Glossen 25

Utz Rachowski

PSEUDONYM UND FALLBEIL
(Um Kopf und Kragen: für Erich Ohser)

I

Im großen Wohnzimmer mit dem ockerfarbenen Kachelofen, der sich nur von der Küche her heizen ließ, in der Winterzeit mit zunehmender Häufigkeit seit Advent, regelmäßig, das Zimmer behaglich warm, überwiegend am Sonntag Nachmittag, trieb mein Vater folgende Dinge:

Er nahm von einer plötzlichen Eingebung, die ihn jäh aus seinem roten Sessel katapultierte, übermannt, mit einem Griff den dreibeinigen Nierentisch von seinem Platz vor dem Chaiselonge und stellte ihn in die Mitte des Zimmers. Dabei gab er mit einer leicht drehenden Bewegung dem breiteren Teil der Niere bereits den Vorzug Richtung Wand.

Folgend ging er ohne Innehalten gegen den dunkelblattgrünen Knüpfteppich an der Wand los, riss, streckte geübt den rechten Arm, schnappte mit seinem kleinen Finger die Fadenaufhängung des Teppichs vom rostfreien stählernen Bildernagel, von dem er beim Einschlagen vor einigen Weihnachten lautstimmig kundtat, der Stahl hätte ewiges Leben.

Das gründunkel Geknüpfte war, regelmäßig, wiederkehrend, ein Gegenstand meiner Träume, der schlechten, die Wiese meines Schlafs, und wie auf der Vorlage, erstanden auf grünem Stoff nächtlich grünbraune Bäume, aus denen noch dunklere, schwärzliche Rehe traten, seitlich, beidseitlich und undergründig braundunkler Strauch, sie kamen die vielen Nächte, in die Gewebe meiner Träume, und mit ihnen trat die Angst. Aber Vater nahm den Teppich bei jedem Mal ab im großen Wohnzimmer von der Wand regelmäßig zur Winterszeit zunehmend häufig in jedem Advent immer sonntags am Nachmittag.

Und mein größerer Bruder und ich wussten es schon bald, daß Vater jetzt, noch bevor er die Gardinen zuziehen würde jetzt bei zeitig beginnender Dämmerung, gleich den großen schweren Apparat von der Küche herüber holen, den schwarzen Bildwerfer, die Filmmaschine zum Selberdrehen, und vorsichtig auf den Nierentisch im Wohnzimmer stellen wird, dann den Stecker in der nun herrschenden Dunkelheit im Zimmer lange suchen, am Ende wieder Licht machen, den Stecker in die Dose schieben, den Film einlegen, das Licht wieder ausmachen, das Licht aus der Linse auf die Wand ausrichten, die Schärfe des Bildes nachregeln und zuletzt sagen wird: Hoffentlich haut’s uns die Birne nicht wieder kaputt!

Denn schon mehrere Male an einem Sonntag war diese ungewöhnliche Glühbirne, sie war ungewöhnlich an Form, von einer Größe, die ich vorher noch nie sah, und hatte, wie Vater sagte und was nur mein Bruder mit ihm zusammen noch verstand, auch meine Mutter nicht, eine Stärke von einhundertfünfzig Watt und die weitere Eigenschaft, so schnell nicht mehr wieder zu bekommen, zu kaufen, also selten zu sein, durchgebrannt. Vater rief: Wenn’s zu heiß wird, müssen wir aufhören, erstmal! – und legte noch ein dünnes Büchlein unter die beiden Forderstützen des Apparates, um dieses Bild an der weißen Wand, das jetzt statt des gründunklen Traumteppichs, anstelle von Bäumen, Sträuchern und den bedrohlichen Rehen, die aus ihnen traten, jetzt dort hing, ein wenig höher zu bekommen, und es hieß: Vater und Sohn.

Vor Jahren früher, hieß das erste Bild der Filme, die Vater zwischen zwei Spulen des Bildwerfers gespannt und dann weiterdrehte Hänsel und Gretel, Der gestiefelte Kater, König Drosselbart und Schneewittchen, und noch vorher, Ewigkeiten, und fast vergessen, aber nicht ganz, weil die Erinnerung an das an einem Wintersonntag abgedunkelte große Wohnzimmer, die Erinnerung an die Atmosphäre dieses Bildes, auch die an die Wand gestrahlten Bilder in unserer Erinnerung wieder aufrief, kurz mit aufscheinen ließ und von dort in uns zurückstrahlte aus einer Zeit, da mein Bruder und ich noch sehr jung gewesen sein müssen: Die Geschichte vom Teddybär. (13.9.05)

Aber in den letzten Jahren, die Winter hindurch waren es Vater und Sohn, ein anderer Vater und ein anderer Sohn, die immer häufiger an der ausgeleuchteten Wohnzimmerwand aufleuchteten und unser Interesse und die Begeisterung unseres Vaters fanden und Teddybär fährt Schlitten, Teddybär hat Geburtstag und Weihnachten mit Teddybär, vielleicht die Jahre der Unschuld, ablösten. Denn in den Geschichten um Vater und Sohn, erkannten wir uns, erkannten wir, trotz der keineswegs zurückhaltenden Beteiligung, die wir den Streichen der beiden anderen, fremden Gestalten, zuteil werden ließen, unseren Vater mit uns und wir mit ihm, ihn und uns, nicht. Im Gegenteil, den Vater der Bilder an der Wand vor Augen, erkannten wir um so mehr den Unterschied zum eigenen, wo dieser das Staunen über seinen Sohn trug und durch ihn wie neu erlernte mit fürsorglicher Geduld, also seinen Wesenszug, hatte unserer die Strenge und den Jähzorn. Am Ende wussten wir uns nicht einmal zu erklären, was unser Vater mit den Geschichten um Vater und Sohn uns denn eigentlich sagen wollte. Vielleicht seine Sehnsucht. Wie es sein könnte mit uns. Und ihm. Wie es sein müsste. Denn er war es mit Sicherheit nicht, über das Äußere weit hinaus, der solche Streiche machte, mitmachte mit dem Sohn, bestaunte und verwundert ertrug, dessen Streiche, die des Sohnes! Vater machte die eigenen, nur wieder für sich selbst, und rollte eines Tages den Knüpfteppich, den schönen dickfaserigen rotschwarzen unter dem Fernsehtisch zusammen, ließ uns an der Wand hängen den dunkelbedrohlichen und zog in eine andere Stadt zusammen mit einer siebenundzwanzig Jahre jüngeren Frau. Aber wir staunten nicht. Und vermieden Besuche.

Dann nochmals wenige Jahre danach, inzwischen zynisch und in einer Freundesrunde samstags am Kneipentisch, einige davon älter als ich, beschlossen wir jedes Mal heraus aus einer Langeweile pur, meinen Vater mit seiner neuen jungen Frau in der Nacht zu besuchen. Aber es war etwas anderes damit gemeint, und wir lachten ein anderes Lachen. Über meinen Vater.

 

II

Im Jahre 1994 war ich Mitgründer und wurde einer der beiden Redakteure der in Dresden erscheinenden Zeitschrift für Literatur und Kunst „Ostragehege“. Bald darauf rezensierte ich in diesem Blatt (vor allem aus eigenem Interesse heraus) das Buch des in Meerane lebenden Schriftstellers Wolfgang Eckert „Heimat, deine Sterne… Leben und Sterben des Erich Knauf. Eine Biografie“.[1] Knauf, der seit 1922 in Plauen eine Anstellung als Kritiker bei der sozialdemokratischen „Volkszeitung für das Vogtland“ hat, befreundete sich dort auch mit dem Karikaturisten Erich Ohser, dem späteren Schöpfer der Zeichnungen von Vater und Sohn, die er unter dem Pseudonym „e. o. plauen“ veröffentlichte. Ich schrieb in der Rezension zum Buch:

1934 wird Erich Knauf wegen eines Spottgedichts auf Goebbels für einige Monate in das KZ Oranienburg eingeliefert. Der Text des Haftbefehls lautet: "Da Sie in Ihrem Artikel über die Staatsoper weit über das Maß der Kritik hinausgegangen sind und dadurch eine erhebliche Erregung bei der Bevölkerung hervorgerufen haben, werden Sie zu Ihrem eigenen Schutz bis auf weiteres in Schutzhaft genommen." Der Rezensent kennt diesen Ton, die Sätze mit den merkwürdigen Doppelungen, seine Bewerbung zu einem Germanistikstudium scheiterte 1979 an dem Satz: "Eine parteiliche Haltung zu unserer Partei ist nicht ersichtlich". So geht es immer los, und der rezensierende Autor hat sich erlaubt, Wolfgang Eckerts Buch auch unter diesem Aspekt weiterzulesen, unter dem Diktaturprisma, und er ist auf die Frage gestoßen, ob ein Schriftsteller oder andersweitig Begabter denn unbedingt und unter allen politischen Umständen in seiner Zeit öffentlich anwesend sein muß, immer ein bisschen auch in der Nähe der Macht. Und verweist auf die beschämend gähnend-leeren Schubladen einer möglichen, substantiell kritischen, Literatur am Ende beider deutscher Diktaturen und hinterfragt die Existenz oder den Sinn einer sogenannten "Inneren Emigration", deren Ergebnisse jeweils halbes Mitmachen und besagte Schubladen waren. Erich Kästner 'darf’ unter Pseudonym das Drehbuch zum Film 'Münchhausen’ schreiben, Erich Ohser 'muß’ solch ein Pseudonym annehmen, 'e. o. plauen’ ist nicht freiwillig gewählt.

Erich Knauf, aus dem KZ wieder entlassen, wird Leiter des Pressedienstes der Terra Filmkunst und schreibt Liedtexte zu Filmen wie 'Quax der Bruchpilot’, 'Junge Herzen’ und 'Fronttheater’. In letzterem das Lied 'Heimat, deine Sterne’, das auch selbständig ein Erfolg wird und auf der Wunschliste beim Großdeutschen Rundfunk auf Platz eins steht. Zitat: 'Ein Kampfgebet, ein Losungswort, / Ein Marschbefehl von Ort zu Ort: / Kamerad, es geht um die daheim’. – Wenige Monate später werden Erich Knauf und Erich Ohser durch den Hauptmann der Reserve beim Oberkommando der Wehrmacht namens Bruno Schultz, einem Fotografen und Künstler, an die Gestapo denunziert.

Am 2.Mai 1944 wird Erich Knauf durch das Fallbeil sterben, Erich Ohser erhängt sich in der Nacht vor dem Prozeß in der Gefängniszelle.[2]

 

III

Ich habe angefangen zu suchen. Zuerst suchte ich in meinem Kopf die Erinnerungen, an Vater, und an Vater und Sohn, sie blieben stehen mit dem Ende der Kindheit, ohne sich jedoch aufzulösen, sie rissen ab und hinterließen manchmal noch ein Rätsel, aber dann begann ich in den Dokumenten der Zeit zu suchen. Jener Zeit. In den Zeiten von Vater und Vater und Sohn.

"Wo bleibt die deutsche Karikatur?" Von Dr. Hans H. Schwalbe (Berlin) Deutsche Presse 7.August 1937

… Seit Jahr und Tag erscheinen wissenschaftliche Arbeiten und Dissertationen, die eindringlich ihre Notwendigkeit und Nützlichkeit hervorheben. Seit Jahr und Tag bringt schließlich auch die „Deutsche Presse“ auf der Seite des Pressezeichners schlagende Karikaturen, um durch das Beispiel anzuregen – die Hauptschriftleiter deutscher Zeitungen scheinen taub auf diesem Ohr!

Aber sind sie etwa noch der Meinung, daß Karikaturen dem Ernst und der Würde ihres Blattes abträglich seien? Verfällt man wieder in die Lethargie der Vorkriegszeit, in der es „anstößig“ und „unvornehm“ war, ein deutliches und klares Wort zu sagen? Einseitigkeit und stärkste Mittel gehören nun einmal, wie zu jeder Propaganda, so auch zur Karikatur. Wer das auch heute nicht zu sehen vermag, dem ist eben nicht zu helfen, der wird auch weiterhin die Bedeutung der Karikatur als einer Waffe im Kampf um die Meinungs- und Willensbildung des Volkes verkennen.

Man hat behauptet, die Karikatur wende sich leider besonders an „niedere“ Instinkte. Das ist bis zu einem gewissen Grade nicht einmal falsch. Allerdings nur, sofern man diese „niederen“ Instinkte nicht einer bestimmten Schicht des Volkes, sondern dem Menschen allgemein in allen Schichten zuordnet. Es ist nun einmal eine Binsenwahrheit, daß Schadenfreude oft die reinste Freude ist. Und die Schwächen des lieben Nächsten waren von jeher die besten Zielscheiben für die Bosheit und den Spott des freundlichen Nachbarn. Persönliches interessiert das Publikum immer mehr als Grundsätzliches.

Doch das Eingehen der Karikatur auf solche sog. Niederen Instinkte ist ja im Grunde nur ein scheinbares. Wohl stellt sie sich mit ihren Mitteln ganz auf die Mentalität ihrer Betrachter ein, doch nur, um sie mit ihrem Inhalt desto wirksamer zu packen. Der Mensch will die Gewissheit haben, nicht daß ihm etwas aufgepfropft, sondern im Gegenteil, daß nur gesagt wird, was er selber fühlt. Je schärfer die Karikatur die allgemeine „Stimmung“ wiedergibt, je deutlicher sie zeigt, nicht was, sondern wie man im Volke denkt, desto größer wird ihr Echo sein… „Caricare“, das frühitalienische Wort, heißt schließlich nicht nur „übertreiben“, es heißt – laut Lexikon – genau so „stürmisch angreifen“… Die Karikaturen der feindlichen Propaganda im Weltkrieg und die scharfen Karikaturen der nationalsozialistischen Erhebung von 1933 haben deutlich genug gezeigt, daß das Publikum nicht nur bis zur äußersten Aggressivität mitzugehen bereit war, sondern daß es um so lebhafter Anteil nahm, je schärfer der Kampf wurde.[3]

Das stand 1937 in der Deutschen Presse, der Zeitschrift des Reichsverbandes der Deutschen Presse – die deutsche Presse wird bald diesem Verlangen folgen, nicht: nachgeben. Der Zeichner von Vater und Sohn, noch bis 1936 unter Berufsverbot stehend, wie man weiß, der mit dem eher sozialdemokratischen Hintergrund wie auch sein Freund Erich Knauf, wie man weiß, wird er dem Verlangen nachgeben, auch folgen, wenn er wieder darf, auch er wieder eingebunden würde, das Arbeitsverbot als Zeichner aufgehoben ist, er wird, wie man weiß. Dr. Goebbels braucht spätestens zwei Jahre später mit dem Anzetteln des Krieges, nicht: Ausbruch, auch diesen, auch Erich Ohser, der wenige Jahre zuvor eben wegen eines künstlerischen Angriffs auf Goebbels seine Arbeit verlor, als Künstler in diesem Reich nicht mehr existent sein durfte. Goebbels hatte in Heidelberg studiert, war ein gescheiterter Autor, bis ihn Hitler 1926 nach Berlin, den kaltschnäuzigen redefähigen Rheinländer in die Weltstadt mit Schnauze holte, um den Roten die Straße für die Nazis propagandistisch abzunehmen. Mit der Sprache, die dem Volk von den Lippen abgenommen wurde, Goebbels, selbst aus kleinen Verhältnissen, hat ihm aufs Maul geschaut, war selbst einer von ihnen, was allerdings in Deutschland damals hieß, sprachlich weitab von der Moderne zu sein: auch deshalb also dieses Nibelungen – Pathos. Nicht die klare Struktur des deutschen Juden aus Prag, sagen wir Franz Kafka, oder der unterkühlt erotisch – disziplinierte Duktus Hemingways in A Farewell to Arms. Goebbels bleibt nur germanisches Pathos, anderes steht ihm nicht zur Verfügung. Die kleinen, die sozialen Verhältnisse diktieren in Deutschland auffallend die Armut der Sprache. Das gilt auch für politisch Andersdenkende, auch für die mit Massenauflagen und Bekanntheitsgraden, Beispiel Remarque. Aber wo man studiert hat, fährt man gern noch mal hin, zumal wenn es der Neckar ist. Und was hat das mit Erich Ohser zu tun: – Der geistige Arbeiter im Schicksalskampf des Reiches (Eine Rede Goebbels vor der Heidelberger Universität):

Ich bin der Letzte, der nicht das Wort zur Kritik erhebt, wo Kritik geboten erscheint. Kritik aus einem höheren Verantwortungsgefühl heraus hat ihre Berechtigung, aber auch hier sollte sie sich nur zum Ziel setzen, das weniger Gute und Überlebte durch das Gute und erprobte Neue, das Gute aber durch das Beste zu ersetzen. Wenn wir mit Verachtung von den Degeneraten eines hohlen Intellektualismus sprechen, so meinen wir damit eine Art von Halbbildung, die nur selten an deutschen Universitäten Platz gefunden hat. Sonst aber weist doch die Geschichte unserer hohen Schulen der Beispiele genug auf, daß Männer des Geistes, bis dahin nur in der Stille der Studierstube oder des Laboratoriums wirkend, in den großen Notzeiten des Vaterlandes ihre Stimme erhoben und ihren Studenten voran der ganzen Nation ein leuchtendes Beispiel kämpferischer politischer Pflichterfüllung gaben. Wo wäre mehr Gelegenheit dazu gegeben als in diesem Kriege, der das deutsche Volk vor die letzte Schicksalsprobe stellt! Durch eine Revolution zur Gemeinschaft verschmolzen, muß es nun die Thesen, Lehren und Errungenschaften seines neuen Lebens in einem gigantischen Kampf verteidigen. Mit einer Härte ohnegleichen fällt das Schicksal über uns herein; und wer wüsste nicht, daß, wenn wir ihm gegenüber versagten und unter seinen Schlägen den Mut verlören, damit auch alles verloren wäre!

Das ist eine Sache, die jeden angeht. Die Revolution hat in einem großen Umschmelzungsprozeß die Unterschiede zwischen den Klassen und Bildungsstufen unseres Volkes beseitigt. Je länger der Krieg dauert, desto mehr macht er uns alle gleich. Wir werden ihm eines Tages Auge in Auge gegenübertreten, und dann müssen wir beweisen, daß wir zum Letzten entschlossen sind, um das Höchste zu erreichen… Dieser Krieg ist ein Volks- und Rassekrieg. Er fordert eine ganze Entscheidung. Man darf nicht glauben, ihm durch faulen Kompromiß entgehen zu können. Er stellt uns vor alle nur erdenkbaren Schwankungen und Wechselfälle seines Glücks, und die Göttin des Sieges wird sich erst dann zu uns herniederneigen, wenn wir alle uns von ihr zugedachten Prüfungen bestanden haben. Das Leben der Völker ist wie das Leben der Menschen ein ewiger Ausleseprozeß, und wer dabei ausgeschieden wird, der zerfällt zu Staub und Asche. Die größten Leiden eines Volkes sind auch seine größten Chancen. Es mag schon sein, daß dieser Krieg, wie der Führer in seiner Proklamation vom 30. Januar sagte, an seinem Ende nur noch Überlebende und Vernichtete sehen wird. Jenen winkt dann die Zukunft und der ewige Ruhm, diesen gilt nur das Wort: Wehe den Besiegten! [4]

 

IV

Die Nibelungen betreten das Zwanzigste Jahrhundert. Und wirken sofort antiquiert. Aber die Masse. Aber nicht auf das Volk. Aber die Moderne. Die Moderne in Deutschland. Mit dem Kriemhild-Pathos hat Goebbels den Kommunisten erfolgreich die Straße abgenommen, aber findet die Geburt der Moderne auf der Straße statt? Was lasen die kleinen Leute in Deutschland? Die frühen Romane eines Joseph Roth, Leonhard Franks Der Mensch ist gut, Berta von Suttners Klassiker Die Waffen nieder und Bestseller wie Im Westen nichts Neues. Das auch, ja. Aber vergleicht man die Auflagenzahlen in den Zwanzigern, die schließlich in Deutschland verkauften Titel, stößt man unweigerlich auf die „Literatur“ des sogenannten soldatischen Nationalismus, sagen wir Erich Rommel, Krafft von Dellmensingen und Friedrich Weber, und man stellt fest, daß diese in der heutigen erinnernden Zuweisung zu den zwanziger Jahren nicht gehandelten Namen, in absoluten Zahlen ein ähnliches Interesse fanden wie diejenigen Autoren, die unsere Erinnerung etabliert hat. Helmut Schittenhelms Wir zogen nach Friaul [5], Josef Magnus Wehners Sieben vor Verdun [6]und vor allem Gunther Plüschows Die Abenteuer des Fliegers von Tsingtau [7](das auch Ohsers Sohn Christian mit Begeisterung las, wie er 1942 dem Vater aus Hindelang mitteilt) erreichten oder übertrafen in Einzelfällen sogar die Auflagen von Im Westen nichts Neues [8].

Und später, die modernen Mittel, die technischen Errungenschaften, der Film. Heinz Rühmann in Die Feuerzangenbowle, Sieben Jahre Pech, Sieben Jahre Glück, der schon angesprochene Quax, der Bruchpilot. Das Interieur. Die Städtchen, die Plätzchen, die Zimmerchen, die Frauchen, die Studenten: linsenreines Mittelalter! Die Städte, Blumentopf – Studentenbuden und staubfreien Fräuleins, der Intellektuelle und die Manieren, die Rühmann-Birne mit Brille, die joviale Witzigkeit, am Ende der Feuerzangenbowle die weiße Selbstvorstellung: Dr. Sowieso, Autor mehrer Bücher, Träger eines Literaturpreises. Aus Berlin. Ein Mann jedoch, und daran lassen diese Filme keinerlei Zweifel, der (damaligen, der Dreiß-Sieger-Jahre-) Gegenwart, den es in eine süddeutsch – mittelalterlich skizzierte Weingegend verschlug, ein deutscher Hans-im-Glück. Nur noch zum Kotzen. Man kann gar nicht soviel fressen.

– Ist man Autor, verfällt man in den vielleicht nicht opportunen Gestus, auch bei einem eher wissenschaftlich angelegten Essay (was ja im Altgriechischem nichts anderes heißt als Versuch) einfach hin und wieder ich zu sagen: Ich, sage ich also, kenne sie. Die Rühmann-Intellektuellen-Birnen sind mir alle schon begegnet. Jahrzehnte danach. 1990 nach dem Fall der Mauer hatten sie ihre Wartejahre oder Beteiligungsjahre, oder meist die Mischformen von beiden, in den zerfallenden Vorstädten, sagen wir jetzt Berlin, Leipzig oder Dresden zusammen mit ihrer Gefolgschaft abgesessen am jeweiligen Ofen, der manchmal schlecht geheizt war, das gebe ich zu, um nun mit den von ihnen angesammelten und in Abgeschiedenheit errungenen Erkenntnissen an der Erbauung der neuen Welt teilzunehmen, am neuen Leben. Und ich rede jetzt keinesfalls von den staatstreuen, den Fürkämpfern und Dozenten der Diktatur, ich rede von denen, die zu einem gewissen Zeitpunkt, vor Jahrzehnten, den Jahren unserer gemeinsamen Jugend – wie ich – waren, warum soll ich es nicht so nennen, die wir einen gemeinsamen Hintergrund hatten, die einen eher ethisch und auch kirchlich orientierten, die Reiner Kunze lieber lasen und die anderen kämpferisch frühmarxistisch fäusteballenden anarchistischen, die auf Wolf Biermanns Warte nicht auf bessre Zeiten! standen und zum Jazzfest nach Warschau fuhren in jedem Oktober, um dort vor allem französische Gauloises zu rauchen, die mit den vergammelten Bärten – wie ich sie rauchte, wie ich einen hatte, wie ich auch war, ich rede von denen, die meine Leute waren. Und von denen ich 1990 dachte, als ich aus meinem Westberliner Exil zurückkehrte, natürlich denken musste, daß sie es immer noch seien, die Künstler geworden waren und/oder Bürgerrechtler. Sie hatten nicht bedacht, daß Leben sich nicht austricksen lässt, sich, wenn man sich ihm über Jahre bewusst entzieht, sich ihm willentlich verweigert, daß Leben sich rächt. Auch gerade denen gegenüber, die sich für Mischformen ihrer Existenz entschieden hatten – aufmüpfig-feige, festes Glied in der sozialistischen Gesellschaft zumindest beruflich, sagen wir Ingenieur, mit frechen Reden am abendlichen Kachelofen, die Stasi-Aktenlage nach 1992 stimmt auch, alles verzeichnet, was sie dort redeten, die Widerständischen. – Aber etwas hatten sie verpasst, will man es mit gebräuchlichen Worten sagen, sie haben nichts weniger verpasst, meine Leute, als die Moderne, die Moderne natürlich unserer Generation, sie waren trotz ihrer oft und oftmals und überwiegend aufrechten Haltung, angesprochen sei auch das Thema der Angst, ihre und die meinige, sie waren trotz allem zu Opfern geworden, die einstmals besten Leute meiner Generation. Opfer dieser Diktatur, in die wir uns hineingestellt sahen: unsere Zeit. Unsere Lebenszeit, die wir zu leben haben. – Denn Diktatur –– nivelliert – zersetzt – brennt aus – verkehrt – frisst – alles Leben!

Was hat das mit Erich Ohser zu tun?

Meine Leute, diese Generation, blieb einig, hatte sich geeinigt, darauf: es war mehr als eine Kinder-Puppe kaputtgegangen in 60 Jahren Diktatur – aber der Versuch war es wert – alle Facetten von sozialistischer Gesellschaft sind die bessere Variante von Leben – Beim nächsten Mal wird alles anders stand 1990 am bronzenen Marx-Engels-Denkmal in Berlin – wir sind die Leute, die Geschichte schrieben auf der Straße mit einer friedlichen Revolution – aber das andere das jetzige das neue wollten wir nicht

– was ist ein Autor wie Alexander Solschenizyn gegen Christa Wolf – Biermann, olle Kammellen!

– Das Gift der Ideologie war in ihnen. Lebenslang. Sie waren in der Diktatur geblieben. Behielten den Wohnsitz in den verfallenden Vorstädten. Hielten die Treue. Sie blieben zu Hause – im falschen, wo es kein richtiges Leben gibt (sagt Adorno).

 

V

Zu Hause im falschen, wo es nur verordnetes, befohlenes Leben gibt – und verführtes Denken (Milosz, Czeslaw). Gerade für den Künstler. Der mit Berufsverbot belegte Könner und Künstler Erich Ohser wird integriert. Es ist Not am Mann, ausgezeichnete Karikaturisten sind Mangelware, es wird sich erinnert an den ehemals publiken Zeichner von Vater und Sohn. Gute Karikatur scheint so sehr selten zu sein, und es ist zu bedenken, daß dies eine Zeit war weitab des visuellen Zeitalters, das Auge war also ständig unterversorgt und damit ein allerwichtigstes, zu bedienendes Sinnesorgan, daß in den Jahren ab etwa 1937 eine ganze Artikelserie losgetreten wird, die sich in Aufrufen und vergleichenden Betrachtungen dem Thema widmet:

(Die Zeichnung als publizistisches Kampfmittel)
Letztes Ziel aber ist die politische Wirkung: den Leser zu unterrichten und zu überzeugen… Es ist sozusagen ein weites Feld, das hier noch der Bestellung harrt. Könner und Künstler werden gewiß Anregungen ihrer Berufskameraden aus den politischen Schriftleitungen gern annehmen und ihnen mit dem Zeichenstift Gestalt und Wirkung geben. Darum heißt die Losung für 1940: Pressezeichner und Karikaturisten an die Front!
[9]

Die Front wird für Erich Ohser die Zeitschrift Das Reich. Vorzeigeblatt der nazistischen „Intellektuellen“ und Integrationsinstrument für das geistige Bürgertum. Das publizistische Flaggschiff und ein Lieblings- und Hätschelkind von Goebbels, wo dieser zugleich auch Steuermann spielt, für jede einzelne Nummer selbst leitartikelt und ein kräftiges Honorar dabei einstreicht zusätzlich zum Ministerposten – eines der Themen, dessen sich Ohser und Knauf im Luftschutzkeller annehmen werden, der fotografierende Denunziant, Hauptmann der Reserve Schultz, schreibt im Kopf mit und schließlich auch auf, schwarz auf weiß, auch dieses Gespräch über Goebbels wird den Beiden den Kopf kosten.

Es ergab sich von selbst, daß alle die Zeitschriften, die sich die Pflege und Förderung der Karikatur im Rahmen ihrer publizistischen Aufgaben von jeher angelegen sein ließen, mit Kriegsbeginn ihre ganze Wirksamkeit auf die neuen, nunmehr das ganze Volk verpflichtenden Aufgaben einstellten. Mit treffenden – den Gegner im wahrsten Sinne des Wortes treffenden – politischen Zeichnungen, die oft ganze Seiten füllten, kommen sie heraus und entwickeln die Karikatur zu einer der gefährlichsten und und gefürchtesten Waffen der Gegenwart. Der Erfolg ist außerordentlich. Denn man darf das nicht vergessen: tiefer als der gelegentlich gebrachte photographische Bildbericht sitzt die mit wenigen gekonnten Strichen hingeworfene Karikatur, die nun die Eigenarten des Dargestellten, auch seine Charaktereigenschaften, wie Niedertracht, Hinterlistigkeit, Verlogenheit, Machtgier, mit einem Blick erkennbar werden lässt… Die Wirkung ist besonders stark bei Beschauern, denen die Karikatur nicht durch lebenslängliche Gewohnheit zur Selbstverständlichkeit geworden ist. So hat sich das nationalsozialistische Deutschland stets davon ferngehalten, die führenden Staatsmänner anderer Nationen durch politische Zeichnungen irgendwie lächerlich zu machen oder sonst wie herabzusetzen. Unsere Presse stand damit allerdings ziemlich vereinzelt in der Welt da. Sie hat keine Veranlassung, an ihrem Grundsatz festzuhalten, wenn es diesen selben Staatsmännern plötzlich einfällt, offen zuzugeben, daß sie ihre Lebensaufgabe in der Vernichtung Deutschlands erkannt haben und danach handeln. Und heute trifft die Karikatur den Gegner mit der ganzen zur Verfügung stehenden Schärfe. (Zeitschriftenverleger, 15.5. 1940)

Die Anwendung der Karikatur im politischen Leben des nationalsozialistischen Staates zeigt, daß sie in demselben Maße geringer wurde, wie sich die deutschen Menschen zur großen Volksgemeinschaft zusammenschlossen. In dieser Volksgemeinschaft übernahm nun die nationalsozialistische Kampfzeichnung die Aufgabe, an die positiven politischen Kräfte zu appellieren. Die Karikatur dagegen übernahm die Glossierung und moralische Vernichtung der Feinde des Nationalsozialismus. Diese Aufgabe war an dem Tage beendet, an dem innerpolitische Feinde nicht mehr vorhanden waren. Statt dessen war sie eine willkommene Helferin im Kampfe gegen das plutokratisch-jüdische Vernichtungssystem der westlichen Demokratien. Hier konnte man die Waffe gegen diejenigen gebrauchen, die sie selbst bis zur höchsten „Virtuosität“ entwickelt hatten. Der Krieg hat der politischen Karikatur einen neuen Auftrieb gegeben. (Kieler Blätter, 1.12.1940) [11]

Und Erich Ohser an der Front, und nicht im Graben, sondern am Schreibtisch und Zeichentisch für Goebbels’ Das Reich ab Juni 1940. Fast ist man geneigt, an dieser Stelle auszurufen: Möge Gott seiner armen Seele und seinem reichen Talent beistehen, wäre er doch Droschkenkutscher in Berlin geworden! – wie er verzweifelt über sich selbst schreibt.

Aber so kam es nicht.

Wie man weiß. Erich Ohser hat als Könner und Künstler all den vorher ausschnittsweise und pars pro toto zitierten Forderungen der nazistischen Propaganda entsprochen (monatelang, ja über Jahre hämmerten die Forderungen nach einer eigenständigen nationalsozialistischen Handschrift auf dem Gebiet der Karikatur auf die von ihr angesprochenen Zeichner und Graphiker ein, auf die, die sich ansprechen ließen). „Die bulgarische Karikatur“[12] , „England in der französischen Karikatur“[13] , „Witz und Karikatur in der italienischen Presse“[14] , „Die politische Karikatur auf England“[15] : Die nazistische Presse stellte klare Forderungen und lieferte selbst die Beispiele und Vorlagen. Deren befohlene Ästhetik hat auch Erich Ohser bis ins Detail bedient. Die Roosevelt, Churchill und Stalin mit dem ihm gegeben hohen Talent eben diesen Forderungen entsprechend klug karikiert. Kongruent den befohlenen Ansprüchen der Nazi-Journaille gedient, sie bedient. Man kann es auch sanfter ausdrücken. Aber wer das Grundsätzliche dieser persönlichen Entwicklung des Künstlers nicht sehen will, muß blind sein. Wer, vielleicht zurecht verstört über den moralischen Absturz des von ihm wegen Vater und Sohn noch immer hochverehrten Zeichners, in dessen politischen Karikaturen seit dem Beginn seiner Arbeit bei Das Reich gutwillig übersehen will, daß Ohser auch ästhetisch nichts mehr liefert als Plagiat und vorgegebene Muster illustriert, irrt. In der Regel vierzehntägig lieferte Ohser seit 1940 seine Werke für Das Reich, quantitativ sein Hauptwerk, über 800 Vorlagen, in denen manchmal noch Elemente seines Talents aufblitzen und sich fortsetzen, auch das Goyeste (abgeleitet von Francisco Goya), wie es ihm gelegentlich heute manchmal bescheinigt und zugebilligt wird, aber das bleiben Ausnahmen, zumal Ohser den Verstümmelungen seiner Vorlagen in Das Reich durch den Abdruck dort en miniatur offensichtlich vollständig gelähmt zusieht und der brutalen, eben ästhetischen Schändung seines Werkes, auch noch an dieser Stelle, nicht widerspricht, nichts entgegensetzt. Kein einziges Nein. Am Ende bleiben die durchlaufend makabren ideologischen Einlassungen. Denn spätestens schon, nach dem die ehemals höchstprivaten Schöpfungen des e.o.plauen Vater und Sohn untertitelt mit …wer dem Führer am 29. März seine Stimme gibt, hilft ihm weiterbauen! [16] Hand in Hand ein Wahllokal betreten, ist die gewollte, mit Ureigenem versehene und freiwillig inszenierte Selbst – Instrumentalisierung von Erich Ohser für die Nazis geleistet und unverstellt kenntlich. Unvergeßlich daher und tief schmerzend Ohsers sichtbar kalter Zynismus für denjenigen, der heute seine Zeichnungen aus dieser Zeit zum ersten Mal sieht und eben nur den Vater/Sohn als Kindheitserinnerung im Kopf mit sich trägt, z.B. in einer Serie für die damalige Berliner Illustrierte Zeitung: „Die Wahrheit über die Athenia“[17] , ein sofort bei Kriegsbeginn von deutscher Marine versenktes englisches Passagierschiff – Ohser zeichnet vermeintlich witzig die möglichen Ursachen für deren Untergang – drei nackte Syrenen lenken den Kapitän ab, der auf ein Riff fährt, oder der Bart eines deutschen Kapitäns verfängt sich in der Schiffsschraube, oder ein Walfisch schießt mit einem Torpedo… genauso beginnt auch der Untergang des Menschen und Künstlers Erich Ohser.

Vielleicht noch als Anti-These zu einigem weiter oben Gesagten (Erich Ohser sei in den engeren Kreis der Mitarbeiter für Das Reich vor allem und ausschließlich wegen seiner künstlerischen Qualitäten aufgestiegen): Er hat sich zugleich bei Kriegsbeginn eben mit dieser zynischen Einlassung, mit seiner „Wahrheit über die Athenia“, die Eintrittskarte für seine anschließende Arbeit bei Das Reich verdient. Ab diesem Zeitpunkt war klar: Ohser wird funktionieren und für die Nazi-Presse von Nutzen, nutzbar, sein.

In dieser seiner neuen Stellung steigt Ohser schließlich auf vom bekannten, behaglich-familiären Zeichner einer eher häuslichen bürgerlich-biederen Atmosphäre, – warum soll ich es nicht so nennen – : zum aktiven Kriegs-Teilnehmer. Auf Seiten der Nazis. Ohser belügt sich und will glauben: auf Seiten Deutschlands. Er verdient so viel Geld wie (zum Beispiel) der Vorsitzende des Gerichtshofes Roland Freisler, fährt nun regelmäßig als Vertreter Deutschlands (zum Beispiel) nach Venedig, stellt dort im Frühjahr 1942 auf der Biennale zwölf seiner Karikaturen aus; der leitende Koordinator für die deutschen Beiträge ist kein anderer als Professor Adolf Ziegler, derselbe, der 1937 die Eröffnungs- und Grundsatzrede zur berüchtigten Ausstellung „Entartete Kunst“ hielt. Dieser hat nun Erich Ohser für tauglich befunden, ihn und die Zeichnungen ausgewählt, Ohser als Repräsentanten seines Landes und seine Kunst als repräsentativ für das Deutsche Reich (so heißt es im Ausstellungskatalog, nicht: Deutschland). In Professor Zieglers Krieg und dem der Nazi-Ideologie gegen die „Entartung der Kunst“, was nichts anderes heißt: gegen die Moderne. Ohsers größter Ruhm fällt auch augenscheinlich zusammen mit der größten geografisch-strategischen Ausdehnung des deutschen Heeres, während Ohser im Oktober 1942 auf einer ganzen Seite in der Berliner Illustrierten Zeitung[18] über seinen Venedig-Aufenthalt witzelt, – bereits im Frühjahr zur Biennale dort, im Herbst ist er wieder anwesend beim Filmfest zusammen mit Hans Albers, zur Aufführung von Goebbels filmischen Lieblingsprojekt „Münchhausen“, – ziehen deutsche Truppen, Angriffstruppen, man erinnere sich, gegen Stalingrad und Al Alamein, der siegreiche Oktober eines in den Abgrund taumelnden Deutschland.

Beinahe skurril daher und zumindest unfreiwillig komisch vor diesem Hintergrund wirkt der bereits mehrmals erfolgte und vielleicht gut gemeinte Versuch zu Ohser (gutgemeint ist übrigens das Gegenteil von Kunst, wie Karl Krauß schon wusste) in der begleitenden Kunst-Kritik der letzten Jahre, noch Widerstandselemente in seine platten colorierten Ideologieblätter hineinzulesen. Statt zu sagen: armer Ohser! – Aber! –: Beide haben dafür mit dem Höchsten bezahlt: Der Zeichner e.o.plauen mit dem deutlichen Verfall seiner Kunst hin zum nazistischen Auftragswerk und der Mensch Erich Ohser mit allem und dem höchsten – mit seinem Leben.

 

VI

Aber was haben Andere getan in dieser Zeit, die Vielen von den Die Wenigen und die Vielen (so heißt ein Roman von einem, der wegging, Hans Sahl, über dieselbe Zeit). Die Vielen unter den Künstlern. Die blieben. Die geblieben waren in Deutschland. Und aus vielen Gründen. Ehrenhaften und intellektuell vorgetäuschten, Selbstlügen und Ausreden.

Kurt Kusenberg schreibt über seinen Freund Erich Ohser: „Dieser Mann, der so gern…durch seine Heimat fuhr, und fremde Länder eigentlich nur dort schön fand, wo sie deutschen Gegenden ähnelten, stellte sein Vaterland über alles – bedingungslos. Als er dieses Land in einen Kampf verwickelt sah, …klammerte er sich an den Begriff Schicksalsgemeinschaft.“[19]

Es wäre Zeit, an Hand einer Vergleichsgruppe von Intellektuellen, sagen wir, einer besser dokumentierten als die der Karikaturisten, deren Rolle in der Schicksalsgemeinschaft zu untersuchen. Sagen wir, die Schriftsteller. Vorlage: Suchbild. Über meinen Vater. Von Christoph Meckel:

Man traf sich in Kneipen am Alexanderplatz mit Frauen und Freunden, das private Leben schien ziemlich sorglos zu sein, er war jung und ahnungslos und erhoffte viel. Man reiste nach Weimar und besichtigte das Goethehaus, besuchte Martin Raschke in Dresden und machte gemeinsame Autofahrten nach Sachsen und Zinnwald. Schön war eine Reise mit Günter Eich durch den fränkischen Herbst. Er war mit der Länggässer gut bekannt, hatte Becher, Brecht und Benn aus der Ferne gesehn, verdiente am Berliner Funk mit Hörspielen, Buchkritik und szenischen Bearbeitungen verschiedener Klassiker. Man besuchte Huchel in Michendorf auf dem Land, feierte Feste und führte die erstgeborenen Kinder vor. Mehrmals verbrachte er ein paar Sommerwochen im Ferienhaus Günter Eichs an der Ostsee. Huchel, Eich und mein Vater in den Dünen von Prerow. Das Hafergras ging in die Verse ein, der Regen, die Sterne und was sie für zeitlos hielten. Sie arbeiteten gemeinsam, spielten Tischtennis und lasen sich abends neue Gedichte vor… Ich habe meinen Vater oft gefragt, was die dreißiger Jahre für ihn waren und wie er lebte, vor allem: was er und seine freunde dachten, und keine besonders erhellende Antwort bekommen. Während Brecht, Döblin und Heinrich Mann emigrierten, während Dix und Schlemmer in süddeutschen Dörfern untertauchten, Musiker, Wissenschaftler und Regisseure verschwanden, Kollegen diffamiert, verfolgt, verboten, Bücher verbrannt und Bilder beschlagnahmt wurden, schrieb er ruhige Verse in traditioneller Manier und baute ein Haus. In dem er alt werden wollte. Der Exodus von Juden, Kommunisten und Intellektuellen, das plötzliche oder allmähliche Verschwinden der gesamten Avantgarde schien von ihm kaum zur Kenntnis genommen werden… Er stand mit dieser Haltung nicht allein. Allerlei Literaten seiner Generation lebten erstaunlich zeitfremd weiter. Man kapselte sich in Naturgedichten ab, verkroch sich in die Jahreszeiten, im Ewigen, Immergültigen, Überzeitlichen, in das Naturschöne und Kunstschöne, in Vorstellung von Trost und in den Glauben an die Hinfälligkeit zeitbedingter Miseren. Er war ehrgeizig, sportlich, gesund und ohne Erfahrung und hatte einen Namen zu gewinnen. Günter Eich hatte Sinologie in Paris studiert und Huchel war jahrelang durch Europa gereist, aber er hatte nur in Deutschland gelebt und nichts als deutsches Geistesleben erfahren. Mit keinem Gedanken und keinem Wort verließ er den Umkreis einer verfestigten, geistesgläubigen, deutschliterarischen Bürgerlichkeit. An Flucht oder Landeswechsel wurde nicht gedacht. Es ist nicht anzunehmen, daß zwischen ihm und den Freunden von Emigration die Rede war. Eine Notwendigkeit schien nicht vorhanden. Sie konnten leben, hatten Familie und Haus, wurden beruflich kaum in Frage gestellt noch aus Gründen der Herkunft oder Gesinnung verfolgt… Mein Vater lebte unbehelligt im Dritten Reich, lebte blind in die kürzer werdende Zukunft, betonte Widerwillen, Verachtung, Stolz und vertraute machtlos auf die Macht des Geistes. Alles Weitere überließ er dem Schicksal. SCHICKSAL – der Begriff stand kostenlos zur Verfügung und war ihm in die Wiege gemurmelt worden. Aufdringlich, dumpf und unabwendbar stand die Begriffswelt des deutschen Idealismus in den dreißiger Jahren herum, wurde von Staatspropaganda aufpoliert, verdeckte ganz andere Weltbilder und ließ sich – nach persönlichem Bedarf – zu erstaunlich dichten Scheuklappen umarbeiten…Über politik wurde kaum gesprochen, das war keine Seltenheit in den dreißiger Jahren. Gespräche darüber waren nicht opportun. Politik war das Geschäft anderer Leute, alles in allem ein schmutziger Zauber, man hielt die Räume des Geistes davon frei. Hitler war ein Skandal für das Vaterland, Popanz, lärmender Falschgeist, der Deutschen nicht würdig. Die ganze braune Richtung war viel zu geistlos, als daß er sich ernsthaft mit ihr beschäftigt hätte. Die Partei war abscheulich, vulgär und kam nicht in Frage – aber nicht aus politisch-kritischer Einsicht, sondern aus Gründen ihres politischen Stils. Ihm gefiel der Stil der neuen Machthaber nicht. Ihr Auftritt war grölend, würdelos und zerstörte die edelsten Werte der deutschen Kultur. Das ließ sich mit Goethe und Heimatland nicht verbinden. Wer von den Freunden in die Partei eintrat, wurde durch Gelächter veranlasst, wieder auszutreten. Wer trotzdem Parteimitglied blieb, saß noch mit am Tisch. Er war von NS-Literaten umgeben und schien keinen Wert auf genaue Distanz zu legen…Er gehörte zu einer unpolitischen Generation, rechnete sich zur Elite des Geistes und war doch nur der typische Epigone, von verbrauchten Ideen über die Gegenwart hinweggetragen, ein schlecht geflügelter Höhenflug, der ihn weiter in die Verengung trieb. Von der eigenen Enge schien er nichts zu ahnen. Er war nicht der einzige Blinde unter den Freunden, und er war nicht der einzige, der getragen wurde. Er war umgeben von Trägern, noch mehr von Getragenen, er war zu Tausenden von ihnen umgeben… [20]

 

VII

So haben also alle getan. Die Vielen. Ich kenne keine Stelle, keinen niedergeschriebenen Bericht auch über die Zeit meiner Generation, der so treffend Leben in der Diktatur beschreibt. Genauso habe ich es erlebt, so haben wir gelebt, meine Leute und ich, bis ich ausbrach aus dem Kreis (andere natürlich auch und in nicht geringer Zahl, aber sie blieben dennoch Die Wenigen), verfolgt wurde und weggesperrt, wegging noch ziemlich unwillig, aber schon ohne Alternative: Freikauf oder nochmals 14 Monate Knast. Da gab es keine Entscheidung. Und wieder zurückkehrte nach mehr als zehn Jahren „Exil“, und begann, nach meinen Leuten von einst zu suchen. Sie hatten alle so weitergelebt, alle hatten sie bezahlt. Ich fand meine Leute nicht mehr, nicht wieder, sie waren versteinert, mumifiziert durch das Weiterleben in der Diktatur. Selbst von mir verehrte Größen in der Literatur wie z.B. Ulrich Plenzdorf, faselten in entsetzlicher Beschädigung ihrer geistigen Freizügigkeit, nach dem Ende des Systems, das auf gespenstische Weise offenbar auch zu ihrem System geworden war, Sätze, die mich erschauern ließen. Plenzdorf meinte, die DDR sei ja nun ein toter Hund, und auf tote Hunde schösse man nicht. Das wäre eine Ehrensache. Er hat nichts verstanden. Nicht begriffen, worin er lebte. Denn auf den toten Hund Diktatur ist nötig zu schießen in jeder Sekunde und für einen Schriftsteller – auch unsichtbar – mit jeder Zeile. Durch sein Werk und seine persönliche Haltung. Damit der Totgeglaubte nicht wieder aufsteht. Aufersteht lautlos über der schlafenden Vernunft.

Gehört die Serie von Zeichnungen e.o.plauens, Vater und Sohn, zur Moderne? Ich glaube, nicht. Wilhelminisch ja. Das Behaglich – Bürgerliche ja. Das Lieblich – Anrührende ja. Biedermeier. Das Harmoniesüchtig – Brave. Nicht die Traditions-Linie der Aufklärung, sondern die der Romantik und des deutschen Idealismus. Die Fallgruben für die Moderne im 20.Jahrhundert. Daumier: politisch wirklich frech. H. Rousseau unangreifbar privat. Keiner von beiden irgendwie moralin – gemütlich. Bei Rousseau auch noch das Private künstlerisch radikal neu. Nicht dieses Anstandslächeln nach den zweifellos belustigenden Streichen von Vater und Sohn, sondern was Kunst vermag: das überraschte Staunen. Bei den anderen.
Resigniert, einer, der ich gesagt hat in seinem Essay, nochmals enttäuscht, weil getäuscht: Noch in den „Nachruf“ hinein auf Erich Ohser, den Hans Fallada schrieb, die großen Irrtümer…

Dieser ist ein Mann, den die Welt kennt, es ist der Zeichner E.O.Plauen, mit seinem bürgerlichen Namen Ohser geheissen, stammend aber aus der sächsischen Stadt Plauen, wo so viele Webstühle stehen. Ein Mann wie ein Kind, ein Elefant, der Seiltanzen konnte, vielleicht am berühmtesten geworden durch seine bissigen Karikaturen in der Wochenschrift ,Das Reich’, unversgesslich aber allen Kinder- und Elternherzen durch seine Bildergeschichten vom Vater und Sohn… (Ein herrlicher Mann, meist wie ein Kind, noch im Besitz aller Paradiese des Kindes)… Ich fragte ihn, wie er, mit dem gleichen Hass wie ich auf die Nazis beseelt, mit der gleichen felsenfesten Überzeugung, dass dieser Krieg von ihnen nie gewonnen werden könne, weil eine schlechte Sache am Ende eben doch nicht siegen kann, ich frag ihn, wie er es über sich bringen kann, jede Woche politische Karikaturen in dem Blatt von Dr. Göbbels zu bringen. Er lächelte, er sagte: ,Aber sie sind nun einmal jetzt unsere Gegner, die Churchill, die Roosevelt, die Stalin – es ist nicht unanständig, gegen unsere Gegner zu kämpfen. Ich tue nichts anderes, als was sie gegen uns tun. Aber eines tue ich nicht: ich zeichne nie eine antisemitische Karikatur, diese Schweinereien mache ich nicht mit.’…

Heute liegt das alles längst in Schutt und Asche, das Haus an der Budapesterstraße ist nur noch ein Trümmerhaufen… Seine politischen Karikaturen machten ihm wenig Beschwerden. Er erledigt sie alle ordentlich wie Schularbeiten. Er plagte sich vorher nicht um Einfälle. An einem Tag überflog er die Zeitungen, auf der Suche nach Ideen, am nächsten Tage führte er sie aus, meist fünf oder sieben gar. Man musste diese Karikaturen einmal gesehen haben, sorgfältig mit der Feder gezeichnet, oft auch noch mit Farben grundiert – der Zeitungsdruck gibt nur etwas Armseliges von dem, was sie waren…(Hans Fallada, aus dem Trinkermanuskript, Herbst 1944) [21]

Erich Ohser und die Selbsttäuschung. Mir selbst sind in zwei Publikationen eineindeutig antisemitische Zeichnungen von Ohser bekannt. In dem Buch Das war London. Glanz und Elend der größten Städte der Erde [22] von Heinz Medefind, erschienen 1942, und in dem Sonderheft der in Buenos Aires erscheinenden Zeitschrift Der Weg [23], 1952 offensichtlich von Alt-Nazis herausgegeben, fand ich mehrere Beispiele für diese Schweinereien, die er angeblich nicht mitmachte. Daß er aber selbst daran glaubte, sie nicht mitgemacht zu haben, auch den Berichten der Freunde über Erich Ohsers zunehmend offen-unvorsichtig-selbstvernichtend-aggressiv gehaltener Gestus gegenüber den Herrschenden und deren Ideologie – dem allem ist unbedingt Glauben zu schenken! Es ist das nur ein inneres diktatur-typisches Verhaltensmuster für schlechtes Gewissen bei anständigen Leuten, die mit hineingerieten ins schuldhafte Beteiligtsein. Ich kenne es nur zu genau, nämlich an mir. Obwohl seit meinem 16. Lebensjahr durchaus nennenswert verfolgt, versuchte ich jahrelang gegen meine innere Überzeugung, doch irgendwie in der zweiten deutschen Diktatur mitzuschwimmen. Je mehr ich dabei jedoch in die Nähe von Karriere kam, die die Mächtigen mir gestatteten, man ließ mich z.B. mit höchster Entscheidung des Ministeriums für Staatssicherheit dann doch noch Medizin studieren, desto privat frecher, risikobereiter, aktiv widerständiger verhielt ich mich. Wochentags sezierte ich in Leipzig im Anatomiesaal, am Wochenende druckte ich zusammen mit Freunden verbotene Literatur, eigene und die der Verbotenen: Biermann, Kunze, Fuchs. In politischen Schulungen, die es auch pausenlos für werdende Mediziner hagelte, hielt ich aus „taktischen Gründen“ still, selbst als von der Dozentin die Massenmorde eines Pol Pott als „versuchte Form des Ur-Kommunismus“ beschrieben wurden, sagte keiner in meiner Seminar-Gruppe ein einziges Wort, alle waren äußerst sympathische junge Leute und sind heute Ärzte. Eine selbst auferlegte Schizophrenie, der auf ganz unterschiedlich hohen Ebenen (der Anatomiesaal ist nicht gleichzusetzen mit Das Reich) sagenhaft und gespenstisch zugleich Millionen von Menschen erlagen. Sie, diese Krankheit, in die sie flüchteten, war ihnen Trost und ein Mittel, in der Diktatur leben zu können. Die perfekte Täuschung seines Selbst. Als ich schließlich doch inhaftiert wurde, folgerichtig, aufgrund meines Verhaltens als privater Person, siehe Ohser, war ich im engeren Sinn des Wortes fröhlich und erleichtert, saß in der fensterlosen Stasi-Einzelzelle mit Glücksgefühlen. Denn hier konnte ich wieder völlig normal und (im Sinne eines Lebens in der Diktatur) gesund sein: hier gehörte ich hin, ins Gefängnis!

Ich hatte Glück. Es war kein Krieg. Es war eine andere Zeit eine andere Diktatur. Ich behielt meine Rübe auf den Schultern.

Und kann jetzt darüber nachdenken, was der einst enge Freund von Erich Ohser, kein Geringerer eben als Erich Kästner, in einem nicht so benannten „Nachruf“ über Ohser schrieb.

Brief an Pony Bouché, München, 30.10.46:

Mein liebes Pony,
Na großartig, daß Du endlich mal ein bisschen verschnaufen kannst! Das hast Du Dir ja ehrlich verdient! Ein paar Zeilen aus Paris, nach dem Ende Adolfs, hatten mich erreicht, aber die Antworterei war damals noch sehr schwierig. Jetzt ist das ja geradezu ein Kinderspiel! Dein Brief vom 1. August kam vor rund einer Woche an. Also 2 1⁄2 Monate „Laufzeit“. Und vor drei Tagen kam ein großes Fresspaket von Dir. Hab für beides herzlichsten Dank, meine Gute! Eine Frau Schubart kam auch mal durch München und erzählte von Dir, d.h. eigentlich mehr von sich. Da hast Du nun also, im Gegensatz zu mir, Barrikadenkämpfe geliefert. Ich habe zwölf Jahre lang ein ironisches Gesicht gemacht und den Stammtisch im Leon „gehalten“. Das war ein friedlicheres Gewerbe. Na ja. Ein paar Dutzend Leute hat das doch bei der Stange gehalten. Den Ohser leider nicht. Er war so ängstlich, wie er groß war. Und dann hat ’s ihn doch den Kopf gekostet. Weil er im falschen Moment den Mund aufmachte…
[24]

…Und meine gerettete Rübe denkt: Das kenn’ ich zu gut, nach der „Wende“ in Dresden war das, immer so, die alten Freunde, diese umständlichen Satzanfänge Da hast Du nun also, im Gegensatz zu mir, Barrikadenkämpfe
und sie denkt, die Rübe, meine Leute, wen hast Du eigentlich nach 1989 wiedergetroffen, Erich Kästner, der von sich als von einem überzeugten Kleinbürger sprach, dann, danach wenn es vorbei ist, sprechen sie so… drücken das eigene Versagen in die Ironie…

Jedoch die sogenannte Innere Emigration Deutschlands spricht nach dem Krieg mit den wirklichen Emigranten. Das habe ich ab 1989 nicht erfahren, eher marginal, eher die sanften Ablehnungen, ein gewisses, zähes, bleibendes, unterschwelliges Misstrauen… Hans Sahl ging zurück, nach fünf Jahren Bundesrepublik, wieder in die USA, Anfang der fünfziger Jahre…
Die mit dem geretteten Kopf meiner Generation, die wie ich waren, die aber zu Hause blieben, die anderen dagegen, die mit der geretteter Zunge, hingen längst vor den Rathäusern nach dieser, unserer Revolution – als Wahlplakate…

Da hab’ ich noch im Dunkeln die Augen zugemacht…

Erich Kästner, in Bezug auf Ohser deutlicher, scharf, in einem Brief an Walther Victor, vier Monate früher (München, 29.6.46):

Lieber Walther Victor,
herzlichen Dank für Ihre Zeilen vom 15.5., die mich ohne Komplikationen in München erreicht haben.
Ja, daß es Knauf erwischt hat, tut mir noch viel mehr leid als die Tatsache, daß auch Ohser daran glauben musste. Denn Ohser war ab 1933 in wachsendem Maße ins weite Feld der Konjunktur geraten und missbrauchte sein Talent im Auftrag des Propagandaministeriums. Darunter litt auch die Freundschaft, die mich mit ihm verband, endgültig, trotzdem tut er mir selbstverständlich leid. Nicht minder seine Frau und der kleine Junge.

Da sich gezeigt hat, daß die Post über weiten Ozean zu funktionieren scheint, wäre es eigentlich nett, wenn Sie mir bald einmal wieder schrieben…[25]

 

 

Quellen und Literaturhinweise

1 Wolfgang Eckert.Heimat, deine Sterne…Leben und Sterben des Erich Knauf – eine Biografie. Chemnitz: 1998.

2 Utz Rachowski. "Heimat, deine Sterne…Leben und Sterben des Erich Knauf – eine Biografie." Ostragehege Zeitschrift für Literatur und Kunst, 5. Jahrgang, Heft 13 (1998): 69.

3 Dr. Hans H. Schwalbe. "Wo bleibt die deutsche Karikatur?" Deutsche Presse, Zeitschrift des Reichsverbandes der Deutschen Presse/Zeitschrift für die gesamten Interessen des Zeitungswesens, 27.Jahrgang, Nr.23, 7.August 1937: 351-53.

4 Dr. Joseph Goebbels."Der geistige Arbeiter im Schicksalskampf des Reiches", Rede vor der Heidelberger
Universität am Freitag, dem 9.Juli 1943, München (Zentralverlag der NSDAP, Franz Eher Nachf.), 1943,
S.20-22

5 Helmut Schittenhelm. Wir zogen durchs Friaul. Stuttgart: Thienemann, 1942. Mit dieser Auflage 36.-39. Tsd.

6 Josef Magnus Wehner.Sieben vor Verdun. München: Langen/Müller, 1944. Mit dieser Auflage 161.-170. Tsd.

7 Gunther Plüschow. Die Abenteuer des Fliegers von Tsingtau. Berlin: Ullstein, 1916. Erreichte das 600. Tsd.

8 Erich Maria Remarque. Im Westen nichts Neues. Berlin: Propyläen, 1929. Erreichte das 625. Tsd.

9 Dr. Hans Hennigsen. "Politische Karikaturen. Die Zeichnung als publizistisches Kampfmittel," Deutsche Presse, 1940: 8.

10 „St.“. "Politische Karikaturen auch in der Fachzeitschrift?" Zeitschriftenverleger, 1940: S.155

11 Dr. Fritz Ihlenburg."Die Karikatur im Dienste der feindlichen Kriegspropaganda," Kieler Blätter 1.12.40, Neumünster (Holstein): 315/16.

12 "Die bulgarische Karikatur", Bulgarienwart Nr. VIII, 1940: 15.

13 Dr. A. Dresler (Reichshauptamtsleiter)."England in der französischen Karikatur. Zu einem Buche von Enrico Gianeri," Deutsche Presse, 1940: 200-03 (siehe auch Anmerkung 14).

14 Dr. Adolf Dresler, "Witz und Karikatur als Waffe der italienischen Presse", Deutsche Presse, 30.Jahrgang Nr.16, 3.August 1940: 153-55.

15 Dr. Richard Biedrzynski, "Die politische Karikatur auf England", Deutsche Presse, 1939: 385-87.

16 Wahlaufruf der Belegschaft des Deutschen Verlages für Politik und Wissenschaft, 1936, zitiert nach Erich Ohser – e.o.plauen (1903-1944) Der politische Zeichner, Katalog zur Ausstellung vom 27.11.2004-20.2.2005, Herausgegeben vom Kulturbetrieb Plauen, Vogtlandmuseum, Plauen 2004, S.25 u.26/27

17 "Die Wahrheit über die 'Athenia.' Berichtet von E.O.Plauen", Berliner Illustrierte Zeitung, Nr.39, 28.9.1939: 1604.

18 Berliner Illustrierte Zeitung, Nr.39, 1.10.1942: 540.

19 Kurt Kusenberg zitiert nach dem Katalog zur Ausstellung, S.31 (siehe auch Anmerkung 16).

20 Christoph Meckel. Suchbild.Über meinen Vater. Frankfurt/Main: Fischer TB,1983. 20-23, S.32/33.

21 Hans Fallada zitiert nach dem Katalog zur Ausstellung, S.54 (siehe auch Anmerkung 16).

22 Heinz Medefind. Das war London. Glanz und Elend der größten Stadt der Erde (Mit 24 Abbildungen und 15 Zeichnungen von E.O.Plauen), Oldenburg/Berlin: Gerhard Stalling Verlagsbuchhandlung, 1942. 156

23 Sonderheft der Zeitschrift Der Weg, zweisprachig (deutsch/spanisch), Buenos Aires (Editorial Dürer S.R.L.) 1952: 10.

24 Erich Kästner. "Brief an Pony Bouché vom 30.10.1946." Zitiert nach Erich Kästner Dieses Na ja!, wenn man das nicht hätte!, ausgewählte Briefe von 1909 bis 1972, Zürich: Atrium, 2003. 92.

25 Erich Kästner."Brief an Walther Victor vom 29.6.1946." S.91 (siehe auch Anmerkung 24)


Danksagung:
Mein Dank gilt Herrn Günther Reichel, dem Leiter der Vogtlandbibliothek Plauen, insbesondere für begleitende Gespräche mit Ideenfindung sowie die Quellenbeschaffung, und Herrn Frank Weiß, dem Leiter des Vogtlandmuseum Plauen, für seine geduldige Zuarbeit und die Erschließung des verwendeten Materials.

 

(beendet am 28. Nov. 2005)