Glossen 26 Utz Rachowski RED' MIR NICHT VON MINNIGERODE Diese, verfolgte Freunde, sagen wir Minnigerode, für Eingeweihte,
Menschenrecht, sagen wir „Gesellschaft für Menschenrechte",
Pfarrer Weidig erschlagen in seiner Zelle. Diese gibt es. „Neues Forum", Widerstand gewaltlos, sagen wir Bürger-Recht,
Matthias Domaschk erhängt in seiner Zelle, Gefängnis Gera, Thüringen,
Amthordurchgang. Endstation Tod. Diese gibt es. Die Flucht aus Darmstadt, des anderen, gelang. Die Leiter ans Stubenfenster
gelehnt, nachts zum Garten hinaus, Endstation Zürich. Der Verfolgte,
Freund von Weidig und Minnigerode, bis zu seinem Tod im Exil. Die Zeitung dieses Tages schreibt: Aber was werden wir unseren Enkeln
eines Tages erklären, wenn sie nach Spuren der deutschen Diktaturen
fragen? - Wir können sie einkaufen schicken. Die Lastwagen mit Bauschutt fahren in Zentimeterabstand vorbei. Die
Fahrer lächeln spöttisch und sind gehorsam. Durch die Gruppe der Verfolgten
hindurch. Pfarrer Geipel hält beide Hände um einen Gitterstab,
von innen, wie ein Pilger, als würde er wandern in einer Mission.
Der Besetzer hält die Erinnerung fest, besetzt sie mit seinen Händen,
auf die einzige Weise, wie Erinnerung sich festhalten läßt,
als Erfahrung. Dahinter, ein anderer, hinter den Gitterstäben, ist Geo-Physiker,
früher auf Arktisexpeditionen, jetzt an diesem Punkt, mit seinem
Wissen um die Erde, sieht er Gefahr. Er berichtet den Verfolgten, draußen
in einiger Zahl, vom Bestehen, der Existenz nicht erklärter Erscheinungen,
von morphischen Feldern. Unsichtbares um Plätze, Gegenden, Orte,
die ihre Erinnerung behalten an ein Geschehnis. Schlachtfelder oder eine
Stelle, an der einst ein Mord geschah, die gemieden bleibt und verwunschen
für lange Zeit. Im Bewußtsein der Menschen manchmal Jahrhunderte,
hinweg über Generationen, bis Gedächtnis und Gedenken ausbleichen,
die Gefahr, die Spannung, die Strahlung verwehen. Diese, Verfolgte, Freunde, die auf Gedächtnis bestehen und erneut,
haben ihre Prüfungen einst schon bestanden, für Eingeweihte
sagen wir „Über Schädelnerven" in Zürich, sagen
wir Minnigerode, nennen wir Weidig, Pfarrer in Butzbach, Domaschk, Elektriker
aus Jena. Es gibt diese. Die bestanden haben, bestehen, erneut bricht die Verfolgung über
sie herein. Jetzt bestehen diese die neuen Verfolgungen. Die neuen Verfolgungen
aber kommen lautlos daher. Einer wird nur verwarnt. Unter vier Augen,
er schlägt seinen Blick zu Boden. Das andere Augenpaar gehört
seinem Vorgesetzten, der ihn rügt. Das können wir uns nicht
erlauben. Er ist im Recht, juristisch, nach Lage der Sache, der Besetzer,
mit den Augen am Boden, ist es nicht, sein Unrecht zeigt sein Blick.
Auch hat er Familie. Ein anderer, der solche Reden führte, sagen wir, für Eingeweihte, über
morphische Felder, hört leise die Klappe des Briefkastens schlagen,
mitten am Tag, nur dieses Geräusch, lautlos entfernt sich der Postbote.
Er bekommt die Arbeit nicht, die zugesagte, versprochen von höherer
Stelle, wegen seiner besonderen Qualifikation. Er hat die Klappe nicht
gehalten, er wird arbeitslos bleiben, jetzt an diesem stillen Mittag
bekommt er sein neues Urteil. Eine, eine Besetzerin, ist unbelehrbar, wie sich zeigt, nicht mehr zu strafen, sie lebt in Armut, sowieso, die Beihilfen sind festgeschrieben, für alle Fälle, für ihren Fall, bei Bedarf gibt es auf jeden Fall die festen Sätze. Sprachlos, reiht man sie aneinander, verstummen, zählt man zusammen, was bleibt, werden ein Haushaltsvorstand weiblich und vier Kinder. Ungehört, ohne Geräusch, lautlos beinahe, kommen die neuen Urteile daher. Von niemandem wahrgenommen, als von den Verfolgten selbst. Diese gibt es. Jene aber fehlen. Jene aber, gelangweilt von diesen, den alten Namen der Verfolgten und den neuen, bist du, der schon alles weiß, klug genug, wie du es sagst, her von früher. Red' mir nicht von Minnigerode und diesen anderen, deren Namen keiner kennt. Was mit Büchner war, hatten wir hier vor der Haustür. 15.5. - 25.9.2000 Aus: Utz Rachowski, Red mir nicht von Minnigerode Dresden: Thelem Universitätsverlag, 2006 |