Glossen 25

Pulvis et umbra sumus (Horac) – Zu Hans Joachim Schädlichs Erzählband Vorbei (Rowohlt Verlag, 2007)

Hans Joachim Schädlich entstammt dem Jahrgang 1935.  Er kommt, wie der jüngere Freund, Jürgen Fuchs, aus dem Vogtland, hat in Ostberlin und Leipzig deutsche Literatur und Linguistik studiert und ist 1977 nach Westberlin übergesiedelt. Sein erster Erzählband, Versuchte Nähe, wie fast alle seine literarischen Werke bei Rowohlt erschienen, wurde in der Bundesrepublik zum sofortigen Bestseller.  Auch seine weiteren Werke wie die Romane Tallhover und sein Meisterwerk (Ruth Klüger) Schott sowie seine Kurzprosa, wurden wegen ihrer präzisen, stilbewußten Sprache und der Gewichtigkeit ihrer Themen von der Kritik überwiegend wohlwollend bis enthusiastisch aufgenommen.  Sein bisher letzter Erzählband, Vorbei (2007) ist, wie Wolfgang Liersch in einer Rezension bemerkt, auf seiner metaphorischen Ebene eine Art “Lebenssumme”.  Es geht in allen drei Geschichten des Bandes, “Tusitala”, “Torniamo a Roma” und “Concert spirituel”, um Entsagung und Vergeblichkeit. 

Tusitala ist samoisch und bedeutet der Erzähler.  In Schädlichs Erzählung "Tusitala" handelt es sich um Robert Louis Stevenson, dem Autor der Schatzinsel und des Essays “Pulvis et umbra”, der sich 1890 auf Samoa niederließ und dort mit 44 Jahren starb. Um Stevenson noch einmal zu sehen, so die Handlung, chartert eine illustre Gesellschaft gegen Ende des 19, Jahrhunderts das gleiche Schiff, die Arend, mit dem schon Admiral Roggeveen 1722 die Osterinseln entdeckte, zu einer Art “Wieder-Entdeckungsreise”(12) Zu diesem Zweck wird nicht nur das Schiff wieder hergerichtet, sondern auch ein Teil der Besatzung wieder erweckt, der schon mit dem Admiral gesegelt war, unter ihnen Kapitän Koster und der Rostocker Behrens.  Ein mitfahrender Richter, ein Kunstrichter und ein Journalist entstammen dem Ende des 19. Jahrhunderts, unter ihnen auch Frau Cunningham; Freunde nennen sie Cummy – sie erinnert stark an Frau Semper aus dem Roman Schott.  Doch ob sie im 18. oder 19 Jahrhundert zu Hause sind, scheint nicht von Bedeutung zu sein.  Nur ihr unterschiedliches, der jeweiligen Zeit angemessener Erfahrungshorizont, z. B. ihr technisches Wissen, unterscheidet sie von einander.

Von Seeräubern überfallen und Stürmen trotzend erreichen die Reisenden nach langer Fahrt schließlich Samoa, nur um zu erfahren, dass Stevenson vor kurzer Zeit gestorben ist. Die Seereise war vergebens. Einer der Mitreisenden, Stevensons Arzt Clark, der beim Auslaufen des über die Masten beflaggten Schiffes die Sarabande aus der 7. Suite von Händel auf seinem Cello gespielt hat (25), wird es von Anfang an gewusst haben: Die Hoffnung der Wieder-Entdecker und ihre Sehnsucht nach einem fernen Ziel mischt sich auf diesem Narrenschiff von Anfang an mit einem Totentanz. Der Ausgang ist gewiss. "Was itzt so pocht und trotzt ist Morgen Asch und Bein", heißt es in einem Sonett von Gryphius.

Bei der zweiten Geschichte, "Torniamo a Roma", handelt es sich vordergründig um einen Mordfall.  Nach vielen Jahren als Historiker, Archäologe und Kunstwissenschaftler in Italien entschließt sich Johann Joachim Winckelmann im Jahre 1868 noch einmal, Deutschland zu besuchen, kehrt aber nach kurzen Aufenthalten in Wien und München zurück in die ewige Stadt. Auf halbem Weg nach Rom trifft er in einer Triester Herberge einen jungen Mann, dem er seine Freundschaft anträgt und ein paar seiner mitgeführten Kostbarkeiten, Medallien, die ihm die österreichische Kaiserin, Maria Theresia, geschenkt hatte, zeigt, wegen derer dieser junge Mann ihn dann erdrosselt und ersticht.  Winckelmann, dessen Traum vom Wesen der antiken Kunst, dieser „stillen Einfalt und edlen Größe“, die zum Leitspruch der Weimarer Klassik wurde und wohl auch seinem eigenen Traum entsprach, geht durch diesen Mord an der banalen Habgierigkeit der Zeit, jeder Zeit, zu Grunde. Güte, Hoffnung und Liebessehnsucht bleiben ein unerreichbares Ziel.

Auch die spirituelle Kunst Rosettis, der Mittelpunktsfigur in der dritten Erzählung, “Concert spirituel”, hinter dessen Künstlernamen sich der 1750 in Böhmen geborene Anton Rössler verbirgt, scheitert. Nicht an einem Mord, sondern an den elenden materiellen Verhältnissen seines Lebens. Während man ihn im Ausland ob seiner Kompositionen feiert, wird er von seinem Landesfürsten gering geschätzt und kläglich bezahlt, zu schlecht, um mit seiner kranken Frau und den Kindern ein angemessenes Leben zu führen. Auch ein Anstellungswechsel hilft nicht mehr viel. Er stirbt sehr jung mit 42 Jahren.

Schädlichs Kunst ist die der äußersten Verknappung auf der Oberfläche der Sätze und Wörter. Doch was für eine reiche Welt darunter liegt! Dem, der genau liest, und genau hinhört, wird sie sichtbar, oder, im Falle der ersten Erzählung, auch hörbar. Man muss nur Händels Sarabande im Ohr haben, um zu wissen, wohin die Schiffs- und Lebensreise geht. Dass das wieder aufgetakelte Schiff wegen seiner Nobilität des Zwecks Seeräuber anzieht, ist ebenso klar, wie es die Logik des Mordes an Winckelmann ist. Er hätte mir die Medallien nicht zeigen dürfen; er hätte gar nicht anders gekonnt, als diesen feinen Mann zu ermorden, entschuldigt sich der Täter.  Und Rosetti?  Das alte und das neue Lied vom unüberbrückbaren Graben zwischen Geist und Macht, von der Sterblichkeit und vom armen Künstler, der das alles sieht: Von einigen Großkünstlern abgesehen, gehören die Villen am Starnberger See und in der Toscana dem Macht- und Geldadel. Nicht dass der Erzähler der drei Geschichten deswegen in Melancholie verfällt. Ein tüchtiger Schuss Ironie und Selbstironie findet sich in Schädlichs Prosa allemal.  Und da ist auch noch die reine Welt der klassischen Musik und die Integrität der Sprache und die Lust an der Entdeckung historischer Zusammenhänge, wie zum Beispiel in der Arbeit an den vorliegenden drei Erzâhlungen. Pulvis et umbra sumus?