Glossen 26
Zwischen Heimatt und Fremdw:ort Über poetische Identitäts-Mobilität in der deutsch-spanischen Lyrik José F. A. Olivers Marc James Mueller "An meiner Wiege zwei Welten, in mir zwei Welten" (Heimatt, S. 8) schreibt José F.A. Oliver in der programmatischen Einführung zu seinem zweiten Gedichtband Heimatt und andere fossile Träume. Der Dichter wird 1961 als Sohn spanischer Einwanderer in Hausach im Schwarzwald geboren. Er sieht sich aber nicht als ein „Poet in zwei Sprachen - poeta en dos lenguas", denn Deutsch und Spanisch waren und sind nicht die einzigen Sprachen, die ihn von ersten Kindertagen an prägten. Auch der Alemannisch-Badensische Dialekt des Schwarzwaldes in Olivers Umgebung und das Andalusisch seiner Eltern, die ein Jahr vor seiner Geburt nach Deutschland kamen, sind Teil seiner sprachlichen Welterfahrung. So versteht er sich mehr als ein Poet in vier Sprachen. Doch das poetische Potenzial, das in dieser „exotischen und erotischen Beziehung" der unterschiedlichen sprachlichen Einflüsse liegt, wird für den Autor zunächst durch den Umstand eines „giftgrünen Passes" mit dem Eintrag „ciudadano español" zunichte gemacht. Er ist kein deutscher Staatsbürger -- obwohl in Deutschland geboren und aufgewachsen -- und diese Beschränkung ernüchtert auch seine Haltung gegenüber den Sprachen: „Doch keine Poesie! Nur nüchterne Prosa. Unterm Strich blieben mir folglich zwei Sprachen oder aber zweimal zwei Sprachfetzen und ein Poet, der sich aufgemacht hatte, seine Sprache zu suchen, um nicht zu verstummen, [...]" (Heimatt und andere fossile Träume, S. 9). Letzten Endes ist er also ein „Poet vor vielen Sprachfetzen", der versucht, zu einer Sprache zu finden, zu seiner Sprache. Oliver verortet seine Lyrik in dieser sowohl persönlichen als auch programmatischen Stellungnahme von Anfang an in den Kontext eines Schreibens ‚für' und ‚um' eine individuelle Identität. So zum Beispiel in seinem Gedicht "kompaß & dämmerung": Da ist der osten weit hinter meiner stirn. Da Am Beginn des Poems stehen Himmelsrichtungen mit jeweils ihnen zugeordneten assoziativen Attributen in Bezug auf das Lyrische Ich. Der Osten wird mit Rationalität in Beziehung gesetzt („weit hinter meiner stirn"), der Westen mit Heimat, wobei dieser noch zwei Eigenschaften an die Seite gestellt werden: Zunächst die Funktion eines Pfandes („Pfandaug"), sowie das Attribut „matt". Ost und West können hier als Verweise auf Deutschland und Spanien gelesen werden: Deutschland, das ‚rationalere' Land, das tief im Denken des Lyrischen Ichs verankert ist, und Spanien als nicht gegenwärtige, aber ‚mitgegebene' Heimat. Das Erinnern dieser Heimat ist aber bereits im Ermatten begriffen („heimatt") bzw. hat das Sehnen nach ihr selbst ermattet. Wort und Ort werden hier gemeinsam benannt -- ein Wort soll Äußerung und Ort/ Referenzraum zugleich sein -- und sind doch deutlich voneinander abgesetzt. Und so erscheint der Ort durch das Wort „verlegt". Auch die sich noch im Wort befindende „tau brotwärme" verstehe ich, ebenso wie seine „stille", vor dem Hintergrund der ehemaligen Präsenz des Ortes bzw. seiner Versprachlichung. Aber was ist der Zusammenhang von Sprache und Raum? Warum ist das/der w:ort für den interkulturellen Dichter verlegt? Zunächst möchte ich mein Augenmerk auf den Bedeutungswechsel von Ort und Raum in der Nachmoderne richten. Der hauptsächliche räumliche Bezugspunkt in den Humanwissenschaften war in der vormodernen Zeit der Nationalstaat. Ort und Orte wurden immer zuerst auf ihre nationale Lage und nationale Identität hin beschrieben und gedacht -- ebenso wie Gesellschaften und gesellschaftliche Verhältnisse. Doch mit Beginn der Moderne, und beschleunigt mit der Nachmoderne, geht die Entwicklung weg vom monolithischen und ‚monolithisierten' Nationalstaat hin zu einer weltgesellschaftlichen Vorstellung, in der räumliche Bezüge nicht mehr als die dominierende Instanz für bestimmte Ereignisse angesehen werden (vgl. Schroer, S. 161). Räumliche Differenzierungen spielen immer weniger eine wichtige Rolle, da sie auf den „Verkehr von Waren, Daten und Menschen" (Schroer, S. 161) schwindenden Einfluss haben. Massenkommunikationsmittel [1] lassen eine direkte Raum-Erfahrung in den Hintergrund treten, Entfernungen zwischen Orten und Ereignissen nehmen immer weiter ab und sind oft nur noch einen ‚Klick' weit voneinander entfernt. Ebenso haben moderne Transportmittel zu einer immer schnelleren und problemloseren Überwindung des Raumes geführt -- das beginnt schon mit der Erfindung der Eisenbahn: „Durch die Eisenbahn wird der Raum getötet, und es bleibt nur noch die Zeit übrig", konstatierte bereits Heinrich Heine. Auch die ökonomische Welt der Moderne ist zu einer Welt jenseits des Raums geworden: Vor allem der internationalisierte und grenzenlose Geldkreislauf schafft die Möglichkeit, raumübergreifende Sozialbeziehungen aufzubauen, die Raum weiter ‚ausblenden' (Luhmann, S. 30, FN 24). Das Ergebnis ist die Überwindung der Ordnungskonstante Raum und das Ende der Vorstellung von Raum als Container, der Akteure und Situationen aufnimmt und strukturiert. Raum ist nicht mehr Territorium. Aber wo spielen sich dann gesellschaftliche und soziale Prozesse ab? Aus soziologischer Sicht [2] hat in der Moderne sogar eher eine Raumvermehrung, denn ein Raumverlust stattgefunden (vgl. Schroer, S.164). Verschiedene Orte stehen jetzt in engerem Kontakt, und auch jedes Medium schafft schließlich neue (Medien)-Räume. Das Wesentliche dieser Entwicklung ist also nicht der Verlust des Raums an sich, sondern die Trennung von Raum und konkretem Ort [3]. Diese ‚Neuen Räume' werden aber nicht zum dominierenden Ordnungsmuster in der Moderne, da davon ausgegangen wird, die Zeit habe die Dominanz über den Raum gewonnen [4] (vgl. Schroer, S. 170). Räumliche Unterschiede würden immer häufiger auf die zeitliche Dimension bezogen und umgedeutet, so z.B. als entwicklungsgeschichtliche Zusammenhänge (vgl. Stichweh, S. 346). Die fortschreitende ‚Entortung' und neue ‚Verräumlichung' der Welt führt in der nachmodernen Diskussion aber zu der Ansicht, dass Raum zu einem permanenten Nebeneinander geworden ist, das sich als großes ‚Netz' organisiert. Laut Foucault leben wir in einer Epoche des Raums, dessen hervorragendste Eigenschaft Simultanität ist (vgl. Foucault, S. 34). Die neue Struktur führt auch zur teilweisen Einbuße der Orientierungsfunktion der Zeit: Die narrativen Zusammenhänge aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft können immer weniger Sinn (über)-tragen und herstellen (Han, S.54) und transformieren zu verschiedenen, sich widersprechenden Zeittendenzen -- sie werden zu Punkt- oder Ereigniszeit und so ebenfalls in ein Nebeneinander verlagert (vgl. Han, S. 54). Grenzverlust -- Grenze als Raum Migranten finden sich ebenfalls in einem Dazwischen wieder. Sie haben ihre alte Heimat verlassen und betrachten ihren Migrationsort (noch) nicht als ihre neue Heimat bzw. werden durch die fehlende Akzeptanz in der Mehrheitsgesellschaft ausgegrenzt. Nach jahrelangem Migrationsaufenthalt schwächt sich zusätzlich die Bindung zum Heimatland bzw. die Akzeptanz der Mehrheitsgesellschaft dort gegenüber den Migranten ab.[5] Selbst die Angehörigen der zweiten und dritten Migranten-Generationen befinden sich in einem Zwischenraum als identifikatorischem Bezugsraum, der sich aus verschiedenen, gegensätzlichen oder eigentlich unvereinbaren [6] Mosaikteilen zusammensetzt. José F.A. Oliver thematisiert das Fehlen einer akzeptierten Heimat in seinem Gedicht "kompaß & dämmerung" in seinem Wortspiel heimatt, das die Begriffe Heimat und matt eins werden lässt. Das Lyrische Ich scheint kraftlos geworden durch die Suche nach einem Ort, der nur eine Vorstellung von Heimat ist, ohne wirklich erreichbar, lebbar zu sein. Heimat ist hier nicht ein stabilisierender Faktor, sondern wird ganz grundsätzlich in Frage gestellt. Im Allgemeinen bringt die Fragmentiertheit und Pluralität der flüssigen Gesellschaft (BAUMAN, S.7) neben einer neuen Unübersichtlichkeit und mangelnden Orientierung aber auch eine Erweiterung der Wahl-, Spiel- und Veränderungsmöglichkeiten des Individuums mit sich -- in der Regel jedoch nur für die Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft. Der entgrenzende, befreiende "Third Space" für Migranten und Migrantinnen ist eben keine gesellschaftlich akzeptierte Sphäre, sondern ein innerer Raum, der sich selbst bzw. der eigenen Gruppe gegenüber konstruiert und aufrechterhalten wird, werden muss. Der gesellschaftliche bzw. der von der Gesellschaft zugewiesene Raum bleibt für sie begrenzt. Obwohl die zweite und dritte Generationen in einer nachmodernen, pluralistischen Gesellschaft groß geworden sind, ist für sie das Spiel mit den Möglichkeiten einer entgrenzten Welt nur schwer durchführbar. Es ist für sie oft sehr schwer zu sagen „Ich bin türkisch UND deutsch." oder „Ich bin Deutscher UND Spanier." und dafür auch Gehör und Akzeptanz in der Mehrheitsgesellschaft zu finden. [7] Für sie ist der Dritte Raum nicht in erster Linie eine Möglichkeit, Gegensätze zu verbinden und zu verhandeln, sondern zunächst einmal der Ort ihrer Aus- bzw. Eingrenzung durch die Mehrheitsgesellschaft. Der Dichter Oliver macht, wie gezeigt, nicht nur die verlegten ‚Orte' sondern auch die absenten ‚Worte' zu einem Thema seiner Lyrik. Worte sind in ihrer praktischen Bedeutung zunächst einmal Mittel der Kommunikation, der Verständigung. In einem weiteren Gedicht Olivers mit dem Titel wieder hören heißt es: du am einen ende von sprache zwischen wort und w:örtlich ich am ende Hier sind Ich und Sprache miteinander verbunden, jedoch nicht absolut sondern relativ in Kommunikation mit einem Anderen. Das Ich wird konstruiert in und durch die Worte und die Sprache seines Gegenübers. In einem nächsten Schritt möchte auf den Zusammenhang von Dialog und Identität schauen. Sozialraum als Bezugsraum der Identität Nach dem deutschen Soziologen Lothar Krappmann wird Identität vom Einzelnen in der Interaktion mit anderen, also im Dialog gebildet (vgl. Thore, S. 61ff). Dabei verständigen sich die Dialogpartner über verschiedene Rollen. Die jeweilige Formung und Stabilisierung der individuellen Identität der Akteure erfolgt über das Ergreifen einer Rollendistanz zur ausgehandelten Rolle in der jeweiligen Kommunikationssituation. Rollendistanz bedeutet hier eine Interpretation der Rolle, die von der Erwartung des Dialogpartners bzw. der Rollennorm graduell abweicht. Findet aufgrund der sozialen partiellen Ausgrenzung minorisierter Gruppen überhaupt ein gleichberechtigter Dialog statt? Ein weiterer Punkt, der die Bedeutung der sozialen Interaktion bei der Identitätserwerbung und -aufrechterhaltung schwächt, ist der Rückzug des gemeinsam empfundenen und geteilten Sozialraums in der nachmodernen Gesellschaft (vgl. Heitmeyer, S. 48). Die gesteigerte Fragmentierung und Pluralisierung führt auch zur sukzessiven Auflösung sozialräumlicher Zusammenhänge, gerade auch unter großstädtischen Lebensbedingungen, sodass tendenziell ein Verlust an Sicherheit und Orientierung innerhalb sozialer Gruppen zu verzeichnen ist. Dies führt schließlich zur Einbuße der sozialen Kohäsion und zu anomischen Spannungen innerhalb der Gesellschaft (vgl. Heitmeyer, S. 262). Soziale Normen und Werte werden erst über soziale Einbindung und Interaktion bekräftigt und verbindlich (vgl. Durkheim, S. 442); die nachlassende soziale Kohäsion erschwert in sich wandelnden modernen Gesellschaften auch den Aushandlungsprozess über (neue) geteilte soziale Normen. Die Annahme einer hauptsächlichen Konstruktion der Identität über soziale Rollen bzw. graduelle Rollendistanzen erscheint mir in Bezug auf die nachmoderne Gesellschaft und besonders auf minorisierte Gruppen als zu starr und interpretatorisch einengend. Noch einmal auf Olivers Gedicht "wieder hören" schauend, fällt auf, dass der Dialog zwischen Ich und Anderem keine mitte und kein(en) beginn besitzt. Aus meiner Sicht ist diese Zeile ein Verweis auf einen exemplarischen Dialog, der noch nicht angefangen hat. Ich und Anderer kommunizieren (noch) nicht, zumindest nicht über das gleiche und geteilte Thema. Aber beide werden jeweils in und über die Sprache des Gegenübers konstruiert, beide konstruieren ihren Anderen, der noch nicht als gleichgestellter Dialog-Partner erscheint. Den Titel "wieder hören" lese ich als eine Aufforderung: ‚Noch einmal hören', genauer, näher und mit einem wirklich gemeinsamen Dialog beginnen -- also, im übertragenen Sinne, versuchen die gleiche Sprache zu sprechen. Zwei Sprachen, eine Identität und mond und mondin und mond wie münzgeld in der hosentasche Beide Sprachen[9], beide Kulturen sind dem Lyrischen Ich hier selbstverständlich, sind ihm nah und natürlich, so alltäglich wie Kleingeld. Diese Nähe scheint sehr einfach herstellbar zu sein, sie ist wie ein permanenter Begleiter - so wie Mond, oder eben Mondin. Und beide Welten klingen mit und in jedem Schritt, den das Lyrisch Ich macht, ohne eine Möglichkeit zwischen den unterschiedlichen Quellen des Klangs zu unterscheiden. Sprache als Werkzeug und Medium: die narrative Identitätskonstruktion Identität konstituiert sich nicht im Kopf, sondern am Körper, im Tun und in den Dingen, denen wir etwas „an"-tun und mit denen wir uns umgeben (Kraus, S. 161) Und auch Sprache ist Teil dieser von uns symbolisch geformten Dingwelt. Wir erzählen von uns, und wir erzählen uns. Im Zentrum der Konzeption der narrativen Identität steht die Annahme, dass es kein „Nachdenken und Empfinden über uns selbst außerhalb von Sprache gibt" (Kraus, S. 161). Sprache transportiert dabei nicht das Innere nach außen, sondern konstruiert es erst. Zu Beginn der theoretischen Überlegungen durch Ricœur (1991). geht man davon aus, dass die Prozessziele der Selbsterzählung Kontinuität und Kohärenz seien. Erzählend organisiere, ordne, gestalte man seine Erlebnisse und Erfahrungen und stelle so eine „Einheit des Lebens" her (vgl. ebd.). Auch die narrative Psychologie hat einen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung dieser Identitätstheorie. Aus ihrer Sicht stehen Narrationen immer in Beziehung zu sozialem Handeln, sie machen Erlebnisse der Vergangenheit „sozial sichtbar" und ermöglichen es, die Erwartungen kommender Ereignisse zu motivieren (vgl. Kraus, S. 162). Doch in der nachmodernen Zeit sind Vergangenes und Zukünftiges nicht immer kohärent und kontinuierlich zu verbinden. Das Individuum besteht auf der Möglichkeit einer großen Zahl von Selbsterzählungen, sowie auf der Freiheit diese auch unverbunden zu lassen. Zeitliche Linearität hat auch im nachmodernen Selbstdiskurs ihre Ordnungsfunktion eingebüßt, so dass Elemente des Unabschließbaren, Disparaten, Inkommensurablen erzählt werden können. Auch aus sich selbst Sinn zu machen ist schwieriger geworden (vgl. Kraus, S. 173f). Aber auch hier kommen dem Gesprächspartner eine bedeutende Rolle zu: Er wird quasi zum Co-Autor der erzählten situativen Identität seines Gegenübers, wie es in Olivers Gedicht "wieder hören" über den Anderen auf der anderen Seite der Sprache zu lesen war. Nach Habermas müssen die Parameter einer jeden „Selbstidentifikation" intersubjektiv bestätigt werden. „Die Identität kann sich nur auf Merkmale stützen, die von der Umgebung als solche anerkannt werden" (Janich, S. 29). Hier sollte die narrative Identitätskonstruktion vor dem Hintergrund der zuvor aufgeführten Identitätsbildung von Minoritäten bzw. ihres teilweisen Ausschlusses von einer gleichberechtigten Kommunikation mit der Mehrheit auf ähnliche Weise kritisch hinterfragt werden wie die Rollentheorie. Ich bin der Ansicht, dass es auch Identitätsformierung jenseits eines direkten Dialogs und gegenseitigen Bestätigens von Rollen oder Selbst-Konzepten geben muss. Zweifellos ist das Schreiben schon immer eine andere, erweiterte Form des Selbst-Erzählens gewesen, jeder Autor, jede Autorin wird sich stets zu einem bestimmten Ausmaß auch ‚selbst erzählen' und damit auch über die Sprache konstruieren. Aber wie weit geht diese Selbst-Konstruktion und welche Rolle nimmt sie ein im Zusammenhang -- oder im Kontrast -- zum Charakter der Kommunikation zwischen minorisiertem Autor bzw. dem Lyrischen Ich als minorisierter ‚persona' und der dominanten Gesellschaft? Natürlicherweise hat der poetische Text, hat das Lyrische Ich eine sehr enge Beziehung zu seinem Autor. Oliver drückt sein Verhältnis zum Schreiben folgendermaßen aus: (...) Ich schreibe, weil ich immer Ich-Mündung war, Sprach-Fluss bin und laufwärts Klang sein werde, vom Ich überflutet, zwischen all den anderen Ichs, für jedes klare Gefühl, das mich erfindet. (...) Oliver stellt hier ein geradezu ‚natürliches' Verhältnis zum Schreiben vor, in dessen Zentrum die Gleichsetzung des Autors mit „Fluss" und Sprache steht. Ist die Sprache ein Fluss, so versteht er seine Ich-Identität als eine (Fluss-)„Mündung", die die Sprache in die Welt (das Meer) entlässt. Auch der Klang -- die ‚natürliche', weil physikalische Eigenschaft der Sprache -- wird von ihm als integraler Bestandteil seiner selbst angesehen. Die Fluss-Metapher wird auch an dieser Stelle fortgesetzt; der Klang ist „laufwärts", verläuft also mit der ‚Fließrichtung' der Sprache. Dies impliziert sowohl die Unmöglichkeit ‚gegen' die Sprache zu sprechen bzw. zu sein, und unterstreicht erneut die Position des Autors, der die Sprache/ den Klang erzeugt bzw. von beiden ‚erzeugt' wird. Auch im nächsten Schritt behält Oliver die Wassermetapher bei und setzt noch einmal das Ich mit Fluss/ Sprache gleich. Dabei sieht sich der Dichter selbst in einer passiven Rolle: Er ist „vom Ich überflutet", kann also seine Identität nur „entlang" des Sprachflusses denken und erleben, der aber von ihm nicht einzuschränken ist, sondern ‚ausufert', ihn ‚überwältigt'. Teil dieser Selbstständigkeit des Ichs/ der Sprache ist das Vorhandensein von „anderen Ichs". Dies kann als ein Verweis auf andere Personen, die soziale Umgebung des Autors gelesen werden. Vor dem Hintergrund des Versuchs Olivers eine Sprache, seine Sprache zu finden, verstehe ich „andere Ichs" aber als einen Hinweis auf jene „Sprachfetzen", die aus Olivers unterschiedlichen Spracherfahrungen entstanden sind. Parallelisiert man, wie der Autor in diesem Text, Sprache und Identität, ist es dann die für Oliver zerstückelte Sprache, die zu verschiedenen ‚Ich-Anteilen' führt. Dieser Ich-Pluralität setzt er den Entwurf des Selbst durch „jede(s) klare Gefühl", das den Autor im Schreiben „erfindet", entgegen. Dies verweist sowohl auf das emotionalisierte Sprachkonzept der Lyrik, als es auch erneut eine Rückbindung der Identitätsformation an den Sprach- bzw. Schreibprozess bedeutet. Der Autor erscheint in diesen Zeilen sowohl aktiv -- als ‚Transporteur' von Sprache -- als auch passiv, in dem Sinne, dass ein Sein mit und durch Sprache alternativlos ist. Schreiben ist für ihn selbst-verständlich und es erlaubt dem Autor immer neue Formen der Selbst-Erkenntnis, Selbst-Ausdrucks und Selbst-Positionierung. In meinen Augen ist die poetische Selbst-Mobilität für den deutsch-spanischen Dichter Oliver von entscheidender Wichtigkeit. Immobilität minorisierter Gruppen Poetisches Verhandeln von Sprache und Welt zu einem neuen Identitätsraum Das Spiel Olivers in und mit der Sprache kann allerdings völlig unterschiedliche Formen annehmen bzw. Aussagen vermitteln, die nicht immer nur dazu dienen, hier einen Identifikationsraum zu erobern. Seine Sprachverwendung reagiert oft auch auf die grundsätzliche sprachinhärente Problematik, Identität in Sprache gießen zu wollen, zu müssen und sich der abstrahierenden Sprache mit einem meist konkreten bzw. emotionalen Selbstbild anzuvertrauen. Nicht nur im Missverstehen durch andere wird dieses Vertrauen oft enttäuscht. Die Sprache selbst scheint das Risiko zu sein. Dies äußert sich in vielen Werken minorisierter Autoren mit einer deutlichen Sprachskepsis. So auch bei José F. A. Oliver, wenn er über das ‚fremde Wort', das die gefühlte und gewollte Nähe nicht mehr aufnehmen kann, schreibt: fremdw:ort das so leicht nicht sag- aus den angeln Die Unverwechselbarkeit des eigenen Ichs, des Lyrischen Ichs steht im Mittelpunkt der Werke dieses deutsch-spanischen Autors. Seine Identität, die sich aus zwei plus zwei Kulturen speist, kann sich aber in der sprachlichen Welt aus ‚Fetzen', die sie vorfindet -- in der Kommunikation, in der sie mit-konstruiert wird -- nicht immer anerkannt und bestätigt fühlen. Der Autor dekonstruiert Sprache zu Worträumen, die symbolisch die Körperlichkeit eines In-der-Welt-Seins aufnehmen. Dabei werden auch Teile einer exemplarischen sprachlichen Identitätskonstruktion sichtbar, die immer wieder versucht, sich der Sprache anzuvertrauen, jedoch auch an die Grenzen, die Bruchstellen eines sprachlichen und versprachlichten Selbst stößt. Letztlich aber transformiert der poetische Text, die Sprache Olivers als sein Medium, zu einem ganz eigenen Third Space, in dem der Autor seine von außen, von der Mehrheit als widersprüchlich bewerteten Kultureinflüsse gegenüberstellt, kontrastiert und wie selbst-verständlich verhandelt. Und es ist jene Selbst-Verständlichkeit, die den Leser der dominanten Gesellschaft erstaunt und gleichzeitig dem Autor, dem Lyrischen Ich eine unverwechselbare poetische Identitäts-Mobilität ermöglicht. Worte und Orte treten in eine produktive Wechselbeziehung und verweisen gegenseitig auf einander, so wie im Gedicht Olivers über einen brasilianischen Freund in Deutschland: notat für einen brasilianer in münchen (...) Immer wenn er den süden legt Literaturnachweise Primärliteratur Sekundärliteratur Ackermann, Irmgard (Hg.). Fremde Augenblicke. Mehrkulturelle Literatur in Deutschland (Bonn: Inter Nationes, 1996) Anders, Günther. Die Antiquiertheit des Menschen: Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution. Band II (München: C.H. Beck, 1980) Bauman, Zygmunt. Liquid Love. On the Frailty of Human Bonds (Cambridge,UK: Polity Press, 2003) Bhabha, Homi K. The location of culture (New York: Routledge, 1994) Durkheim, Émile. Der Selbstmord (Darmstadt: Luchterhand , 1973) Foucault, Michel. Andere Räume. Barck, Karlheinz u.a. (Hg): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik (Leipzig: Reclam , 1990) Han, Byung-Chul. Hyperkulturalität. Kultur und Globalisierung (Berlin: Merve Verlag, 2005) Heitmeyer, Wilhelm (Hg.). Was treibt die Gesellschaft auseinander? Bundesrepublik Deutschland: Auf dem Weg von der Konsens- zur Konfliktgesellschaft. Bd1 (Frankfurt/ M.: Suhrkamp, 1997) Hinnenkamp, Volker. "Semilingualism, Double Monolingualism and Blurred Genres - On (Not) Speaking a Legitimate Language." (http://www.sowi-online.de/journal/2005-1/semilingualism_hinnenkamp.htm) 12.12.2006 Janich, Nina; Thim-Mabrey, Christiane (Hg.). Sprachidentität - Identität durch Sprache (Tübingen: Gunter Narr Verlag, 2003) Kalb, Christof. "Selbstbildung im Leiden. Zur Rekonstruktion beschädigter Identität in Ritual und Kunst." Benthien, Claudia; Krüger-Fürhoff, Irmela Marei (Hg.). Über Grenzen: Limitation und Transgression in Literatur und Ästhetik (Stuttgart: Metzler, 1999) Kaufmann, Jean-Claude. Die Erfindung des Ich. Eine Theorie der Identität (Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft mbH, 2005) Kraus, Wolfgang. "Falsche Freunde. Radikale Pluralisierung und der Ansatz einer narrativen Identität." Straub, Jürgen; Renn, Joachim (Hg.). Transitorische Identität. Der Prozesscharakter des modernen Selbst (Frankfurt am Main: Campus Verlag, 2002) Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2 Teilbände. (Frankfurt/ M.: Suhrkamp, 1998) Ricoeur, Paul. "L'identité narrative." Revues des Sciences Humaines 221 (1991), S. 35-47. Schroer, Markus. Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums (Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 2006) Stichweh, Rudolf. "Raum, Region und Stadt in der Systemtheorie." Soziale Systeme 4, 1998, H.2, S. 341 -358. Thore, Petra. "'wer bist du hier in dieser stadt, in diesem land, in dieser neuen welt'. Die Identitätsbalance in der Fremde in ausgewählten Werken der deutschsprachigen Migrantenliteratur." (http://publications.uu.se/abstract.xsql?dbid=4232) 26.05.2007
Endnoten 1 Dies gilt nicht nur für die Neuen Medien. Bereits Martin Heidegger erkannte den Verlust von realen räumlichen Bezugsorten durch Radio, Fernsehen und Film: „Und die in der Heimat Gebliebenen? Vielfach sind sie noch heimatloser als die Heimatvertriebenen. Stündlich sind sie an den Hör- und Fernsehfunk gebannt. Wöchentlich holt sie der Film weg in ungewohnte, oft nur gewöhnliche Vorstellungsbezirke, die eine Welt vortäuschen, die keine Welt ist."(zit. n. Han, S. 76). 2 Dies bezieht sich auf die Soziologie nach Georg Simmel und Emile Durkheim, die beide noch von der zunehmenden Irrelevanz und dem Verschwinden des Raums als Maßstab ausgingen. (vgl. Schroer, S. 164) 3 Aber es gibt auch die umgekehrte Entwicklung. Orte, als regionale, lokale Bezugsgrößen werden immer mehr gegen die Globalisierung in Stellung gebracht: neuer Regionalismus und sogar Nationalismus als Reaktion auf die Globalisierung. 4 Im Gegensatz zur vormodernen Zeit, als Raum bzw. Ort die dominanten Größen waren. 5 Auch hier könnte man also von einer Auflösung des konkreten Ortes als Referenzraum zugunsten abstrakterer Identifikationsräume sprechen. 6 Aus Sicht der Mehrheitsgesellschaft. 7 Die großen gesellschaftlichen Diskussionen in den letzten Jahren z.B. über die doppelte Staatsangehörigkeit, die Kopftuch- und die Leitkultur-Debatten sind sichtbare Symptome des Entscheidungszwangs zu möglichst viel Eindeutigkeit unter dem Migranten und Migrantinnen stehen. 8 Doch nicht nur Migranten: Reine Einsprachigkeit ist heute eher die Ausnahme als die Regel. Fremdsprachenunterricht und Fremdsprachenkompetenzen sind in Deutschland und Europa mittlerweile Standard. Die damit verbundenen Auswirkungen auf die individuelle Identitätsbalance sind schon länger bekannt (vgl. Thore, S. 52). 9 Doch nicht nur reine Zweisprachigkeit und Bikulturalität können identitätsstiftend sein, auch das Gemischtsprechen, eine eigene Varietät aus beiden Sprachen, wird von vielen Migranten und Migrantinnen als positives Identitätsmerkmal angesehen und kultiviert (vgl. Hinnenkamp). 10 Der Grad der Annerkennungsbilanz minorisierter Gruppen differiert sicherlich zwischen erster, zweiter und dritter Einwanderer-Generation. 11 Natürlich tritt Oliver mit seinem Werk in Dialog mit einer Leserschaft, die meist zum größten Teil der Mehrheitsgesellschaft zuzurechnen ist. 12 Sprache dient z.B. auch als Medium und Werkzeug für die Rekonstruktion von beschädigten Identitäten, z.B. nach traumatischen Ereignissen. Im Selbstdiskurs wird das Trauma verarbeitet und in die bestehende Identität so positiv wie möglich integriert. Man erzählt sich selbst neu und vollzieht eine „Selbstbildung im Leiden."(vgl. Kalb, S. 161ff) Für mich stellt sich die Frage, ob die Mitglieder minorisierter Gruppen wenn nicht unter einer traumatisch beschädigten, so doch unter einer strukturell beschädigten Identität leiden könnten?
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