Glossen 26

Ingo Schulze, Handy. Dreizehn Geschichten in alter Manier (Berlin Verlag 2007) 281 Seiten.

Zwischen Ingo Schulzes sensationellem Bucherfolg Simple Storys (1998) und seinem Monumentalroman Neue Leben, der im Jahre 2005 Handyveröffentlicht wurde, lagen sieben Jahre. Im Jahre 2007,  knapp zwei Jahre später, erschien nun nach weitaus kürzerer Zeitspanne der neue Sammelband von Kurzprosa Handy. Dreizehn Geschichten in alter Manier, wobei die alte Manier - so kann man mutmaßen - sicherlich Schulzes übliche Manier ist, nämlich in Döblinscher Weise den Stil immer wieder neu im Dialog mit dem Stoff zu entwickeln. Das kann auch auf das Ausschöpfen in der Weltliteratur vorgefundener Sprachstile oder Sprachmuster deuten, auf Anleihen, zu denen Schulze sich bekennt. Auch der neue Prosaband erinnert in vielem an die amerikanische Short Story. Der Leser muß sich Zeit nehmen, die Lücken zu füllen; er muß sich einlesen und wachsam sein, denn es geschieht sehr wenig. Nach einem sensationellem Ereignis oder Erlebnis sucht man zumeist vergeblich. Das Gewichtige liegt im Beiläufigen, in Zwischenfällen, Lappalien, im kaum Definierbaren ganz alltäglicher Situationen, in denen sich allerdings existentielle Dimensionen abzeichnen, die auf beunruhigende Veränderungen deuten. Solche Momente der Verunsicherung  zeigen den Menschen, wie er sich wundreibt oder aufreibt, allerdings auch, wie er sich mit menschlichen Gesten, oft des verzweifelten Sich-Aneinanderklammerns, aufzurichten versucht. So droht in der Geschichte "Berlin Bolero" z. B.  wirtschaftlicher Druck eine Ehe zu zerrütten. Die Frau -- dem Alkohol verfallen -- erbricht sich, und der Mann küßt ihren offenen Mund. Abstoßend Häßliches birgt rührend Menschliches.

Sechs der im Band aufgenommenen Geschichten wurden bereits separat  in früheren Jahren veröffentlicht ("Handy", 1999; "Berlin Bolero", 1999); "Milva, als sie noch ganz jung war", 2000; "Calcutta", 2000; "Mr. Neitherkorn und das Schicksal", 2000). Der Rest ist neu. Die bei Schulze sonst übliche Ost-Perspektive ist hier und da immer noch vorhanden;  im Vordergrund steht jedoch die positive oder negative Auswirkung technischen Fortschritts, die Ost und West gleichermaßen betrifft. Die sich hektisch  beschleunigende Welt nervt, verunsichert, ist nicht überschaubar. Das wirkt sich auf die Figuren aus, auch auf den Autor, der als fiktive Figur und Ich-Sprecher in vielen der Geschichten auftritt; letztlich wird aber auch der Leser in den Bann dieser Beunruhigung gezogen. Handy wird zum Symbol oder Leitmotiv in einer Situation, in der der Mensch überfordert ist, die Kontrolle verliert und keine Antwort findet. In den meisten der dreizehn Geschichten entsteht vor dem Leser eine Situation unbestimmbarer Bedrohung. Ein dem Band vorangestelltes Motto von Friederike Mayröcker macht es klar: "Dann folgte ein Tag dem anderen ohne daß die Grundfragen des Lebens gelöst worden wären."

Die meisten der Geschichten sind Paar- oder Liebesgeschichten.  Sie führen in die private Welt oder in berufliche und soziale Bereiche. Schulze thematisiert Ehekrisen, den Verlust von Arbeitsstellen, Beförderungen, ökonomische Bedrohungen, mißglückte Liebeserlebnisse oder das Sich-Fremdfühlen in einem neuen sozialen oder kulurellen Klima. Es geschieht  "etwas" Verstörendes", das der Mensch nicht im Griff hat. Eine Figur aus der Geschichte "Eine Nacht bei Boris" faßt es treffend: "Irgendetwas ist passiert, aber du kriegst es nicht zu fassen." Dieses Vage, Diffuse führt zu bösem Ärger, zu Überreaktionen, zu einem erschütterten Selbstbild, aber auch zum Erkennen und Genießen großen Familienglücks in kleinen, scheinbar banalen Geschehnissen. Schulze erzählt Geschichten, Storys, eine Art "simple storys." Doch es fehlt das kaleidoskopartige Ineinander und Auseinander der Personenkonstellationen, das "cross-over" und die Ausblendung einzelner Figuren, die feste Hand des Autors.  Der Band wirkt unzusammenhängend, und so soll er -- dem technischem Klima und der Unüberschaubarkeit entsprechend  -- auch wirken. Mangel an sinnvoller  Kommunikation und das Aneindervorbeisprechen enthüllen das Irritierende, Unpersönliche  des Computer- und Handyzeitalters, die Abhängigkeit des Menschen von der Technik, die ihm das Leben retten kann, die ihn aber auch hilflos macht.

Trotzdem werden die dreizehn Geschichten kunstvoll zusammengehalten. Das geschieht, indem sich der Autor Schulze selbst zur fiktiven Figur oder zum Ich-Sprecher macht, der durch die einzelnen Prosastücke gleitet. Er gleicht seinen Figuren, ist Leidensgenosse, wirkt verunsichert, ratlos, überfordert und irritiert. Diesen Kunstgriff der diffusen Autorschaft hatte Schulze bereits in Form eines Verwirrspiels in dem Roman Neue Leben gekonnt angewendet. Auch in den dreizehn Geschichten "in alter Manier" gilt die komplexe Regel: das beschriebene Leben des Autors ist nicht das Leben des Autors. Alles ist Fiktion -- fast alles, oder besser: vielleicht auch mehr.

Schulzes Handy. Dreizehn Geschichten in alter Manier ist anspruchsvoll und lakonisch verkürzt geschrieben. Zur schnellen Lektüre oder Unterhaltung eignet sich das Buch nicht. Oft muß man nachlesen, sogar ein zweites oder drittes Mal, bevor sich ein Lesegenuß einstellt. Wer sich die Zeit nimmt, kommt auf seine Kosten, erkennt die Hand eines Meisters der Kurzprosa.

Christine Cosentino
Rutgers University