Glossen 27

Hans-Hendrik Grimmling
Italo Svevo

„Das Käfigtürchen war offen geblieben. Mit einem leichten Satz war der kleine Vogel an der Öffnung, und von dort betrachtete er die weite Welt, zuerst mit einem Auge und dann mit dem anderen. Seinen winzigen Körper durchzuckte das Verlangen nach den weiten Räumen, für die seine Flügel geschaffen waren. Aber dann dachte er: Wenn ich hinaus fliege, könnten sie den Käfig zumachen, und ich bliebe als Gefangener draußen. Der kleine Vogel machte kehrt, und kurz darauf sah er mit Befriedigung, wie sich das Türchen wieder schloss, das seine Freiheit besiegelte“

Ich habe Italo Svevo erst sehr viel später gelesen, Ende der 90er Jahre. Was hätte es für eine Bedeutung für mich gehabt, Svevo lesen zu können in meiner Leipziger Zeit, der Zeit meiner Vogelbilder. Durch seine Käfig- Metapher wurden mir die damals gemalten Bilder wieder gegenwärtig. Sie hießen „der große einlauf der kleinen flügler“ oder „die umerziehung der vögel“, „ikarus zu hause“, „bemühung um harmonie oder das gesetz von den kommunizierenden röhren“ oder „windstille“, oder später „der käfig ist offen“ und „vögel über berlin“. Damals hatte ich keine Ahnung von Svevo, und ich habe auch keine Erinnerung daran, dass er in meinem Umfeld bekannt war. An diese Zeit erinnert, spüre ich statt dessen heute noch ganz stark andere Quellen, die mir damals ein notwendiger Background waren.

r ü c k z u g
den langen schlaf,
der mich schützt
mit einfarbigkeit
immer erwachen,
langsam,
ohne den schreck,
am tag,
in der nacht
zurück!
den langen schlaf !
wieder finden den traum!
mich fesseln an dies alte thema
draußen –
zu viele vorwürfe auf einmal
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Viel mehr als die Literatur waren es für mich Filme. Filme, die nicht in den großen Programmkinos liefen, die nur in den sogenannten Clubkinos gezeigt wurden, offiziell zwar, aber ohne wirkliche Öffentlichkeit, so dass nur wenige auf sie aufmerksam wurden. Es waren so wunderbare Filme wie die Hrabal-Adaption von Jirí Menzel „Scharf beobachtete Züge“ und „Der schwarze Peter“ und „Liebe einer Blondine“ von Miloš Forman. Diese Filme waren der Renner im damaligen tschechischen Pavillon in der Ost- Berliner Friedrichstraße in den späten sechziger Jahren – noch vor dem Prager Schicksalsjahr 1968. Der tschechische Pavillon war eine Art Treffpunkt von ein paar wenigen Leuten, die andere Sehnsüchte hatten und wohl unstillbaren Hunger nach Denken und Freiheit. Selbst der vielleicht belanglosere Film von Ivo Novák „Am Seil“ wirkte damals auf mich, als könnte ich „Die Leiden des jungen Werther“, ein Stück, dessen Erziehungsmuster nur in Bezug auf den „neuen sozialistischen Menschen“ durchde- kliniert war, geduldiger lesen und selbstständiger verstehen.

Diese Filme hatten vor allem eines gemeinsam: sie erzählten einen Alltag, der nicht nur dafür da war, ideologisch gestaltbar zu sein. Ihre Figuren waren auf wundervolle Weise Einzelne, Empfindliche oder Störrische, Kauzige oder Listige, oder auch Traurige – immer ohne Pathos. Sie waren einfach menschlich gegen das Muster vom vorbildlichen Menschen. Diese Figuren hatten immer eine verschmitzte Art, einem zuzublinzeln, als sei man mit ihnen durch die uralte Gewissheit verbunden, dass alles, was ist, auch schön sein kann. Das zauberte das Bedauerliche aus allem Lächeln und das Sarkastische aus dem lauten Lachen. Sie hatten einen solch feinen Humor, dass durch ihn die scheinbar kleinen Dinge des Alltags Wichtigkeit bekamen – ein Humor, der mir Zuversicht gab.

Die Beeindruckung war für eine bestimmte Zeit so stark, dass wir das spinnige, langgezogene „Aahooojjj“ aus dem „Schwarzen Peter“ als besonderes Begrüßungsritual übernahmen und es ironisch wie einen Geheimcode benutzten. Ja, wir ahmten etwas nach, und wie die Nachgeahmten fühlten wir uns wie Helden, wie Widerständler.

Später, in den siebziger Jahren, war für mich, wie vorher der tschechische Pavillon, das kleine „Casino“ in Leipzig ein Zufluchtsort, eine intelligent und mutig von Fred Gehler organisierte Kino- Insel. Seine emsige Arbeit für die„Camera“-Vorstellungen wurde wohl mit Argusaugen beobachtet und bewacht. Dennoch konnten wir hier die Filme wieder sehen, manche liefen trotz des niedergeschlagenen „Prager Frühlings“ in Wiederholung.

Noch heute, im Nachhinein, mutet es sonderbar an, dass das Subversive, das wir durchaus auch manchmal übertrieben aus jedem dieser Filme herauslesen wollten, zumindest von der „staatlichen Obhut“ unterschätzt wurde. Ganz sicher konnten die zuständigen Behörden nicht wirklich beurteilen oder begreifen, wodurch für uns aus diesen Filmen Kraft strömte, wieso wir diese so empfanden und brauchten wie das täglich Brot. Klar, wir interpretierten in Überbetonung und Vereinfachung alles Fremdere bedeutungsvoller als das Erlebbare im „real existierenden Sozialismus“, wie wir es nannten, „in Anbetracht der Ereignislosigkeiten“. Möglich ist auch, dass der Staat, die Staatssicherheit, aus taktisch-strategischen Erwägungen uns diese „Kino-Nische“ als kleine Happen, sozusagen scheibchenweise, nach der erprobten, berühmten Salami-Taktik immer wieder neu aufbereitete. Diese Rechnung ging leider ganz gut auf, denn manch innere Unruhe wurde besänftigt und mancher Hunger, zumindest vorläufig, gestillt.

Dennoch bauten diese Filmerlebnisse ein unentdeckbares Archiv auf, ein Archiv der Seele. Und es konnte immer neu angefüllt werden, wie zum Beispiel mit Marta Mészáros’ „Zwei Frauen“, Wassilij Schukschins „Kalina Krasnaja“ und „Seltsame Leute“. Ganz wichtig waren Andrzej Wajdas „Asche und Diamant“ und „Der Kanal“, Krzysztof Zanussis „Die Spirale“ und „Tarnfarben“, Polanskis „Messer im Wasser“, Jirí Menzels „Ein launischer Sommer“ und „Feuerwehrball“ von Miloš Forman. Natürlich gehörten noch später Tarkowskijs „Der Spiegel“, „Andrej Rubljow“ und vor allem „Stalker“ dazu oder Ingmar Bergmans „Das siebte Siegel“.

Aus heutiger Sicht müßte man sagen, solche Kunst hätte deprimierend wirken müssen, aber das Gegenteil war der Fall. Die Tristesse, die Ausweglosigkeit, die gezeigt wurden, gaben irre Kraft. Für mich war es ein anderes Verständnis von Kunst als heute, da sie nur für gute Laune sorgen soll.

In diesen wunderbaren Kleinodien von Kino waren natürlich auch Begegnungen mit den großen französischen, englischen, spanischen und italienischen Filmen ungeheuer. Wie flossen die Tränen in De Sicas „Das Wunder von Mailand“ oder in Viscontis „Sonnenblumen“. Und doch waren es die erstgenannten Filme, deren Figuren mir näher waren, deren Brechungen mir vertrauter waren, deren Charakteren ich mich verwandter fühlte. Die stark empfundene Nähe zu doch so großer Ferne stiftete ein seltsames Gefühl von Brüderlichkeit und gar heimlichem Trost – und dieses Gefühl half gegen die Wut im Bauch und gegen die tägliche Ohnmacht.

Ich glaube auch heute noch, dass diese Erlebnisse mich auf eine ganz bestimmte Bildspur führten und mir unerschöpfliche Gedankenquelle bleiben. Zwischen meinen damaligen Bildphantasien und der Entstehung dieser Filme lagen mitunter nur zehn Jahre, zwischen Svevos Erfindung der Käfigmetapher und meinen Vogel- Bildern lagen noch größere Zeit-Abstände: etwa sechzig Jahre. Eine Bestätigung aber ist es für mich, das immer Gleiche und sich Wiederholende in der Kunst zu entdecken, das die Suche nach dem Sinn unserer Existenz und deren Dilemma beschreibt. Vielleicht geistern diese Text- Bild- Bezüge gerade deshalb in meinem Kopf herum, weil ich ihre Aktualität heute um so mehr empfinde: meine Bildzeichen waren damals auf eine Lebenssituation in einem hermetisch geschlossenen Raum bezogen. Die konkrete Lokalisierung machte es leicht, etwa Schuld auf eine Ursache festzuschreiben, auf einen Ort, auf ein und dieselben Verursacher. Die Ähnlichkeit der genannten Metaphernwelten beweisen aber deren Kontinuum und bestätigen mir heute schon frühe Ahnungen. Nämlich, dass solche Bedeutungen allgemeingültiger fortleben, ohne schuldzuweisende oder zeit und ortsbegrenzende Bezüge.

v ö g e l
ins steile gepflanzt
starrer saum im boden
paarweis
stehen flügel
schwarze tore
spitz zum himmel
von den königen über mir
diese sendung
auf schmaler linie
gegen das vorn gehalten
geschützt gegen hinten
von den seitlichen pfeilern
gezwungen
in ihren bogen
bereit und
in erwartung
schon ihr körper
sei ich teil der lüfte
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Aus: hans-hendrik grimmling mit doris liebermann, die umerziehung der vögel. ein malerleben Halle: Mitteldeutscher Verlag, 2008. Mit freundlicher Genehmigung der Autoren.