahre der Entscheidungen (Frankfurt a.M.: S. Fischer, 2002).

7 Dieter Hildebrand, "Krümel aus dem Graubrot gepult." In Die Zeit, 25.3. 2004, Nr. 14 (Online-Ausgabe).