Glossen 25
Susanne Schädlich
Bald Seitdem sie es ihm gesagt haben, ist von allem alles
weniger geworden. Er fragte, wann. Das hatten sie nicht gewußt.
Wie es in seinen Ohren klingt. Die Bäume kündigen es an.
Es ist Winter. Er geht durch die Straßen, täglich, seit
sie es ihm gesagt haben. Im Grunde, denkt er laut vor sich hin, ist
der Winter mein Freund geworden. Es ist spät. Es schneit. Irgendwo
läutet eine Glocke. Er kauft eine Zeitung. Der Kiosk hat immer
auf. Für die Tagzeitungen und für Nachtzeitungen. Für
die Tagmenschen und für die Nachtmenschen. So einer ist er. Man
kennt ihn dort. Es bedarf nur weniger Worte. Mit der Zeitung unter
dem Arm geht er in sein Café. Seins, weil er dahin immer geht,
mit seiner Zeitung unter dem Arm, mit niemandem sonst. Er wohnt schon lange in dieser Stadt. Aber kürzlich
ist er umgezogen. Es lag schließlich Veränderung in der
Luft. Er hatte sie schon lange, bevor sie es ihm gesagt hatten, gerochen. Die Zeitung liest er nicht. Er trägt sie mit sich
herum, wie Gedanken. Manchmal wünschte er, seine Gedanken wären
eine Zeitung. Er legt die Zeitung auf den Stuhl, nachdem er sich einen
Tisch gesucht hat, in dem Café, in das er immer geht. Er findet
auch immer einen leeren Tisch. Er legt die Zeitung auf den Stuhl neben
dem Stuhl, auf dem er sitzt an dem Tisch. Das heißt vieles.
Niemand soll sich zu ihm setzen Er bevorzugt es, allein zu sein. Er
möchte nicht behelligt werden, will im Dunkeln bleiben. Oder
niemand setzt sich zu ihm, weil er den Stuhl vielleicht freihält
für jemanden. Ist das Café voller Menschen, und das ist
es um Mitternacht, deshalb kommt er früher, wird jemand fragen,
ob er den Stuhl freihalte. So geschieht es jede Nacht kurz vor Mitternacht.
Gewöhnlich antwortet er wahrheitsgemäß, wendet sich
ab, läßt die Zeitung liegen. Auf Debatten läßt
er sich nicht ein. Der Stuhl ist und bleibt leer und wo er ist, weil
er es so will, weil er allein sein will. Ein leerer Stuhl gibt ihm
das Gefühl, allein zu sein. Dahingehend ändert sich seine
Laune nicht. Das merkt jemand und wendet sich ab kurz vor Mitternacht. Er sitzt also am Tisch, die Zeitung auf dem Stuhl neben
ihm. Er blickt sich um und fragt sich, wie viel da ist für ihn
von allem, seit es weniger geworden ist. Er bekommt es mit der Angst
zu tun. Die Angst kommt und geht. Sie macht es ihm gleich. Wenn sie
kommt, wird ihm heiß. Er öffnet den ersten Knopf des Hemdes
dann, vorausgesetzt, er trägt eines. Seitdem sie es ihm gesagt
haben, und die Angst kommt und geht, trägt er nur noch Hemden.
Damit er einen Knopf aufmachen kann. Gleich anschließend zieht
er das Taschentuch aus der Hosentasche, das hat er immer bei sich,
und streicht sich mit dem Taschentuch über die hohe Stirn. Eine
Denkerstirn. Manchmal knotet er einen Knoten ins Taschentuch. Als
Gedankenstütze. Mittlerweile legt er seine Gedanken lieber ab,
wie die Zeitung. Läßt sie den Stuhl besetzen. Er schaut
sich um, weil er den ersten Knopf aufgeknöpft hat und sich mit
dem Taschentuch über die Stirn streicht. Er fühlt sich beobachtet.
Auch wenn er versucht, nicht aufzufallen. Doch ein Mann, der sich
das Hemd aufknöpft und über die Stirn mit einem Taschentuch
streicht, fällt auf. Zumindest jemandem, der aufmerksam sieht.
Wie das Mädchen dort drüben, das bedient. Er gibt darauf
Acht, daß seine Bewegungen trotz allem unauffällig bleiben.
Wohl möglich, daß sie auf ihn zustürzt, mit einem
Glas Wasser in der Hand und Fragen im Mund. Und dann schauen alle.
Sollte er lügen, mit der Hand abwehren und schweigen? Das täte
er. Das Mädchen stünde dann da mit dem Glas Wasser in der
Hand und ohne Antwort im Ohr. Lieber schweigt er allein. Die einzigen
Wörter, die er geäußert hat, vor etwa fünf Minuten,
waren, einen Kaffee bitte und einen Cognac. Das Mädchen hatte
genickt. Hübsch ist sie übrigens, die Kleine. Schwarz gelockt
mit grüngrauen Augen. Genickt also hat sie, als wisse sie schon.
Sie weiß es auch. Seinen Cognac und seinen Kaffee, die sie jetzt vor ihn
hinstellt, bringt sie ihm Nacht für Nacht um Mitternacht. Und
er tut so als sei sie jede Nacht eine andere. Jetzt nickt er. Sie
erwidert irgendetwas. Er schließt die Augen. Cognackaffee zieht
er durch die Nase ein. Wie viele Male und wie wenige Male noch? Könnte
er die wenigen Male von den vielen abziehen, wüßte er wie
wenige ihm noch blieben. Schön wüßte er mehr als die,
die es ihm gesagt hatten. Er öffnet die Augen. Sie ist fort, an einem anderen
Tisch. Er zieht die Tasse nahe zu sich heran, ein Stück Zucker
genügt, und rührt. Er genießt das Rühren, rührt
lange und legt den Löffel neben die Tasse auf die Untertasse,
nachdem er kurz an den Rand der Tasse geschlagen hat. Wie kurz vor
einer Rede. Alles ist in Bewegung um ihn herum, Gesichter im Gespräch,
in Zeitungen, in Gläsern, an Zigaretten. Denen will er keine
Rede halten. Er klopft die Taschen seines Jacketts ab. Keine Zigaretten
dabei. Am Zeitungskiosk vergessen zu kaufen. Den dahinten will er
nicht fragen. Das ließe nur Mutmaßungen zu, er sei an
einem Gespräch interessiert. Seitdem sie es ihm gesagt haben, fährt er nicht
mehr mit dem Auto. Zu gefährlich zu dieser Jahreszeit. Bewegung
ist das O und A, hatten sie ihm gesagt und sich danach korrigiert.
Zu Fuß braucht er nur auf seine Schritte zu achten. Welche sind
zu unternehmen? Einer nach dem anderen. Weit kommt er nicht. Er bewegt
sich nicht mehr fort. Von der Wohnung ins Café zum Zeitungskiosk
zur Wohnung. Andere Orte sucht er nicht auf. Andere Orte sind überflüssig
geworden. Er wählt die gewohnten, die vertrauten, weil sie ihm
alles sind von den wenigen, die ihm noch bleiben. Seit neuestem hat er das Telefon abbestellt. Keine Anrufe
von ihm, keine Anrufe für ihn. Briefe werden seltener. Seitdem
er umgezogen ist, nicht weit, nur so, daß er Café und
Zeitungskiosk weiterhin zu Fuß erreichen kann, läßt
er den Wagen stehen, hat er sich aus dem Verkehr gezogen. Die Angst ist fort nach dem ersten Schluck Cognac. Es
geht ihm besser. Er knöpft das Hemd wieder zu. Gerade schaut
sie zu ihm herüber. Lächelt. Es ist doch sonderlich, spricht
er wie zu einem anderen, wie viele Bekanntschaften man macht, wenn
man keine sucht. Da wäre zum Beispiel der Mann vom Zeitungskiosk.
Der grüßt ihn, als kenne er ihn, als seien sie Bekannte.
Sie tauschen Vertraulichkeiten aus. Er tut es nur, weil seine Vertraulichkeiten
dem Zeitungsmann unvertraut bleiben werden, wie die des Zeitungsmannes
ihm. Wortwechsel im Vorübergehen, die in den Worten des nächsten
Kunden verwehen. Das Mädchen ist ihm die andere Bekannte, die
ihm recht ist, weil auch sie ihm unbekannt ist und er ihr. Das sind
neue Gewohnheiten. Früher hat er Bekanntschaften gepflegt. Inzwischen
pflegt er Unbekanntschaften, das Mädchen und den Mann vom Zeitungskiosk.
Sie bleiben, so lange er ist. Er wird zu Weihnachten in der Stadt bleiben. Er hat
sich noch etwas vorgenommen. Zu bleiben nämlich, trotz alledem.
Mit welchem Recht bestimmen sie die Zeit, die er für sich in
Anspruch zu nehmen den Anspruch hat. Der Kaffee wird kälter.
Er trinkt ihn bittersüß. Nachspülen mit Cognac. Nein,
nicht nachspülen. Auch das hat er früher getan. Jetzt nippt
er, genußsüchtig und sinnlich zugleich. Das wärmt.
Ihm ist warm. Ihm wird heiß. Er bekommt es mit der Angst zu
tun, weil ihm heiß ist. Ihm ist heiß, weil er es mit der
Angst zu tun bekommt. Das Mädchen, das grüngrauschwarze,
schaut in seine Richtung, schaut zu ihm, schaut ihn an. Er fürchtet
sie nicht. Er fürchtet die Angst. Erheben will er sich, als wolle
er Antwort stehen und danach gehen, die Zeitung liegen lassen auf
dem Stuhl. Er will sich den Knopf aufknöpfen, den ersten von
seinem Hemd, und das Taschentuch aus der Hosentasche ziehen, das mit
dem Knoten. Was war es noch. Er erhebt sich langsam, die Hand am Hemdknopf,
die andere an der Hosentasche, als er fällt. Langsam sinkt er
zu Boden, glaubt er. Mir ist schwach zumute, und ich bin schwer, denkt
er. Er erträgt die Schwere nicht, die von ihm abfällt als
Schwäche, als er die Augen schließt und liegt. Seine Gedanken
fliehen ihn, zu der Zeitung auf dem Stuhl. Er liegt auf dem Boden,
am Boden zerstört. Er öffnet die Augen. Das unbekannte,
bekannte Mädchen steht über ihm, ein Glas Wasser in der
Hand, ohne Antwort im Ohr, etwas sagend, das er nicht hört, weil
er abwinkt und sie zu schnell spricht. Jetzt schauen sie alle, die
Bewegungen, die Gesichter, aus Gesprächen auf, von Gläsern
weg und Zigaretten und Zeitungen, dessen ist er sich sicher. Auffällig ist er gefallen mit aller in seiner Macht
stehenden Unauffälligkeit. Nichts hat sie ihm genutzt. Er wird
zu einer Geschichte, die sich die Gesichter erzählen werden,
gleich, morgen schon, bevor er Geschichte geworden ist. Kraftlos sinkt
seine Hand nieder, die eben noch abwinkte. Um ihn die Bewegungen irritieren,
sie sind neugierig und aufdringlich. Er sieht das schwarzgraugrüne
Mädchen hinter seinen geschlossenen Lidern, das sich zu ihm hinunter
beugt und fragt, irgendetwas, das ihm bekannt vorkommt und seine Zeit
aus ihm stiehlt. Seine Gedanken liegen auf dem Stuhl bei der Zeitung,
seiner Zeitung, die er nun nicht unter dem Arm hält, nicht im
Arm hat, wie auch nicht das Mädchen. Und in dem leeren Glas Cognac
und der leeren Tasse Kaffee, die sich bald mit Schnee füllen,
bald mit Glockengeläut. |