Glossen 27

Freya Klier

Die 68-er und wir

1968 schauten wir Osteuropäer gebannt nach Prag! Dort war der Frühling ausgebrochen –  Reformkommunist Alexander Dubcek hatte politische und wirtschaftliche Reformen in der CSSR eingeleitet. Die Zensur wurde plötzlich aufgehoben, individuelle Freiheiten brachen sich Bahn, die Kultur blühte auf und Menschen äußerten ohne Angst in der Öffentlichkeit ihre Meinung... 

Der Prager Frühling war etwas völlig Einmaliges in Osteuropa, das ja bereits seit mehr als zwanzig Jahre von den Sowjetkommunisten und den von ihnen eingesetzten Funktionären auf den Knien gehalten wurde. So schauten wir fasziniert Richtung Osten, hofften und träumten. Was sich im Westen...also hinter dem Eisernen Vorhang abspielte, entging uns damals weitgehend: Fast niemand von uns hatte einen Fernseher, irgendwie flossen aus dieser Richtung die Informationen spärlich. Außerdem hatten die Westbewegungen wenig mit unseren zu tun.

Als dann im August 1968 die Truppen des Warschauer Paktes in die CSSR einmarschierten und den Frühling blutig niederwalzten, verfolgten wir den über Wochen anhaltenden, verzweifelten Widerstand der tschechischen Bevölkerung mit einer fast ebensolchen Verzweiflung. Und nach der Niederschlagung des Prager Frühlings rollte ja auch in der DDR eine Verhaftungswelle an, die alle Sympathisanten der Reformbewegung traf.

Ich selbst saß während der Niederschlagung bereits im Gefängnis; ich hatte kurz zuvor versucht, nach Schweden zu fliehen. Und plötzlich füllten sich die Zellen mit Leuten, die pro-tschechische Parolen an die Häuserwände gemalt hatten.

Das Nachbeben des Prager Frühlings hielt noch die ganzen 70-er Jahre über an, und auch die Unterdrückung setzte sich ja fort.

Wann bin ich zum ersten Mal einem 68-er begegnet? 1980 war das, glaube ich: Wir hatten in Berlin-Pankow unter dem Dach der Evangelischen Kirche einen Friedenskreis gegründet, der sich gegen die martialische Aufrüstung in unserem Land richtete. Dabei wurden wir nun schon inspiriert von der westeuropäischen Friedensbewegung. 

Deren Märsche wurden ja im DDR-Fernsehen breit gezeigt, der Protest gegen West-Regierungen passte den sozialistischen Bonzen total in den Kram. Unsere Parole wurde nun Frieden schaffen ohne Waffen!  Damit galten wir als Staatsfeinde...womit auch die Zersetzung los ging.

Nun, in unserem Pankower Friedenskreis tauchten plötzlich friedensbewegte Christen aus den Niederlanden auf. Das war schon ein tolles Erlebnis – man selbst durfte ja nicht raus aus diesem furchtbaren Land, also stürzten wir uns auf alle, die herein kamen. Und diese Leute waren richtig locker und offen – nicht so ideologisch verkrampft wie das Gros der deutschen 68-er.  Nachdem SED und Staatssicherheit allerdings unsere Sympathien füreinander registriert hatten, bekamen die Niederländer für die nächsten Jahre Einreisesperre.

Etwas später, so in den frühen 80-er Jahren, bekam ich dann  Frauenbesuch aus dem Westen. Ich war damals Regisseurin an einem kleinen Theater an der Oder, in Schwedt. Und in unserem Berliner Friedenskreis rückten Feministinnen an, auf der Suche nach aktiven Ost-Frauen. Da muss jemand gesagt haben: Wir haben eine, die inszeniert gerade am Theater in Schwedt. Also die wurden mir angekündigt, zwei Feministinnen aus Göttingen. Ich war natürlich neugierig. An dieser Stelle muss ich einflechten, dass ich gerade mit einem Mann zusammen lebte, der sich nicht nur rührend um meine Tochter kümmerte, wenn ich zur Probe musste. Der machte ohnehin im Haushalt mehr als ich, da ich als Regisseurin ja ein Mordsarbeitspensum zu bewältigen hatte. Und dann trafen die Frauen aus Göttingen ein. Als ich arglos die Kaffeedose aus dem Schrank nahm, wurde sofort interveniert: „Wieso kocht der ´Typ´ nicht den Kaffee?“ Der ´Typ´ war mein Freund. Ich verstand erst gar nicht, was sie von dem wollten; dann wurde ich von einem heftigen Gluckeninstinkt erfasst. Natürlich durfte er auch nicht am Gespräch teilnehmen.

Selbst, dass meine damals etwa 8-jährige Tochter ständig um uns herum schlich, passte ihnen nicht:  ´Alle Macht den Frauen!´ war ihr Leitthema, Kinder aber kamen in diesem Kampf nicht vor. Im Gegenteil – ihre radikalfeministische Lösung bestand in völligem Kinderverzicht. Die beiden Frauen waren komplett in Leder gekleidet, sie nannten sich Amazonen. Als Theaterregisseurin faszinierten sie mich natürlich, gerade weil sie so künstlich und aufgesetzt wirkten. Sprach ich, wurde mein argloses ´man´ stets in ein demonstratives´frau´ korrigiert.

Nur wenige Jahre später – inzwischen war ich nach Berlin zurückgekehrt – traf ich diese beiden Göttinger Frauen wieder; auf einem Kirchentag tauchten sie gemeinsam mit einer Ostberliner Lesbengruppe auf. Und nun traute ich meinen Augen nicht: Ihre Militanz war völlig weg...war einer merkwürdigen Somnambulität gewichen! Inzwischen waren sie nämlich Anhängerinnen der Neuen Weiblichkeit geworden, wie sie mir blöde dreinschauenden Zonie mitteilten – mit einem Hauch auf der Stimme, als hätten sie einen Ballen Samt verschluckt. Sie hatten La Luna für sich entdeckt...die Mutter Erde und die Menstruation.

Es war ein sehr nachhaltiges Erlebnis. Ab Mitte der 80-er Jahre erlebten wir Eingeschlossenen dann vor allem 68-er vom Schlage eines Gerhard Schröder oder Lafontaine: Eifrig machten sie sich zum Handlanger der SED-Führung und forderten, die Erfassungsstelle Salzgitter zu schließen – der einzigen Institution in Deutschland,  in der die Verbrechen an DDR-Häftlingen zusammengetragen wurden. Dafür wurden Schröder und Lafontaine von unseren Unterdrückern mit Wirtschaftsverträgen belohnt. Die 68-er hatten bei uns einen dementsprechend extrem schlechten Ruf. Doch dann ertrotzte sich die Grüne Bundestagsabgeordnete Petra Kelly den Zutritt zur DDR-Opposition – sie wiederum war für uns eine westdeutsche Lichtgestalt.

Manche Erinnerung ist verblasst. Es gab 68-er, die gegen den Vietnam-Krieg protestierten und solche, die gegen den Vietnam-Krieg protestierten und auch noch gegen den Einmarsch der Russen in Prag. Letztere waren nicht allzu viele.

Insgesamt blieb der Kontakt mit Gleichaltrigen aus dem Westen spärlich, man lernte einander eher zufällig kennen, auf einem ungarischen Campingplatz oder in einem polnischen Theater. Auch in der DDR natürlich: Sobald Polizei und Staatssicherheit aber herausfanden, daß es sich um DDR-kritische Westler handelte... sie vielleicht gar Kontakt zu DDR-Oppositionellen hatten, wurde ihnen beim nächsten Mal mitunter die Einreise verwehrt. Oskar Lafontaine oder Gerhard Schröder wurde nie die Einreise verwehrt. Und mit ihnen all jenen nicht, die uns die DDR als das bessere Deutschland priesen (aus dem sie allerdings recht gern wieder in Richtung Westen verschwanden). Sie hatten beschlossen, daß Deutschland für immer geteilt bleiben müsse, als "Strafe für Auschwitz" -- wobei sie selbst sich opferten, im Westen auszuharren statt im „besseren Deutschland“.    

Als ich dann 1988 ausgebürgert wurde, fühlte ich mich im Westen den 68-ern mitunter ausgeliefert, denn die saßen ja überall. Sie hatten keine Ahnung, was eine Diktatur bedeutet, wussten aber alles besser über die DDR und Osteuropa. Es war eine Art ideologischer Erstarrung: Als beispielsweise 1988 mein DDR-Tagebuch „Abreiß-Kalender“ erschien ( bzw. das, was nach zwei Stasi- Hausdurchsuchungen davon noch übrig war), weigerte sich etwa die Hälfte der 68-er Buchhändler, ein solch DDR-kritisches Buch dem Lese-Kunden überhaupt zuzumuten.

Fragte ich nach, wieso, teilte man mir in klassenbewusstem Tremolo mit, es sei „ein Buch des Kalten Krieges“ und käme deshalb nicht in ihren Laden.

Wo war ich hier hingeraten?

Nach dem Mauerfall erlebte dieses Buch dann fünf Auflagen; noch allerdings schrieben wir 1988, das Jahr vor dem Mauerfall. Der Leiter der Evangelischen Akademie Westberlin, später als Stasispitzel enttarnt, ließ mich wissen, über die Schwelle seiner Akademie käme ich nicht. Und der Chefredakteur der ZEIT – ein Blatt, das die DDR schon fast zum demokratischen Staat hochgejubelt hatte – untersagte seinen Redakteuren, auch nur ein einziges Buch von mir zu rezensieren; ein Verbot, das bis heute gilt. Einzig die TAZ öffnete mir kampfeslustig ihre Spalten. Dort allerdings kübelten 68-er dann halbe Leserbief- Seiten Schmutz über mir aus.

Ähnliches widerfuhr auch anderen DDR-Flüchtlingen und freigekauften Häftlingen. Bundesdeutsche Verlage brachten auf Wunsch der SED-Führung keine Bücher von DDR-abtrünnigen Autoren mehr heraus.  Etliche Theater beschäftigten auf Wunsch der SED-Führung keine ausgereisten DDR-Schauspieler und Regisseure mehr. Die Diktatur nebenan glänzte längst in rosarotem Licht, das ganze nannte sich nun Wandel durch Annäherung. Und Egon Bahr, in dem wir einen üblen Handlanger der russischen Unterdrücker sahen, galt den 68-ern als Super-Enspannungsfreund.

„Wir wissen es besser“ schien ein chronisches Leiden der 68-er zu sein.

Das Dilemma: Sie gehörten einer Generation an, der nicht nur die Gnade der späten Geburt zuteil wurde, sondern auch die Gnade der richtigen Besatzungszone. Damit blieb ihnen eine signifikante Erfahrung  erspart – das Leben in einer Diktatur. Sie übertrugen einfach ihre eigenen, keineswegs immer gemütlichen Lebenserfahrungen aus der Demokratie 1:1 auf das andere Deutschland. Ich glaube, die meisten der 68-er können sich bis heute nicht vorstellen, was es heißt, verhaftet zu werden, sobald man ein staatskritisches Transparent aus der Tasche zieht.

Doch es gab auch andere Erfahrungen. Ich kam recht bald mit der Anti-Atombewegung rund um Gorleben in Kontakt. Und die habe ich über Jahre als eine sehr ernsthafte Initiative erlebt, da vereinigten sich aber bereits 68-er und 78-er.  Ihr Durchhaltevermögen und ihren friedlichen, sehr einfallsreichen Widerstand bewundere ich noch heute – auch, dass sie sich zunehmend um ältere und gebrechliche Leute in ihren Dörfern  kümmerten. Wort und Tat klafften hier endlich mal nicht auseinander.

Berlin, Dezember 2007