glossen 25


Die Lust des Lachens und die kitzligste Stelle der Bundesrepublik
Rainer Stollmann

Lachen ist Lust an unlösbaren Widersprüchen

Kein Mensch lacht, weil es gesund ist, sondern weil er nicht anders kann. Trotz dieses Zwangs ist Lachen ein lustvoller Vorgang. Freud begreift Lust als ein "Prinzip", d.h. qualitätslos. Der Mensch ist "ein ewiger Lustsucher" (Nietzsche) und darin erfinderisch. Die Frage nach einer besonderen Lust des Lachens, etwa im Unterschied zur sexuellen, stellt sich ihm nicht. Darwin hat die Gesetze der lebendigen Natur beschrieben, er hat sich dabei kleinsten Details wie Vogelschnäbeln und Flügelformen gewidmet. Wäre es nicht eine in höchstem Maße plausible Frage, zu erforschen, wie die menschlichen Lustorgane, die immerhin das Fortbestehen der Gattung gewährleisten, innerhalb dieser Gesetzlichkeiten evolutionär entstanden sind? Man kann annehmen, daß die Darwin umgebende viktorianische Prüderie ein Hemmnis für eine solche Frage darstellte. Ein halbes Jahrhundert später in Wien hatte sich die Psychoanalyse von Prüderie theoretisch befreit. Im Jahre 1922 veröffentlicht der engste Freund und Mitarbeiter Sigmund Freuds, Sandor Ferenczi, eine Studie mit dem Titel Versuch einer Genitaltheorie[1], die genau diese Frage stellt.

Wie bilden sich eigentlich in der Naturgeschichte, fragt Ferenczi, die Geschlechtsorgane heraus? Im Reich der Einzeller verschmelzen zwei Zellen, auch ohne dass hinten ein ganzes Säugetier daranhängt. Die Fische lassen Eier und Samen einfach ins Wasser ab. Sobald aber das Leben auf das Land zieht, findet man auch die Herausbildung von Geschlechtsorganen, Rudimente davon zum erstenmal bei den Amphibien. Ferenczi nimmt an, daß die ursprünglich geschlechtslosen Lebewesen die Erkaltung der Urmeere unterschiedlich beantwortet haben. Es entwickelt sich eine weibliche und eine männliche Richtung. Die weibliche Linie beantwortet die Trennung von dem umgebenden warmen Meer produktiv, d.h. sie nimmt den Verschmelzungs-, Teilungs- und Fortpflanzungsprozess in das Innere zurück und stellt dort selbst die Bedingungen her, die jetzt außen immer schwieriger werden. Das männliche Prinzip tut das nicht, sondern beantwortet die Trennung anders, indem es nämlich in das Innere des produktiven weiblichen Elementes eindringt. Ferenczi geht anders als Darwin davon aus, dass die Evolution Antwort auf Katastrophen gibt und nicht nach einem blinden Würfelspiel von Mutation und Selektion sich regelt. Real ist daher nicht einfach eine blinde Progression vorwärts, sondern ein stark regressiver Zug. Was immer sich nach vorn entwickelt, hat eigentlich die Tendenz auf Herstellung des Getrennten. Im Mutterleib schwimmt der Embryo wie in einem warmen Urmeer. Die Sehnsucht nach Rückkehr in den Mutterleib ist in der Psychoanalyse eine unstrittige Annahme. In gewisser Weise kehrt der Mann beim Geschlechtsakt dahin zurück, aber nicht selbst, sondern durch einen Stellvertreter, sein Glied.

Die Körper, die sich in diesem Prozess bilden, entstehen in der Auseinandersetzung mit dem Außen, sind jeweils spezifische Antworten auf die sich verändernden Bedingungen der geologischen und geographischen Erdgeschichte. Gerade um den übrigen Fertigkeiten dieser Lebensformen die Arbeit mit dem feindlichen Außen zu erleichtern, zieht die Genitalität alle Lust an sich. Wenn Lust- und Realitätsprinzip bei den Einzellern noch gleichmäßig auf dem ganzen Körper verteilt sind (so dass man nicht weiß, ob die Vereinigung zweier Zellen "Tod" oder "Liebe" ist), so haben sie sich bei höher organisierten Lebewesen auch auf der Geographie der Körper getrennt. Diese Arbeitsteilung, bei der dann die Genitalien zu "Prokuristen" des übrigen Körpers werden, also deren "Lustquanten" auf sich ziehen, ermöglicht erst die Höherentwicklung.

Man bemerkt, wie der Begriff der sexuellen oder besser genitalen Lust von einer ungeheuren Regression durchzogen ist, wie sozusagen in jedem Beischlaf die Lust empfunden wird, den Katastrophen der Naturgeschichte (Erkaltung der Meere, Austrocknung, Auszug vom Meer auf das Land) entronnen zu sein. Ferenczi spricht vom sexuellen Akt als einem "Erinnerungsfest", bei dem für einen Augenblick auf eine merkwürdige Weise, die man nicht nur symbolisch nennen kann, weil ja wirklich immer noch zwei Zellen wie im Urmeer verschmelzen können, der ursprüngliche, paradiesische Zustand des Lebens wiederhergestellt wird. Lust als Produkt der körperlichen Erinnerung an glücklich überstandene Katastrophen. Jeder Geschlechtsakt evoziert in gewisser Weise die ganze Naturgeschichte des Lebens, und dies empfinden die beteiligten Körper deshalb als lustvoll, weil sie das glückliche Ende aller Katastrophen noch einmal erleben.GENITALE LUST IST EINE ALS KÖRPERLICHER VORGANG GEFORMTE SEHNSÜCHTIGE ERINNERUNG.


Wenn dies die genital-sexuelle Lust ist, was ist dann die Lust des Lachens? Das Lachen hat kein Organ, der ganze Leib ist das Organ des Lachens. Das Zwerchfell ist nur der Ausgangsort als der größte innere Muskel, der Oben und Unten des Körpers trennt. Als Unterstützungsorgan der Atmung hängt an ihm die Struktur des gesamten, insbesondere zweibeinigen, aufrecht gehenden Wesens. (Fische haben kein Zwerchfell.) Hier von der Mitte des Leibes geht am sinnfälligsten die Erschütterung des Ganzen aus. Jedes einzelne Organ will für sich selbst wackeln, im eigenen Rhythmus pulsieren - und dies nicht nur einem "Prokuristen" überlassen. Der ganze Körper, jede einzelne Körperpartie, alle Muskeln bis hin zu den inneren Organen scheinen im Lachen jene Lustquanten zurückzufordern, die sie im Laufe der Naturgeschichte aus Gründen der Realitätstüchtigkeit nach und nach an die Genitalien hatten abtreten müssen. Die topographische Verteilung von Lust- und Realitätsprinzip auf und im Körper (Hand: vorwiegend Realitätsprinzip, dagegen "erogene Zonen", vor der Realität geschützt) wird im Lachen wieder kassiert, die Lusttribute für einen Moment zurückgefordert. So gesehen sind Lachen und seine Lust der diametrale Widerspruch zu jener sehnsüchtigen Naturgeschichte von Arbeitsteilung und Sexualität. Es widersetzte sich dann der Geschichte der Evolution, indem es gewissermaßen plötzlich wieder den ganzen Körper zu einer, jetzt freilich vom Standpunkt der entwickelten leiblichen Arbeitsteilung: unsinnigen, grotesken, absurden, aber lustvoll-rhythmischen Einheit machte. Jedes Organ, jede Zelle erinnert sich für Momente der Möglichkeit, selbst das Zentrum der Lust zu sein und stellt im Lachen klar, daß der ganze hochkomplexe Organismus von den Willen der Atome, Elemente, Zellen, Zellverbände usw., d.h. daß das Oben vom Unten, das Jetzt vom Früher, das Große, Komplexe vom Kleinen, Einfachen abhängig ist. Der inzwischen vielfach strukturierte und organisierte, hochkomplexe Säugetierleib tut plötzlich so, als ob er ein Einzeller wäre. Wenn genitale Lust in körperlich-symbolischer Gestalt die Naturgeschichte erinnert, dann umgeht Kitzeln-Lachen sie. Die hochentwickelte Sensitivität der Haut und der Nerven machen offenbar einen solchen Kurzschluß zwischen kitzelnden Fingern und antistrukturellem Rhythmus, der Erweckung ursprünglichster, "zellulärer" Lust möglich. Genital-sexuelle Lust ist Gattungslust, Lachen ist individuelle Lust insofern, als der einzige schlagende Beweis, daß etwas "unteilbar" (=Individuum) ist, darin besteht, daß es beim Versuch der Teilung (Kitzeln) wie ein aufgeblasener Luftballon platzt, d.h. sich auf keinen Fall zerteilen läßt.[2] Sexuelle Lust ist Vereinigungslust, Lachen ist Trennungslust. Ist das Urbild der Genitalität die Vereinigung zweier Einzeller, so das des Lachens deren asexuelle Teilung. Sie ist dem hochdifferenzierten Säugetierleib natürlich nicht möglich, aber nach vier Milliarden Jahren Entwicklung erscheint auf der Erde wieder ein Lebewesen, das von einer sensiblen, verletzlichen Haut statt eines Fells umschlossen ist und dessen Körper sich im Kitzeln / Lachen nun der ursprünglichen Teilungsfähigkeit erinnern kann, so wie in der genitalen Lust die ursprüngliche Verschmelzung bewahrt ist. Aus eins mach zwei und bleib doch eins: dieser Vorgang ist das Lachen, deshalb spricht man von "Zerplatzen" und "gesund". Wer lacht, drückt aus, daß er einen unlösbaren Widerspruch wahrnimmt (dessen Urform das Kitzeln ist: nicht Streicheln, nicht schlagen, nicht Liebe, nicht Schmerz). Ob andere mitlachen, hängt davon ab, wie sehr sie selbst bereit oder in der Lage sind, dem fraglichen Widerspruch Unlösbarkeit zu attestieren. Können sie das gar nicht, kommt ihnen das Lachen "dumm" vor. Freud berichtet, daß Patienten in der Psychoanalyse lachen, wenn die traumatische Erfahrung, die kitzlige Stelle ihrer Seele getroffen wurde. Überfällt einen selbst, etwa beim Lesen gar nicht humoristischer Stellen, ein Lachen und man geht ihm hartnäckig analytisch nach, so stößt man ebenfalls auf widersprüchliche Erfahrungsketten, die andern Menschen schwer oder gar nicht vermittelt werden können. Man kann aber sicher sein, daß dann ein tiefer Erfahrungswiderspruch des persönlichen Lebens berührt worden ist. "Nichts charakterisiert die Menschen so sehr als worüber sie lachen,"[3] insofern die kitzligen Stellen die prekären Punkte oder Linien der Identität markieren.

Es ist die eigenartige Verknüpfung von leichter (geistig-seelischer) Berührung und Erschütterung bis an die (körperlichen) Wurzeln, die das Lachen so mysteriös macht. Die dümmsten Witze können die tiefste Wirkung haben:

Auf der Straße ein Radfahrer mit lockerem Schutzblech. Ein Passant ruft ihm zu: Ihr Schutzblech klappert! Der Radfahrer: Was? - Passant: Ihr Schutzblech klappert! Darauf der Radler: Entschuldigung, ich kann nichts verstehen. Mein Schutzblech klappert.

Ein harmloser, ein Kinderwitz, allerdings mit einer genialen (möglicherweise einzigartigen) Technik: der puren Wortwiederholung bei gegensätzlichem Sinn.[4] Wenn Kinder über solche Witze lachen, dann kann man daran die Ursituation des Kitzelns wiedererkennen: Sie bemerken lustvoll, daß dieselben Worte vollkommen verschiedene Funktion haben können. Das Urvertrauen, das zuerst von den Kitzelfingern der Mutter in frage gestellt wurde[5] -- das ist meine Mutter, das weiß ich genau, aber was macht sie da? Ich kann mich gar nicht an sie anschmiegen --, wird hier auf ähnliche, geistige Weise von einem Satz in Frage gestellt. Es sind dieselben einfachen Worte, sie bedeuten sogar dasselbe, es ist gar kein Interpretationsspielraum, aber als kommunikative Handlung verwandeln sie sich plötzlich in das Gegenteil, aus einer Information wird ein Argument gegen Informationsaufnahme. Was aber ist, wenn so etwas möglilch ist, dann noch Sprechen? Für ein die Sprache noch lernendes Kind ist dieser Witz deshalb besonders lustvoll, weil es sich in den Zustand vor seiner Sprachfähigkeit versetzen darf, als Wörter noch nichts bedeuteten. Das vergangene sprachlose Lebewesen in uns sieht sich für einen Moment gegenüber der Sprache im Recht. Das in die Sprache gesetzte Vertrauen wird durch Rückgriff auf den sprachlosen Zustand erschüttert, der Witz kitzelt heftig an der Sprachhaut. Wer hier lacht, hat den unlösbaren Widerspruch von kommunikationsloser Sprache entdeckt.[6]

Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Lachen über fallende Menschen, das Kindern auch am leichtesten fällt: Sieh mal an, selbst so ein großer, dicker Mann kann doch nicht ganz dem Krabbelstadium entkommen, das noch recht fühlbar in meinen Knochen steckt. über jeden auf der Bananenschale Ausrutschenden lacht (neben möglichen anderen Instanzen auch) der Vierbeiner in uns, der im Zweibeiner sich selbst erkennt. Der Fall des Zweibeiners "kitzelt" die anthropologische Haut: Ob es wirklich richtig war, daß ich mich (wir uns) so gefährlich aufgerichtet habe? Wäre mehr Bodenhaftung nicht vielleicht doch besser? Erwachsene meinen vielleicht, sie lachen nur aus sozialen Gründen, weil ein dicker, arroganter Reicher hinfällt, der es verdient hat, sie mögen den anthropologischen Zweifel am aufrechten Gang für absurd halten, aber es gab einen (ontogenetischen und auch eiszeitlich-phylogenetischen) Moment im Leben, als er eine reale Erfahrung war.[7]

Ein Witz wie der folgende kann einem ebenfalls ärmlich erscheinen:

Ein Kamerad im Taubenverein ist gestorben, der Vorsitzende muß zum ersten mal in seinem Leben eine Grabrede halten. Er tut das mit viel Nervosität und sagt am Ende: Ruhe sanft und gute Besserung!

Ein Todkranker aber kann Wochen lang darüber lachen, weil der Witz genau sein permanentes Bangen zwischen Todesgewißheit und Lebenshoffnung trifft, und einen stärkeren Widerspruch als den zwischen Tod und Leben kann es nicht geben.

Einer der letzten Witze, den Robert Gernhardt gemacht hat oder der ihm widerfahren ist:

"Gut siehst du aus!" - Danke, ich wird's meinem Krebs sagen, der wird sich ärgern."

Der Satz "Gut siehst du aus!" kann nur einen Todkranken kitzeln, und auch nur dann, wenn er ein hartgesottener Humorist ist. Für andere ist das Sarkasmus, die Haut ihres Urvertrauens fühlt sich nicht gekitzelt, sondern gekniffen.

Alle Clowns (von lat. Colonus - der Bauer) entspringen dem weltgeschichtlich nirgendwo wirklich gelösten Widerspruch von Stadt und Land. Im Zirkus beten die Städter die Omnipotenz des menschlichen Willens über die Natur an. Aber zwischen den Dressurnummern, den gehorsamen Löwen, den Männchen machenden Elefanten, den Feuerschluckern, den fliegenden Artisten erscheint der Pausenclown, der Bauer, der das alles nicht kann und erinnert das Publikum an die gemeinsame Herkunft und an die ursprüngliche "Dummheit" der menschlichen Natur. Es ist aber nicht einfach diese "Dummheit", über die man lacht, sondern der unlösbare Widerspruch zwischen Naturbeherrschung und Naturherrschaft, der in einem winzigen Fehlgriff des Hochseilartisten schlimme Folgen haben kann. Diese mit Angst verbundene Anspannung von Allmachtsphantasien löst der Clown auf.

Jeder Witz, jede Witzmode markiert einen bestimmten unlösbaren Widerspruch, über den sich die Lachenden verständigen. Alle Witze über Präsident Lübke, Kanzler Kohl, Präsident Bush usf. haben zur Bedingung das wirkliche oder angebliche Unverständnis, wie ein unfähiger Mensch eine solche hohe Position besetzen kann. Alle politischen Witze in Diktaturen sind Notwehr aus Mangel an öffentlichem Diskurs, in denen sich die Opposition ihrer Existenz versichert. Der jüdische Witz ist aus der kitzligsten Stelle der jüdischen Identität geboren, der Diaspora. Wie kann man eine Nation (= wo man geboren ist) sein, wenn man überall und nirgends zu Hause ist? Keinen eigenen Staat, kein Land zu besitzen, läßt nur die Wendung gegen die eigene kulturelle Lebenswelt (der Diaspora) zu, deren Schwächen daher viel schärfer beäugt werden als bei anderen Völkern. Im intensiveren gegenseitigen geistigen Kitzeln (neben der religiösen Tradition) versichern sich die Juden ihrer Identität. Diese Tradition der Selbstbezüglichkeit macht den jüdischen Witz so unvergleichlich. Schwiegermütter-Witze haben deren dauerhafte (etwa bei den Inuit) oder zeitweilige (50er Jahre in Deutschland infolge des kriegsbedingten Männermangels) Machtstellung im familiären Gefüge zum Gegenstand. Regionalfiguren (Tünnes & Schäl in Köln, Ostfriesen, Bayern, Klein Erna in Hamburg, Schotten, Bretonen, Radio Eriwan) sind ähnlich der Funktion des Clowns Bremswitze, sie verdichten Protestgefühle innerhalb eines Modernisierungsschubes (Tünnes und Schäl den des Wirtschaftswunders). Foucault lachte, als er zum ersten Mal von einer neuen Krankheit hörte, die vorzugsweise, wenn nicht ausschließlich bei homosexuellem Verkehr übertragen werde und die der Vatikan in einer spontanen Regung in die Nähe einer Strafe Gottes gerückt hatte. War die Natur plötzlich katholisch geworden? Noch in der mißlingendsten, übelsten Witzmode läßt sich das Insistieren auf einem Antagonismus erkennen. Wenn das Weibliche an der maskulinen Haut kitzelt, d.h. wenn der Feminismus den status der political correctness erreicht hat, in Institutionen sich Frauenbeauftragte einrichten und in bestimmten öffentlichkeiten Männer sich Frauen gegenüber disziplinieren und sie wenigstens der Form nach als gleichberechtigt anerkennen müssen, dann entstehen Blondinen-Witze (von denen die meisten das Niveau von Nazi-Judenwitzen haben). Das gesammelte maskuline Vorurteilsreservoir schafft sich noch einmal Luft in Witzform: An dieser Stelle verstehen wir Männer nicht oder wollen nicht verstehen. Machos und Patriarchen versichern sich im Pseudo-Lachen über Blondinen, die für alle Frauen stehen, ihrer Identität. Jeder Blondinen-Witz sagt, wir brauchen uns vor den Frauen nicht zu fürchten, sie bleiben was sie sind: dumme Haustiere des Mannes.

Dinner for one oder: Laßt die Toten ihre Toten beleben

Kitzeln ist eine Kunst. Wer seine Kinder kitzelt, weiß, daß das leicht schiefgehen kann, daß Lachen dann in Unwillen und sogar Weinen umkippen kann. Es ist keineswegs ein einfacher mechanischer Vorgang, ein Reflex. Wird Kitzeln dazu erniedrigt, so ist es, wie wir von Grimmelshausen wissen, Folter. Insofern alle anderen, ob körperlichen oder geistigen Mittel, die uns zum Lachen bringen, nur eine Fortsetzung des Kitzelns an anderen Häuten sind, kommt es auch hier (wie bei aller Kunstfertigkeit oder Kunst) auf die Präzision der Mittel an. Jeder weiß, wie leicht ein Witz falsch erzählt werden kann. Ein Beispiel aus Bayern um 1900:

Der Straßenbahnführer fragt den Karrenfuhrmann vor ihm: "Kannst net aus die Gleisn fahrn?" Antwort: "I scho, aber du net."

Es ist hier nicht nur, wie bei jedem Witz die größtmögliche Kürze (der Antwort) witzig, sondern es passen Antwort und Frage auf eine Weise zusammen, die der Fragende nicht geahnt hat (Schlagfertigkeit). Hätte der Straßenbahnfahrer nur wenig anders gefragt oder gerufen, so kann der Witz nicht funktionieren: "Mach den Weg frei!" läßt den schlagfertigen Witz nicht zu. Der Witz hängt an dem Wörtchen "können". Es enthält einen Rest von Höflichkeit, das der Angeredete frech überhört. Stattdessen tut er so, als ob es hier um Physik gehe, die Straßenbahn "kann" natürlich nicht aus den Gleisen fahren. Das ist die Technik des Witzes, die die folgende kitzlige Stelle der sozialen Haut berührt: Hier treffen zwei Epochen, die der Pferde und die der Elektrizität aufeinander, und die alte, untergehende schlägt der siegenden noch einmal ein Schnippchen, der Bauer, das Vorindustrielle ist wortwörtlich dem Städter voraus. Das Motiv David gegen Goliath grüßt von ferne, und wer hielte da nicht mit David? So wie dieser auch ein Kinderspielzeug, eine Schleuder gegen den Riesen verwendete, so hält sich der Fuhrmann an das Wörtchen "kann" und zeigt's dem elektrischen Zeitalter. Die Zuhörer in der Straßenbahn (oder die des Erzählers) lachen, weil ihr Fortschrittsbewußtsein (die moderne Technik ist dem Pferdezeitalter überlegen) drastisch und handgreiflich bezweifelt wird. Die im (Fortschritts-)Bewußtsein (wie in den Nervenbahnen) zirkulierende libidinöse Energie wird gestaut und ergießt sich ins Lachen. Das Bewußtsein von der Unaufhaltsamkeit des Fortschritts ist eben auch mit der Angst besetzt, unter dessen Räder zu geraten. Sie wird hier weggelacht, denn offenbar ist der Fortschritt doch nicht unbedingt so mächtig wie es den Anschein hat.
So wie hier der Fuhrmann in dem Wörtchen "Kannst" die kitzlige, prekäre, schwache Stelle erspäht, so muß bei jedem Lachen grundsätzlich etwas Kitzliges, ein unlösbarer Widerspruch genau getroffen worden sein, von dem aus sich dieses Lachen erschließt. Diese Einsicht läßt sich auch auf ganze Epochen anwenden. Es gibt komische Produkte ("Dinner for One", Heinz Erhardt, Loriot), über die die Bundesrepublikaner lachen oder gelacht haben wie ein Mann. Selbstverständlich sind die Deutschen nach 1945 zusammen mit allen anderen Menschen an sehr vielen Stellen kitzlig, aber wenn man nach "der" kitzligen Stelle "der" Bundesrepublik fragt, dann gibt es darauf doch eine klare Antwort. Die Haut der Bundesrepublik reagiert dort besonders empfindlich auf Berührungen, wo es um das Verhältnis zur Vergangenheit geht. Mindestens einmal pro Jahr wird seit Ende der 60er Jahre die bundesrepublikanische Öffentlichkeit immer wieder von diesem Trauma heimgesucht. Ganz bestimmt ist die Haut der BRD an dieser Stelle "kitzlig" im Sinne von prekär, empfindlich, berührungsängstlich. Aber ist die Vergangenheit der BRD auch in dem Sinne kitzlig, daß darüber gelacht wird? Es ist doch vielmehr so, daß genau das traumatische Verhältnis zum Dritten Reich, den Massenmorden und dem Krieg gerade kein fröhliches Gelächter zuläßt, sondern Hysterie, Aufregung, Beziehen politisch korrekter, also sehr ernsthafter, ausdiskutierter Positionen nach sich zieht. Es ist eben keine kitzlige Stelle, sondern, wie Adorno sagt, eine "Wunde", vielleicht sogar umgeben von Vernarbungen, die nicht oder sehr schwer zu kitzeln sind. Es gilt als ausgemacht, daß über das Dritte Reich und seine Verbrechen überhaupt nicht oder wenigstens nicht von den Deutschen gelacht werden darf. Andererseits ist ist unwahrscheinlich, daß diese seit 1945 über Deutschland schwebende Angstwolke die menschliche Ureigenschaft des Lachens nicht auf sich gezogen hätte, lange bevor die vernünftig-moralischen Diskussionen "Lachen und Holocaust"[8] begannen. Die wirklichen Verbrechen von KZ und Krieg sind (von Deutschen) für Komik unberührbar. Trotzdem will auch ein von Schuld, Verdrängung, Verwundung und Trauma gezeichnetes Lebendiges lachen. Wird das prekäre Verhältnis zur Vergangenheit gar nicht berührt, so getan, als ob es hier keine Angstbesetzung gäbe, dann würde Komik ihre Hauptfunktion versäumen, Angst aufzulösen. Ist die größte Angst der Deutschen die Angst, ihre Vergangenheit könnte doch noch lebendig sein, dann ist es unwahrscheinlich, daß die Komik, über die alle lachen können, ein halbes Jahrhundert lang an diesem Angst-Goliath vorbeigeht und ihn lediglich dem ernsthaften, meist sogar wissenschaftlichen öffentlichen Diskurs überläßt. Die populäre Komik der BRD muß theoretisch aus dem prekären Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart ihre Kraft ziehen, darf aber mit keinem Hinweis die politische Vergangenheit des Dritten Reiches berühren. Dieses Paradox müßte die populäre Komik der Deutschen indizieren und von der ihrer Nachbarn unterscheiden. Es muß ein prinzipiell größeres unbewußtes Moment des öffentlichen Lachens in der BRD vorhanden sein als naturgemäß in jedem Witz vorhanden ist. Es ist wahrscheinlich, daß es seiner Enthüllung Widerstand entgegensetzt.

Ist es nach diesen Überlegungen noch eine große Überraschung, wenn das populärste Stück bundesdeutscher Komik eigentlich nur mit Untoten, nämlich mit noch nicht ganz Gestorbenen und anderen, von diesen gerade noch Lebenden zum Leben erweckten Toten, besetzt ist? Man kann mit nur gelinder Übertreibung sagen, "Dinner for One" ist jedem Deutschen bekannt. Seit 1963 spielt sich zu Silvester in deutschen Wohnzimmern das Auslachen des Vergangenen Jahr für Jahr als Ritual mit steigender Teilnehmerzahl ab (213 Ausstrahlungen seit 1963, 2001: knapp 13 Mio Zuschauer[9]). Auf Freizeiten, Geburtstagen, in Familien, Vereinen, Animationsveranstaltungen auf Mallorca spielen Deutsche das Stück gruppenweise nach, Zitate daraus ("the same procedure as every year") sind öffentliche Redensarten geworden. Das alles läßt sich nicht mit der hervorragenden komischen Technik (running gag, timing, Typen- und Situtionskomik, zunehmende Trunkenheit des Protagonisten usw.) erklären. Sketche von Loriot, Heinz Erhardt und manche andere, die das Fernsehen produziert hat, stehen dem in nichts nach. Auch ist der Stoff dem Jahresende nur scheinbar nahe: ein Sketch über einen Silvesterkarpfen oder ein auf komische Weise ausbrechendes Feuerwerk (Tati) lägen viel näher. Warum soll man sich an Silvester immer wieder einen individuellen Geburtstag einer alten Frau anschauen? Ein Unterhaltungsautor, der mit dieser Idee für eine Silvestersendung zu einem TV-Redakteur ginge und vorschlüge, das Ganze auf Englisch zu machen, dann werde es erst richtig populär, flöge raus. Versuche, das Stück einzudeutschen (NDR, 1999 auf platt), hatten keinen Erfolg.[10] Aber in keinem anderen Stück Komik der BRD wird so ausschließlich die Vergangenheit belacht.

"Laßt die Toten ihre Toten begraben" wäre ein Satz, den kein Deutscher ohne starken Widerspruch öffentlich in bezug auf Auschwitz und das Dritte Reich sagen kann. Aber seine komische Umkehrung -- laß die Fast-Toten ihre Toten wiedererwecken (d.h. die sind ja alle längst begraben) -- in völlig privater und fremder Gestalt kann aus derselben Problemlage heraus belacht werden. Fernab in England lebt eine reiche englische Lady, skurril, fast schon tot, die die Vergangenheit wichtig nimmt. Einmal im Jahr zwingt sie ihren armen Butler, vier verstorbene Freunde oder verflossene Liebhaber darzustellen, bis er sturzbetrunken ist. Die Verlebendigung der Vergangenheit ist eine äußerst skurrile, groteske Sache. Wer das tut, ist ein Sonderling, ein komischer Kauz. Mit der deutschen Wirklichkeit hat das alles überhaupt nichts zu tun, das ist typisch englischer Humor. Allerdings hatte das Stück in England keinen Erfolg, schaffte es nie bis ins Fernsehen. Auf diese Art und Weise können auch die Deutschen ihre Vergangenheit heiter verabschieden: völlig unbewußt.[11]

Aber die Liebe und Ausdauer, mit der quer durch die gesamte Bevölkerung über 40 Jahre dieses Ritual betrieben wird, demonstriert nicht viel anders als beim Waschzwang von Neurotikern, welche starken inneren Kräfte da am Werke sein müssen. Das Bewußtsein wird durch die völlig private, englische, komisch-lustvolle Gestalt abgelenkt, das kollektive Unbewußte, in dessen Reich Wunsch und Realität bekanntlich nicht unterschieden werden, befreit sich von der Angst, die eigene Vergangenheit könne noch lebendig sein oder wiederkehren. ähnlich wie beim Kitzeln sagt unser Bewußtsein also gleichzeitig ja und nein zu "Dinner for One": Ja, das ist lustvoll, wir schütten uns über Jahre aus vor Lachen über dieses Stück; nein, das hat nichts mit uns zu tun, ist typisch britischer Humor, völlig harmlos, eben sehr gut gemachte Komik ohne jeden Bezug zur deutschen Wirklichkeit oder zu unsern Ängsten. Das Unbewußte, das allen Rationalisierungen gegenüber ("Bonn ist nicht Weimar", wir haben eine Demokratie und gehören jetzt zum Westen) unzugänglich ist und weiß, daß wiederkommen kann, was es einmal gegeben hat, ja, für das eigentlich alles bereits Geschehene und alles Vorstellbare gleichzeitig da ist, reagiert umgekehrt: wenn es keine reale Möglichkeit gibt, die Angst vor der eigenen Vergangenheit loszuwerden, dann muß es sich an diese halten. In diesem Fall wäre das Lachen eher ein Symptom als ein hilfreiches Mittel gegen Angst. Die richtige, bewußtseinsfördernde Therapie dieses Zustands wäre eine deutsche Groteske von Christoph Schlingensief: Die preußische Gutsherrin Leni (Riefenstahl) am Tisch mit Hitler, Goebbels, Göring und Ernst Jünger, James eine Mischung aus Schäferhund und Jude.

Heinz Erhardt oder: die totale Nettigkeit

Es gibt zwei weitere nationale Komikproduzenten in der BRD, die es zwar nicht in der rituellen Praxis, aber doch an nachhaltiger Popularität mit "Dinner for One" aufnehmen können, Heinz Erhardt und Loriot. Es steht außer Frage, daß Heinz Erhardt ein hochklassiger Komiker ist, der den Deutschen das Lachen nach 1945 gewissermaßen erst wieder beigebracht hat. Trotzdem sind seine Mittel, wenn man genauer hinschaut, recht begrenzt. Es sind, grob unterschieden, vor allem zwei. Sein Werk besteht zur Hälfte aus einem einzigen großen Kalauer, zur anderen Hälfte aus seiner grotesken persönlichen Erscheinung, einer Mischung von Vaterfigur und vorpubertärem Kind.

Erhardt selbst war schon Ende der 20er Jahre Unterhaltungskomiker und in den Kriegsjahren Komiker in der Marine. Man könnte daher auf den Gedanken verfallen, daß seine öffentliche Wirkung nach 1945 eigentlich nur die Fortsetzung dieser Unterhaltungs- und Operettenkomik sei, die sich auch ein Regime wie das Dritte Reich leisten konnte bzw. mußte und daß es daher vergebliche Mühe sei, seine Produktion mit den besonderen Ängsten der Bundesrepublikaner in Beziehung zu setzen. Dagegen spricht aber eben doch die außergewöhnliche, nach 1968 zunächst abbrechende, aber später wieder einsetzende Popularität und auch die Wertschätzung, die ihm große Komiker wie z.B. Otto Waalkes und Robert Gernhardt noch heute entgegenbringen. Komik ist der avancierteste Teil aller Unterhaltung, weil man, um Menschen wirklich zum Lachen zu bringen, ihnen -- und das heißt eben: ihren Erfahrungen -- näher treten muß, als ein irgendwie zwanghaft-heiterer Operettenfilm oder der Musikantenstadl.

Gibt es denn eine Möglichkeit, diesen großen, bis ins Feinste verästelten Kalauerbaum, als der Erhardts geschriebenes Werk heute erscheint, mit einer prekären, empfindlichen, angstbestzten Stelle der nationalen Haut in Verbindung zu bringen? Der Wortwitz gilt unter Komikern und Komikforschern gemeinhin als die einfachste, nächstliegende, "billigste" Form des Witzes. Die Sprache mit ihren nur 26 Buchstaben und einer begrenzten Zahl artikulierbarer Silben weist zwangsläufig so viele gleich oder ähnlich klingende Silben und Homonyme auf, daß die Zahl der Gelegenheiten, aus dem Reich der Gedanken und Bedeutungen (Signifikat) auszubrechen und sich stattdessen an den Lautklang (Signifikant) zu halten, nicht eben klein ist. Das hat zu dem teilweise schlechten Ruf dieser Witzform ("Kalauer") geführt. Was wir an einem kleinen Kind, das die Sprache erlernt, freundlich mitvollziehen oder sogar fördern, das Spielen mit Silben und Wörtern, als wären es bunte Klötze, die man zum Vergnügen auf dem Tisch hin- und herschiebt, das langweilt oder ärgert uns doch, wenn es ein Erwachsener in einem Gespräch allzu extensiv betreiben würde.[12]

Diese Überlegung führt zu dem Gedanken, daß es eben diese infantile Unschuld sei, derer sich die Deutschen im Wirtschaftswunder, der großen Zeit Erhardts, seit Mitte der 50er Jahre überrascht innewurden. Wir blicken um uns und sehen, daß uns niemand bestraft hat (Morgenthau-Plan), obwohl wir es verdient hätten, ja, daß es uns sogar besser geht als den meisten anderen Europäern. Wir sind gegen alle Erwartung und Wahrscheinlichkeit noch einmal davongekommen -- das dürfte wohl das bestimmende Lebensgefühl dieser Zeit gewesen sein. Die biblische Drohung, daß Untaten -- und auf welche träfe dieses Wort eher zu als auf die von Deutschen im 20. Jahrhundert begangenen? -- bis ins siebente Glied bestraft werden, hat sich augenscheinlich zunächst als falsch erwiesen. So könnte man das Phänomen Erhardt als Weglachen einer allgemeinen unspezifischen nationalen Bestrafungsangst verstehen, wie ein glückliches Kind lacht, das den Prügeln unerwarteterweise entkommen ist.[13] So kann man es für die Erwachsenen bis zu dem Geburtsjahrgang 1930 beschreiben. Für die Kinder der Bundesrepublik war Erhardt insofern ein Glücksfall, als sich die kindliche Unsinns- und Sprachspiellust öffentlich bestätigt und von der Familie, ja von ganz Deutschland anerkannt fühlen durfte. Dies kann für die nächste Generation den Sinn für Humor (als soziales Gen von Autonomie und Freiheit) durchaus gestärkt haben.

Die Relativität des Phänomens Heinz Erhardt wird deutlich, wenn man es mit der in manchem ähnlichen Lage nach dem ersten Weltkrieg vergleicht. Hier wurden die Deutschen zwar mit den Versailler Verträgen auf fast biblische Weise mit Strafe bedroht, aber noch bevor dies recht zu Bewußtsein kam oder jedenfalls in Mißachtung dieser Situation, explodierte der Dadaismus, der zwar als eigene Bewegung nicht lange andauerte, dessen Beben (im Verein mit seinem etwas rationaleren Abkömmling, dem Surrealismus) aber bis heute in der gesamten geistigen Produktivität des 20.Jahrhunderts (einschließlich der philosophischen Wissenschaften) nachwirkt. "Dada" war ein vehementer Ausbruch aus der Dialektik der Aufklärung, die Dadaisten richteten ihre ganze produktive geistige Kraft gegen die (instrumentelle) Vernunft, die schließlich in jeder Gasgranate steckte, die auf den Schlachtfeldern explodiert war. Dada richtet sich in ganz erheblichem Maße auch auf die Sprache, die in ihren Macht- und Gewohnheitsstrukturen kunstvoll zerstört werden muß, um nach der zivilisatorisch-materiellen Katastrophe eine geistige tabula rasa herzustellen, auf der etwas Neues wachsen konnte. Dieses Moment nun kann man auch Erhardt zusprechen. Nach 12 Jahren brauner Sprachvergewaltigung hat das exzessive Spiel mit Wörtern und Silben etwas Befreiendes. Man tut Erhardt sicher nicht unrecht, wenn man seine Leistung in dieser Hinsicht als dadaistisches Rinnsal bezeichnet. Denn die Gründe für die Schwäche im Vergleich mit dem Original liegen nicht bloß in seiner Person, sondern in der Gesamtlast des vorausgegangenen 30jährigen Krieges.

Damit sind wir bei der zweiten Seite des Phänomens Erhardt angelangt, seiner körperlich chimärischen Erscheinung und öffentlicher Imago als Vater und Kind gleichzeitig. Man muß natürlich daran denken, daß fast jeder Komiker etwas Kindliches hat und daß Männer immer eines von beiden, Vater (Großvater) oder Sohn sein müssen: Oliver Hardy ist ein umständlicher, eine Bildung und Wohlerzogenheit, die er nicht besitzt, hervorkehrender Vater, Stan Laurel sein dummer Sohn; W.C. Fields ist wie Erhardt auch eine (freilich: böse) Vaterfigur mit babyface; Eulenspiegel, Keaton, Chaplin, Otto Waalkes, Harald Schmidt sind Söhne, Woody Allen kann beides sein. Aber ein solcher "Papa vom Dienst", der gleichzeitig ein solches Babyface hat wie Heinz Erhardt, ist in der Geschichte der Komik einzigartig. Allein die Direktorsbrille in dem infantilen Mondsgesicht bringt den ganzen grotesken Gegensatz genügend zum Ausdruck. Der Körper, auf dem dieser Kopf aufsitzt, kann, je nach Bewegungsart, sowohl als der eines wohlsituierten Herrn vor Ausbruch des sportlichen Zeitalters wie auch als pummeliges Riesenbaby aufgefaßt werden.

Das besonders Chimärenhafte (Chimäre: ein aus mindestens zwei Lebewesen zusammengesetztes Lebewesen) dieser Erscheinung in Verbindung mit dem besonders Harmlosen seines Humors war der Grund für seinen Erfolg. Wären die Zeiten anders gewesen, so hätten andere wie der "Kerl" Heinz Rühmann (der besser ins Dritte Reich paßte) oder die spitze Quasselstrippe Theo Lingen in der Popularität vorne stehen können. Karl Valentin, der 1948 verhungerte, hätte seiner hageren Figur wegen ebenfalls als Wirtschaftswunder-Komiker nicht reüssieren können. Einerseits stützt Heinz Erhardt die patriarchale Republik, deren autoritäre Kanzlerväter Adenauer, Erhardt, Kiesinger leichter zu ertragen waren, wenn ihnen auch ein lustiger beigesellt war, so wie in der patriarchalischen Familie der Vater nach Tisch seine Scherzchen macht. Andererseits erfährt das Phänomen Erhardt aber erst vor dem Hintergrund der Zeit vor 1945 seine ganze Bedeutung. Das Dritte Reich war ein Reich der Söhne, Hitler der "Gefreite des ersten Weltkrieges", der die überragende Vaterfigur Hindenburg schließlich verabschiedete und dessen Amt übernahm. SA und SS waren Sohneshorden. Hitler flogen die Frauenherzen auf andere Weise zu als vor ihm Hindenburg. Nach außen regierte diese revolutionäre Sohnesdiktatur mit Terror, aber im Innern der Staatsmacht herrschte ein Bürgerkrieg der Ämter und Ministerien um die Gunst des Anführersohnes, recht ähnlich der Freudschen Vorstellung von der Situation nach dem gemeinschaftlichen Vatermord. Der Zusammenbruch eines solchen Staates macht nicht nur die politische Hinwendung zu einer autoritären Vaterdemokratie verständlich, sondern erklärt auch zu einem gewissen Teil das Tabu über Sohneskomiker. Figuren wie Harald Schmidt, Otto, Helge Schneider und die ganze Riege heutiger junger TV-Comedians hätten 1950 keine Chance gehabt. Komische junge Männer konnten erst nach 1968 Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit gewinnen.

Der größere Anteil der Popularität des kindisch-kindlichen Vaters stammt aber dennoch aus einer anderen Quelle. Wer im Dritten Reich Sohn gewesen war und überlebt hatte, war in der frühen BRD Vater. Konnte, wer jetzt aus vollem Herzen mit seinen Kindern über Heinz Erhardt lachte, jemals in Hitler-Uniform an der Ostfront gewesen sein? Eine Familien-Nation von Heinz-Erhardt-Fans ("Was bin ich heute wieder ein Schelm!") sollte in Lenin- und Stalingrad gekämpft haben? Ausgeschlossen! Die Ikonographie des Dritten Reiches bestand vor allem aus heroischen Gesichtern junger Männer (Arbeiter - Bauer - Soldat). Welche bessere Mimikry und Selbsttäuschung gab es, als das Bild des Sohnes vollkommen in die des Vaters und des Kindes aufzulösen? Und wenn sich dafür auch noch eine einzige, heiter-harmlose Integrationsimago zur Verfügung stellte, so daß selbst dieser Widerspruch zwischen Kind und Vater in einer Identität aufgehoben war, dann war ihm große Popularität vorherbestimmt. Heinz Erhardt lieben, heißt, die Angst, seine männliche Kraft in einem Staat des Verbrechens angewendet zu haben, im freilich verschobenen, unbewußten Lachen (eben über ganz andere, völlig harmlose Inhalte) aufzulösen sich bemühen. Eine Nation biederer Familiarität lacht, wenn sie über Erhardt lacht, im Grunde über die Vorstellung, daß es so etwas wie Männer / Söhne überhaupt je gegeben hat. Und genau diese verdrängte Filialität kehrt dann in unerwarteter Gestalt 1968 zurück.

Loriot oder: keine Chance, damit fertig zu werden

Loriot ist praktisch unkritisierbar, alle Deutschen lieben ihn. Er ist ganz sicher ein Weltklassekomiker. Schaut man sich Loriots Stoffe an, (absurde Cartoons, Höflichkeit, Ratgeber, Bildung, slapstick, Familiäres, Beziehungen der Geschlechter, Hunde, allgemein Politisches, Ehe, Liebe, Alltag), so ist daran nichts besonders Deutsches zu entdecken. Auch die Knollennasen sind ein Derivat alter Komik, des Clowns, und nichts Deutsches. Man könnte daher annehmen, seine anhaltende außergewöhnliche Popularität sei eben nichts anderem geschuldet als seinem komischen Genie. Wenn wir trotzdem an der Vermutung festhalten, daß es auch ihm ganz besonders gut gelungen ist, das gefährliche Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart zur Quelle von Komik zu machen, so stützen wir uns auf zwei Beobachtungen: 1. Loriot ist nun über fast 50 Jahre lang, auch nach dem kulturellen Bruch von 1968 und dessen langsamer Revision seit der Kohl-Ära, quer durch alle Schichten und Altersklassen populär; 2. Daß er trotzdem im Ausland unbekannt ist, während doch alle großen Komiker anderer Länder über das Fernsehen den Weg ins deutsche Wohnzimmer fanden und finden, kann zum einen mit dem auf der Welt verbreiteten und von den Deutschen selbst geglaubten Vorurteil zusammenhängen, die Deutschen seien humorlos; es kann aber auch den Grund haben, daß er wirklich die kitzligen historischen Stellen der Deutschen sehr gut trifft, die andere Völker eben nicht in derselben Weise haben.

Halten wir zunächst fest, daß sich Loriots Popularität nicht auf ein einzelnes Stück bezieht, wenngleich natürlich bestimmte Fernsehsketche wie "Männer im Bad", "Die Nudel", "Der Lottogewinn", "Das Frühstücksei", "Der sprechende Hund" bekannter sind als andere. Vielmehr gilt die Zuneigung des Publikums einer bestimmten Haltung, einem Charakteristikum, das sich durch seine komische Produktion hindurchzieht und sich mehr oder weniger überall zur Geltung bringt. Könnten wir dieses Besondere näher fassen, so hätten wir wahrscheinlich auch den deutschen Grund seines Ruhmes erkannt.

Wenn nicht alle, so doch fast alle Sketsche Vicco von Bülows, zeichnen sich aus durch Scheitern. Die beiden im Nudelsketch werden sich kein Ja-Wort geben, das moderne Wohnzimmer verläßt der Versicherungsvertreter ruiniert, die Paare, die den Kosackenzipfel verspeist haben, werden nicht mehr zusammen Camping-Urlaub machen, Opa Lindemann wird durch seinen Lottogewinn nicht glücklich, er wird weder eine Herrenboutique eröffnen noch den Papst besuchen, die Herren im Bad haben sich eben darauf geeinigt, daß die Schwimmente mit hinein darf, da erscheint ein dritter nackter Herr und möchte auch ins Bad, die Jodeln lernende Ehefrau emanzipiert sich um keinen Deut usw. usf. Loriot selbst spricht vom "kleinen Chaos" als Prinzip seiner Komik. Kein Mitglied seines gesamten Figureninventars wird mit seiner Sache fertig, alles endet immer im Durcheinander.
Nun kann man zwar sagen, es sei gar nicht anders denkbar, als daß Komik Chaos stifte, um die chaotische oder anarchistische Reaktion des Lachens hervorzurufen, so wie sich ja die Finger der kitzelnden Hand schnell und vorwitzig auf dem Körper eines anderen bewegen und dessen Haltung im Lachen chaotisieren. Das Chaos ist die Ausdifferenzierung eines oder die Akkumulation mehrerer unlösbarer Widersprüche. Aber die Monomanie, mit der Loriot das Scheitern betreibt, ist in der Geschichte der Komik beispiellos. (Höchstens Woody Allen steht ihm darin nahe, und das ist die Wurzel des jüdischen Humors in seinem Werk.) Es sieht z.B. sehr chaotisch aus, wenn sich Mr. Bean eine Badehose anzieht, ohne die Hose auszuziehen, aber, was bei Loriot unmöglich wäre, es gelingt ihm am Ende. Chaplin lebt immer im Chaos, aber jede Episode geht glücklich aus. In Loriots Filmen erzwingt zwar die Kino-Tradition auch ein happy-end, aber das wird gerade so hingebogen, alle einzelnen Episoden enden im Scheitern.

Das "kleine Chaos", das Loriot regelmäßig und permanent inszeniert, ist eben nichts als die privatisierte, verkleinerte Fassung des großen historischen Chaos, das den Eingang der BRD in die Geschichte darstellt. Wenn man alles nur genügend klein macht, dann kann man darüber lachen. Das ist die Grundregel jeden Humors (im Gegensatz zu Action- und Katastrophenfilmen, in der jede Bagatelle zur Todesgefahr werden kann). In der Ausführung sind die komischen Figuren Loriots perfekte Deutsche: sie tun mit großer Gründlichkeit und Beharrlichkeit konsequent das Falsche. (Das hat Ähnlichkeit mit Benjamins "bucklichtem Männlein".) Loriots gesamtes Werk sagt seinem Publikum, es gibt da etwas, von dem ihr nicht loskommen werdet, so sehr ihr euch auch anstrengt. Seht her, das zeigt euch jede meiner Geschichten. Und mögen die meisten dieser Geschichten auch privat und allgemein sein, also das Unbegreifliche oder Absurde an der Liebe, den menschlichen Beziehungen, der Ehe, gesellschaftllichen Verhaltensnormen zeigen, die Empfänglichkeit und das Interesse des deutschen Publikums daran ist doch historisch bestimmt. Für das Belachen der Unsicherheit oder der Absurdität aller Normen und Ordnungen ist kaum ein Volk so prädestiniert wie eines, das sie noch vor kurzem bis zum wahnsinnigen Exzeß betrieben hatte. Hierin ist Loriot der Nachfolger von Karl Valentin.

Das zweite deutsche Element bei Loriot ist wie bei "Dinner for One" das Pseudoenglische. Wenn es irgendwo ein Beispiel für die Macht höflicher kommunikativer Vernunft gibt, dann bei den Herren in der Badewanne. Alle Aufregung, alles Weitermachen in dem bisherigen Gebrüll der Welteroberung von 1914 bis 1945 ist unmöglich. Wir sind ratlos, aber wir lassen uns nicht verunsichern. Loriots gezeichnetes und geschriebenes Werk ist zu 90% absurde Ratgeberliteratur, die nicht nur den Boom der trivialen Ratgeber in den 50er und 60er Jahren parodiert, sondern die vollkommene historische Ratlosigkeit nach einem halben Jahrhundert der Hölle auf Erden in kleine Portionen packt.[14] Jede Zeile und jedes Bild Loriots sagt den Bundesrepublikanern: Wir müssen Haltung auch in einer Zeit bewahren, die nach dem Vergangenen eigentlich haltlos ist. Konnte noch Goethe von den Deutschen sagen, sie lügen, wenn sie höflich sind, so haben wir in von Bülow endlich einen großen Nationalerzieher, der den Deutschen beibringt, was ihnen fehlt: die Höflichkeit. Es ist interessant, daß immer wieder Loriots Höflichkeit, seine "Haltung" hervorgehoben und mit England in Verbindung gebracht wird. Vicco von Bülow selbst sieht das ganz anders: als sein preußisches Erbe. So fremd ist den Deutschen eine bessere Seite ihrer eigenen Traditon geworden.

Endnoten
1 Sandor Ferenczi: Versuch einer Genitaltheorie. In: S.F., Schriften zur Psychoanalyse II. Ffm 1972, S. 317-400
2 Man kann mit einem Messer eine Torte teilen, einen Luftballon nicht. Die Torte ist kein Individuum, der Ballon schon. Allerdings besteht dieses Individuum nur aus aufgeblasenen, hybriden Gattungskräften (Gummi).
3 J.W. v. Goethe: Die Wahlverwandtschaften. München 1963, S. 185
4 Freud erwähnt zwar die Technik der "Wiederholung", aber er zitiert keinen Witz, der dabei nicht leichte Modulationen vornehmen muß. Vgl. S. Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten. Frankfurt am Main 2002
5 Zum Kitzeln als dem Ursprung des Lachens und als Mittel der Entwöhnung vgl. R. Stollmann: "Das Lachen und seine Anlässe." In: Maske und Kothurn. Komik. Wien 2006, S. 13 - 20
6 Der kommt nicht nur in diesem Witz vor, sondern häufiger, z.B. bei Außenministern ("genschern").
7 Daß das menschliche Skelett für den aufrechten Gang nicht prädestiniert war, daran erinnert uns immer noch der Rückenschmerz in Wirbelsäule bei zunehmendem Alter.
8 Vgl. z.B.: Margrit Frölich, Hanno Loewy, Heinz Steinert: Lachen über Hitler - Auschwitz-Gelächter? Filmkomödie, Satire und Holocaust. Frankfurt am Main 2003
9 Vgl. Stefan Mayr: Dinner for One von A - Z. Frankfurt am Main 2002, S. 119 und 113
10 Die eingefärbte Fassung (NDR, 2000) wurde wieder aus dem Programm genommen. Betont Farbe zu sehr die Präsenz, die Gegenwart?
11 Alle soziologischen Schulen lehren, daß Unterhaltung Erfahrung zersetzt. Aber damit Unterhaltung "ablenken", nichts mit der Wirklichkeit, nichts mit Problemen zu tun haben kann, muß sie die Fluchtrichtung "kennen", d.h. sie muß an irgendeinem Punkt Berührung mit gesellschaftlicher Erfahrung haben, um sich davon abstoßen zu können. Dies ist bei Dinner for One die Angst vor der Vergangenheit, die dann in möglichst fremde Gewänder gekleidet, unkenntlich gemacht wird.
12 Wie wenig man aber Technik und Qualität des Witzes tatsächlich im Einzelfall identifizieren kann, zeigt dann ein Lese-Kalauer von Robert Gernhardt: "Es gibt kein richtiges Leben im valschen." Freud hat beobachtet, daß wir Witze um so mehr schätzen, je weniger Mittel sie anwenden, je weniger Aufwand sie treiben müssen. In dieser Hinsicht ist Gernhardts Lesewitz vermutlich nicht mehr zu übertreffen. Denn eine noch winzigere Veränderung als die zwischen zwei gleichklingenden Buchstaben, von einem f zu einem v ist kaum denkbar. Schreibt man Fogel oder Vreud, dann sind das aber Fehler, keine Witze. Das heißt, die Geringfügigkeit der Veränderung an sich ist nicht witzig, sondern nur im Verhältnis zu ihrer Wirkung oder Bedeutung. Es ist wie beim Preis-Leistungs-Verhältnis: Mit wenig Aufwand viel Gewinn -- in diesem Fall an Erkenntnis. Man muß nämlich die Situation berücksichtigen, auf die dieser Witz reagierte. Das berühmte Zitat von Adorno war am Ende, totzitiert und falsch verstanden, in Anspruch genommen, um nicht mehr denken zu müssen, sondern, unter Umständen auch mit Gewalt, gegen das kapitalistische "Schweinesystem" vorzugehen, die betrübliche sektiererische Endphase der Studentenbewegung Mitte der 70er Jahre. Dieser platte Mißbrauch des Zitats spricht allem Hohn, wofür der Name Adornos steht. In dieser Lage ist Gernhardts Lesewitz eine Rettungsaktion: Man kann den Satz nämlich nicht mehr zitieren, ohne falsch verstanden zu werden. Also kann man ihn nur noch falsch, eben "valsch" zitieren und so retten. Der Antagonismus, den dieser Kalauer konstatiert, ist der zwischen der Wahrheit des Adorno-Satzes und seiner falschen Rezeption.
13 Wir suchen hier nach dem spezifischen Lachen der Bundesrepublik. Das drückt sich in der Sprachartistik Heinz Erhardts insofern aus, als sie das Vergehen der Angst vor nationaler Bestrafung begleitet und befördert. Inhaltlich ist Erhardts Werk unspezifisch, es entspringt der Form nach dieser Erfahrung, richtet sich aber selbst nicht auf spezifisch bundesrepublikanische Wirklichkeiten, wenngleich in manchen Gedichten Erhardts sich dieser Grundmechanismus seiner öffentlichen Wirkung anzudeuten scheint:

Der Schmetterling
Es war einmal ein buntes Ding,
ein sogenannter Schmetterling,
der war wie alle Falter
recht sorglos für sein Alter.
Er nippte hier und nippte dort,
und war er satt, so flog er fort.
Flog zu den Hyazinthen
Und guckte nicht nach hinten.
Er dachte nämlich nicht daran,
daß was von hinten kommen kann.
So kam's, daß dieser Schmetterling
Verwundert war, als man ihn fing.

(Erhardt: 64)

Und wo in der Geschichte wäre je aus einer häßlicheren Raupe als dem Dritten Reich ein schönerer Schmetterling als die BRD gekrochen? Das Noch-einmal-Davonkommen muß als etwas so Unwirkliches empfunden worden sein wie es die allgemein-menschlichen, zeitlosen Inhalte sind, die kaum über das hinausgehen, was den "goldenen" Humor des 19. Jahrhunderts so resignativ-spießig macht. Das wird einem sofort klar, wenn man Erhardt mit dem zeitgleichen Wolfgang Neuss oder dem politischen Kabarett vergleicht. Trotzdem erscheinen Erhardts Sprachakrobatik und Inhalte in dem Grade legitim, wie das nationale Gefühl der Verwunderung, daß es schlimmer hätte kommen können, eigentlich müssen, authentisch ist.
Die nichtauthentische Seite dieses Gefühls, daß es nämlich die Verdrängung und Leugnung der verbrecherischen Vergangenheit enthält, kann Erhardt inhaltlich fast immer vermeiden. Wo sie doch hervortritt, geschieht das selten und unfreiwillig oder unbestimmt und knapp. So ist in dem Film Mein Mann, das Wirtschaftswunder (1960) für wenige Sekunden eine pseudomoderne Wandbar zu sehen, deren Outfit mit Picassos Guernica verziert ist, dahinter Kognacflaschen, von denen eine im Film benötigt wird. Es ist unwahrscheinlich, daß dafür das von Dieter Hildebrandt geschriebene Drehbuch verantwortlich ist, wahrscheinlich ist das Bild eher aus Versehen als Requisite für Modernität in den Film geraten. Aber es wurden eben auch aus Versehen Parkplätze über Judenfriedhöfe gebaut, der Zufall ist hier entlarvend sachlich. Er enthüllt den Zynismus von allzuviel Pseudonaivität und Nettigkeit, das Lebenselexier der Unterhaltungsindustrie. "Seid nett zueinander!" und "Ein Herz für Kinder" waren zwei Slogans der Bildzeitung, von denen Erhardt nicht sehr weit entfernt ist. Mit vollkommenem Recht verbreiteten die protestiernden Studenten nach dem Anschlag auf Rudi Dutschke 1968 ein Poster, das ein großes, frisches, bluttriefendes Herz zeigt, darunter die letztere Parole. Während dieser Zeit (1969) schrieb Erhardt der Bildzeitung einen Leserbrief, in dem er mit der Anrede "Liebes Bild!" um korrekte Schreibung seines Namens, "ohne h hinter dem E und mit dt am Schluß" bat. - Vgl. R. Berg / N. Klugmann: Heinz Erhardt, dieser Schelm. München 1987, S. 225f

14 Eine Auswahl der Buchtitel V.v. Bülows: Unentbehrlicher Ratgeber für das Benehmen in feiner Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1955; Wie wird man reich, schlank und prominent?. Frankfurt a. M. 1956; Wie gewinnt man eine Wahl? Frankfurt a. M. 1957; Der gute Ton. Zürich 1957; Der Weg zum Erfolg. Zürich 1958; Für den Fall.... Zürich 1960; Umgang mit Tieren. Zürich 1962; Nimm's leicht. Zürich 1962; Der gute Geschmack. Zürich 1964; Neue Lebenskunst in Wort und Bild. Zürich 1966; Loriots großer Ratgeber. Zürich 1968; Die Ehe für Anfängerinnen. Zürich 1981; Enkel für Anfänger. Zürich 1998.