Glossen 26

Helga Kurzchalia, Ulrike Brückner, Angelika Barz, Hier, Rotterdam: Veenman Publishers, 2007

Revolutionen, Kriege, gesellschaftliche Krisensituationen und Umbrüche fördern das Bedürfnis nach einer Umschlag "Hier"Art nationaler und persönlicher Bestandsaufnahme bzw. Inventur, wie der Titel eines kleinen Gedichtes von Günter Eich aus dem Jahre 1945 lautet. Man denke z. B. an Heinrich Heines Antwort auf Mme de Staëls Deutschlandbuch Deutschland ein Wintermärchen (1844), Tucholskys Deutschland, Deutschland über alles (1929), Richard Wagners Der deutsche Horizont (2006) oder die Flut von Autobiographien, die nach dem Fall der Mauer insbesondere von Autoren aus der DDR erschienen sind. Ulrike Brückners (Grafikdesign), Helga Kurzchalias (Text) und Angelika Barz' (Fotos) nennen ihr kürzlich bei Veenman erschienenes Deutschlandbuches, Hier, “armchair travel book” und “deutsches Bilder- und Geschichtenbuch". Es ist eine Bestandsaufnahme nach der politischen Vereinigung Ost- und Westdeutschlands im Jahre 1990.

Autorin, Fotografin und Grafikerin reisten von 2001 bis 2004, und das ist fast wörtlich zu nehmen, einmal um Deutschland herum,  d. h. sie besuchten neun Orte an den deutschen Außengrenzen und der einst tödlichen innerdeutschen Trennungslinie. Helga Kurzchalia, die als Psychotherapeutin and Autorin in Berlin lebt, sprach an diesen Orten mit 43 Deutschen unterschiedlichen Alters – die jüngste war 13, der älteste 78 -- und schuf aus diesen Selbstaussagen Texte für das Buch, die in ihrer Klarheit und Nüchternheit an den Erzählstil Anna Seghers erinnern. Angelika Barz trug eindrucksvolle fotographische Portraits, Landschaftsaufnahmen und Innenansichten bei, und Ulrike Brückner zeichnete für die grafische Gestaltung und, zusammen mit der Autorin, das allgemeine Konzept verantwortlich. Unterschiedlich an Alter und Erfahrung und unterschiedlich auch in ihren künstlerischen Mitteln, haben die drei Frauen doch ein Buch, ein Objekt, erschaffen, das aus einem Guß ist -- für die hohe Designqualität ist Ulrike Brückner übrigens mit dem "red dot award: communication design 2007" ausgezeichnet worden.

Hier ist mit seiner gleichzeitigen Suche nach und Scheu vor der Nähe zu Menschen und Landschaften in Deutschland ein sehr deutsches Buch. Die Kamera von Barz "sieht" Landschaften und Menschen mit stiller Distanz -- unwillkürlich ist man geneigt, ihre Fotos mit denen in Roger Mellis' Buch In einem stillen Land - Fotografien 1965-1989 zu vergleichen: menschenleere Straßen, bröckelnde und abblätternde Häuserfassaden, leere Scheunen, Portraits von Menschen, die wenig oder nichts von sich erkennen lassen, ein leerer Garagenhof mit dem Schild "Fußballspielen untersagt". Man ist versucht, diese Bilder als Metaphern für den seelischen Zustand ihrer Bewohner und Besitzer zu verstehen.

Strasse Parken

Auch die Texte Kurzchalias geben eher die äußeren Geschichten der befragten Menschen wieder, während deren Innenleben weitgehend verborgen bleibt. Nicht ganz verborgen, an einigen Stellen wird es sichtbar. Das geschieht u. a. dann, wenn sich durch Gegenüberstellungen von verschiedenen Aussagen zu einem Thema Ironien, Brüche, wenn nicht gar Abgründe abzeichnen. So zum Beispiel, wenn der arbeitslose Görlitzer Maler René Verständnis für den Haß der Polen auf die Deutschen äußert, weil "ihr Land von den Deutschen überfallen wurde", und dann fortfährt: "[...] nur gut, daß hier keine Juden seien. Die würden viele Kinder in die Welt setzen und die weiße Rasse kaputtmachen"(60) -- eine schlimme Aussage, die wiederum durch den dreißigjährigen Sven konterkariert wird, der von seiner Großmutter und ihren vierzehn Kindern spricht.

Die Texte gingen behutsam mit dem Selbstaussagen der befragten Menschen um, schreibt llka Kreutzträger in der on-line Ausgabe des Spiegel vom 25. September. Und das stimmt wohl auch. Behutsamkeit kann aber eben auch Distanz bedeuten, eine Distanz, die dadurch größer wird, dass die Selbstaussagen der Befragten in der dritten Peson wiedergegeben werden. „Jacqueline würde am liebsten nach Mallorca fahren. „Auf der Insel soll alles ganz anders sein. Selbst Strand und Sonnenuntergang! Jacqueline träumt von einer wunderbaren Hochzeitsreise, einer Trauung in weißem Kleid und weißem Schleier.“ (58) „Bis heute kann Ronny der Wiedervereinigung nur wenig abgewinnen. Zu viel wurde auf die Schnelle zusammengepappt. Das an dem kollektiven Gedanken gar nicht mehr festgehalten wurde, findet er heute noch enttäuschend. Als Ostler hätte er sich die Wende bestimmt anders vorgestellt.“(69) Gibt es mehr hinter diesen Sätzen der Erzählenden? Verschweigen die Befragten das, was auch die Autorinnen nicht anrühren wollen? Und, was wäre das Verschwiegene? Eigentlich bleiben die Menschen ein wenig fremd, wenngleich man meint, sie alle zu kennen.

Junger Mann

Sind die gewählte Distanz der Beobachterinnen und das Schweigen hinter den Sätzen der Befragten eine Art Abwehrmechanismus gegenüber Traumen? In den Texten werden gleich zwei auf offene oder versteckte Weise thematisiert: das ältere tödliche Trauma des Krieges und der Schuld an Unglück und Mord so Vieler und dazu der gegenwärtige Verrat des schützenden Staates an denen, die es schwer haben, dem Konkurrenzdruck in einer hochtechnisierten Gesellschaft Stand zu halten. Der künstlerische Abstand findet sich jedenfalls auch in der Gestaltung des Buches wieder, für die Ulrike Brückner übrigens der „red dot“ Preis des Design Zentrums von Nordrhein Westfalen zuerkannt wurde. Die Lasche, mit der das Buch verschlossen werden kann, evoziert das Bild eines Aktenordners, und die Maserung des Umschlags und einiger Seiten entspricht der eines Passes, mit dem man sich in einem Land ausweisen, anmelden, abmelden, oder mit dem man auch weggehen kann. Darüber hinaus reflektiert die Gestaltung auch die Abwesenheit von etwas; auf einigen Seiten finden sich leere Rahmen, in denen eigentlich Bilder stecken sollten. Was für Bilder, und warum fehlen sie? Das sind Fragen, deren Antworten den Lesern und Betrachtern überlassen bleiben.

Doch auch "hier oder nirgends ist Amerika"(Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre). Ab und an spürt man einen Hauch, wenn auch einen leicht traurigen Hauch, von einer anderen, allerdings auch einer entfernten Welt, wenn z. B. ein mediterranes Landschaftsbild hinter dem Portrait eines türkischen Mannes auftaucht, wenn auf einer heruntergekommenen Laderampe Holzkisten mit „Südfrüchten“ gestapelt sind, wenn auf den eingebauten Balkons an leeren Häuserwänden Blumentöpfe in dazugehörigen Kästen sichtbar werden, oder wenn man dessen gewahr wird, daß die jungen Deutschen Ronny und Jacqueline, Rene und Sven heißen -- einer der vielen Momente des Humors, den man entdeckt, wenn man genau hinsieht und genau liest. Ab und an sogar gibt es den Schein wirklicher Hoffnung im Hier, wenn z.B. ein Bauer zufrieden mit seiner Harke an einem mit Schilf umgebenen Zaun lehnt, wenn zwei alte Schwestern untergehakt und selbstbewußt lächelnd in die Kamera sehen oder wenn Betrachter und Leser in das offene Lächeln eines blonden Mädchens schauen, ein Fotografie übrigens, die einer anderen gegenübersteht: einer Tür mit ausgewaschener brauner Farbe, die langsam abblättert. Irgendjemand hat auf diese Tür "sexy". geschrieben.

Hier ist in Text und Bild ein schönes, melancholisches, ironisches und ein teilweise sogar lustiges Buch. Es ist jedenfalls eine Bestandsaufnahme, die man mit großem Interesse und Vergnügen wahrnimmt, die man Ernst nehmen und der man sich stellen sollte.

Wolfgang Müller
Dickinson College